In seinem Beitrag für den Deutschlandfunk konstatiert der Lehrstuhlinhaber vom Institut für Studien der Kultur und Religion des Islam an der Universität Frankfurt, Prof. Ömer Özsoy, dass es eigentlich nicht notwendig gewesen sei, das Gott seine Botschaft an den Propheten Muhammad, Allahs Segen und Frieden auf ihm, offenbarte, da jeder Mensch seit seiner Geburt die Verantwortung vor Gott tief im Kern seines Wesens trage. Deshalb sei im Grunde eine externe Mitteilung nicht unabdingbar gewesen. Özsoy plädiert: „Aufgrund dieser prähistorischen (Koran 7:172) Offenbarung ist der Mensch also nicht auf eine zusätzliche Anleitung durch Boten Gottes angewiesen. Gott bliebe auch dann gerecht, wenn er sich in der Geschichte zusätzlich zu seiner prähistorischen Offenbarung nicht melden würde. Er hat sich aber aus seiner Barmherzigkeit heraus zusätzlich gemeldet, um die Menschen an ihre Ur-Identität als Geschöpfe Gottes zu erinnern […].“
Nach diesen Ausführungen von Özsoy kann geschlussfolgert werden, dass die zahlreichen Bestimmungen in der Heiligen Schrift im eigentlichen Sinne nicht erforderlich, ja sogar als ein überflüssiges Erscheinungsbild zu betrachten seien. Diese Grundannahme stellt in der Geschichte Europas nichts Befremdliches dar. Im 17. Jahrhundert appellierte bereits der Engländer Herbert von Cherbury (1582 – 1642) an seine Landsleute, ihren christlichen Glauben in Zukunft ausschließlich auf der Grundlage einer Vernunftreligion zu begründen. Danach wäre einzig und allein die Vernunft und nicht die Offenbarung als primäres Kriterium und richtungweisende Weltanschauung zu deuten. Diese religiöse Bewegung ist unter der Bezeichnung „Deismus“ im Abendland bekannt geworden.
Eines der besonderen Merkmale des Deismus ist die Annahme, dass Gott als der letzte Urgrund der Welt zwar anerkannt wird, jedoch Sein persönliches Eingreifen in Form einer Offenbarung (z. B. in Schriftform oder Inspiration) vehement verworfen wird. Deshalb sei nach Herbert von Cherbury die Vernunft als alleiniger Träger der Quelle von religiöser Wahrheit zu rezipieren.
Auch wenn Ömer Özsoy es nicht beim Namen nennen will, so wird dennoch von ihm eine subtile Konnotation zum Deismus impliziert, was zweifelsohne einer Relativierung des Qur’an gleichzukommen scheint. Im Folgenden werden die theoretischen Ansätze von Özsoy aus der Perspektive der Religionsgeschichte sowie aus dem theologischen Blickwinkel einzeln überprüft und erläutert werden.
Sind Instruktionen dem Qur’an wesensfremd?
In Anlehnung an den Qur’anvers 7:172: „Und als dein Herr aus den Lenden der Kinder Adams ihre Nachkommenschaft nahm und wider sich selber zu Zeugen nahm und sprach: ‘Bin ich nicht euer Herr?’, sprachen sie: ‘Jawohl, wir bezeugen es!’“, schlussfolgert Özsoy: „Aufgrund dieser prähistorischen Offenbarung ist der Mensch also nicht auf eine zusätzliche Anleitung durch Boten Gottes angewiesen. Gott bliebe auch dann gerecht, wenn er sich in der Geschichte zusätzlich zu seiner prähistorischen Offenbarung nicht melden würde. Er hat sich aber aus seiner Barmherzigkeit heraus zusätzlich gemeldet, um die Menschen an ihre Ur-Identität als Geschöpfe Gottes zu erinnern […].“
Des Weiteren wird von Özsoy, besonders um seine These zu bekräftigen, ein weiterer Qur’anvers zu Hilfe genommen: „So richte dein Angesicht aufrichtig zum Glauben – einer Schöpfung Gottes, zu der Er die Menschen erschaffen hat. Es gibt keine Änderung in der Schöpfung Gottes; dies ist der rechte Glaube, jedoch wissen es die meisten Menschen nicht“ (30:30).
Danach wäre es im Grunde gleichgültig geblieben, ob Gott aus Seiner unbeschreiblichen Barmherzigkeit heraus in der Nachfolge von Moses und Jesus, Allahs Segen auf ihnen, einen weiteren Gesandten zur Menschheit entsandt hätte, da jeder Mensch die Fähigkeit besäße und sich unmittelbar der „prähistorischen Offenbarung“ autonom selbst zu vergewissern hätte. Die oben geschilderten Qur’anverse stellen für Özsoy diesbezüglich eine unverkennbare Einsicht dar. Demnach sei jeder Mensch individuell in der Lage, die Intention und die richtige Lebensweise aufgrund der inneren Geisteshaltung zu finden, und wäre zudem keineswegs zusätzlich auf die Übermittlung eines Propheten angewiesen. Dementsprechend sei eine scharfsinnige Reflexion seiner selbst und der Natur ein hinreichender Faktor für die Erkenntnis um den eigentlichen Zweck der Schöpfung. In diesem Zusammenhang erwähnt der Qur’an in Sure 90:10 die Eigenschaft, wonach die Unterscheidungsfähigkeit des Guten und Schlechten im Wesen aller Menschen unabhängig ihrer Ethnie und Religion angelegt sei: „Haben Wir ihm nicht zwei Augen gegeben, und eine Zunge und ein Paar Lippen, und ihm die beiden Höhenwege (von Gut und Übel) gezeigt?“
Hingegen kann hier berechtigterweise die Frage aufgeworfen werden, weshalb Gott im geschichtlichen Werdegang es dann für nötig gehalten hat, den Vorgängern von Muhammad auch Schriften in Form von „Suhuf“ (Blätter) zuteilwerden zu lassen, wie es zum Beispiel im folgenden Vers angedeutet wird: „Dies ist wahrlich in den früheren Blättern (enthalten), den Blättern Abrahams und Moses“ (87:18-19). Zwar kann der gesunde Menschenverstand den Unterschied zwischen Gut und Böse im Angesicht des universellen Maßstabes unterscheiden, jedoch nicht die spezifischen Anweisungen aufspüren, wie sie in den Heiligen Schriften enthalten sind. Da der Glaube sich umfassend im Dasein des Menschen manifestiert, kann er unmöglich nur auf die ethischen Verhaltensweisen bzw. religiöse Rituale beschränkt sein. Er beinhaltet sogar Speisevorschriften bis ins kleinste Detail, interveniert dementsprechend und zeigt auf, was zur Aufnahme zum Verzehr als Lebensmittel geeignet ist: „Verboten ist euch das Verendete sowie Blut und Schweinefleisch und das, worüber ein anderer als Gottes Name angerufen wurde; das Erdrosselte, das zu Tode Geschlagene, das zu Tode Gestürzte oder Gestoßene und das, was Raubtiere angefressen haben, außer dem, was ihr geschlachtet habt, ferner das, was auf einem heidnischen Opferstein geschlachtet worden ist, und ferner (ist euch verboten), dass ihr durch Lospfeile das Schicksal zu erkunden sucht. Das ist eine Freveltat“ (5:3).
Eine wesentliche Intention Gottes im Qur’an besteht unter anderem darin, entstellte Interpretationen der Bibel wieder authentisch herzustellen. Heutzutage wird selbst unter seriösen christlichen Religionswissenschaftlern und Historikern kaum noch zu bestreiten sein, dass der ursprüngliche Jesus erst im Konzil von Nizäa um 325 wesensgleich mit Gott gesetzt wurde. Seine Vergöttlichung trat somit erst nach Jahrhunderten seines Ablebens hervor. In der „New Catholic Encyclopaedia“ wird unmittelbar hierauf Bezug genommen: „Die Formel ‘ein Gott in drei Personen’ war vor dem vierten Jahrhundert im christlichen Leben und seinem Glaubensbekenntnis nicht fest etabliert.“
Demgegenüber versichert Gott im Qur’an in aller Deutlichkeit, in der Person Jesu nur einen Menschen mit prophetischer Aufgabe zu versehen: „Ungläubig sind, die sagen: ‘Siehe, Gott ist Christus, Marias Sohn’“ (5:17). Oder: „Und damals, als Gott sprach: ‘Oh Jesus, Sohn Marias, hast du den Menschen denn gesagt: Nehmt mich und meine Mutter zu Göttern neben Gott?’ Er sprach: ‘Gepriesen seist du! Mir steht nicht zu, dass ich etwas sage, wozu ich nicht berechtigt bin […] Ich habe ihnen nur gesagt, was du mir aufgetragen hast: Dient Gott, meinem Herrn und eurem Herrn!’“ (5:116-117). Wie hätten Muslime nach der Logik von Ömer Özsoy ohne die Mitteilung des Qur’an feststellen können, mit welcher Beschaffenheit Jesus wahrhaftig existiert habe, ob er tatsächlich menschlicher oder doch göttlicher Natur, oder eben auch beides gewesen sei?
Der Münsteraner Religionspädagoge Mouhanad Khorchide vertritt in diesem Zusammenhang die Ansicht, dass der Islam nicht einmal eine Anleitung zur Spiritualität, ganz zu schweigen von einem auf Gott ausgerichteten Leben vorzuweisen habe: „Der Islam gibt keine Instruktionen, wie genau das Herz geläutert wird, wie das Leben auf Gott hin ausgerichtet werden kann […]. Hierbei fällt allerdings auf, dass Khorchide – bewusst oder unbewusst – sämtliche Qur’anverse einfach ignoriert, die genau das Gegenteil inkludieren.
Die Muslime sind durch den Qur’an dazu angehalten, den Propheten Muhammad, Allahs Segen und Frieden auf ihm, für ihre Lebensgestaltung als Vorbild zu nehmen: „Es ist schon für euch im Gesandten Gottes ein gutes Beispiel für den, der auf Gott hofft und den Letzten Tag und sich viel an Gott erinnert“ (33:21). Dementsprechend erläutert der Qur’an am „Prototyp“ und der Lebensweise von Muhammad, dass eine Läuterung des Herzens ausnahmslos durch die vorbildliche Befolgung der Sunna zu realisieren ist: „Wir haben euch sogar einen Gesandten aus eurer Mitte erstehen lassen, der euch Unsere Botschaften vorträgt und euch läutert und euch das Buch und die Weisheit lehrt und euch lehrt, was ihr nicht wusstet“ (2:151). Hiernach stellt der gesamte Qur’an eine Läuterung für die Gläubigen dar und weist des Weiteren noch darauf hin, wie das Leben auf Gott ausgerichtet werden kann.
Entgegen der Sichtweise von Khorchide bekundete bereits vor über einem halben Jahrhundert der indischstämmige Theologe Prof. Muhammed Hamidullah (gest. 2002), wie tiefgehend der Islam im Leben der Gläubigen inbegriffen ist: „Der Islam will ein vollständiges Gesetz schaffen, welches das ganze Leben in sich begreift und in dem kein Bereich des menschlichen Handelns außer acht gelassen wird.“ Diese Feststellung wurde selbst von dem renommierten Philosophen Prof. Karl Jaspers (gest. 1969) augenfällig bescheinigt, indem die Offenbarung die gesamte Handlung der Individuen im Dasein umschließe: „Offenbarung ist die unmittelbare, zeitlich lokalisierte, für alle Menschen gültige Kundgabe Gottes durch Wort, Forderung, Handlung, Ereignis. Gott gibt seine Gebote, er stiftet Gemeinschaft, er gründet den Kultus“.
Auch wenn unter den Rechtsgelehrten kein Konsens in Bezug auf die Anzahl und Zuordnung der qur’anischen Rechtsvorschriften vorhanden ist (wenn dies denn überhaupt gewünscht ist), so werden dennoch ca. 600 Verse in die Kategorie eingestuft, wobei etwa rund 400 Verse auf den Gottesdienst (‘Ibada) bezogen sind. Der muslimische Jurist Dr. Murad Wilfried Hofmann verzeichnet in diesem Fall eine Auflistung, wie insbesondere die normativen Qur’anverse in diverse Bereiche zugeordnet werden:
Ca. 70 Verse handeln von Familien- und Erbrecht, einschließlich Regeln für das Schließen, Führen und Scheiden der Ehe sowie der Pflegschaft von Waisenkindern und der gesetzlichen Erbfolge.
Ca. 10 Verse behandeln Angelegenheiten des Staatsrechts und etwa 80 Wirtschaft und Finanzen. Ca. 25 Verse betreffen die Vorschriften im Bereich des Völkerrechts (Verträge, Krieg und Frieden, humanitäres Kriegsrecht, religiöse Minderheiten).
Außerdem kennt der Qur’an ca. 30 Vorschriften des materiellen und prozessualen Strafrechts (Mord, Körperverletzung, Raub, Diebstahl, Verleumdung, Unzucht und Hochverrat, Beweisanforderungen, Eidleistung, Privatklage, Schadenersatz).
Bezugnehmend auf die strafrechtlichen Bestimmungen im Qur’an, die nach heutigen Maßstäben von vielen als archaisch betrachtet werden, hielt der schottische Islamwissenschaftler Prof. Montgomery Watt (1909 – 2006) diese jedoch für lebensnotwendig, um eine intakte Gesellschaft aufrecht erhalten zu können: „Menschen von heute mag diese Praxis barbarisch vorkommen, tatsächlich jedoch handelt es sich um eine effektive Art, in früheren Gesellschaftsformen, wo es keine starke Zentralmacht mit Polizeifunktionen gab, ein hohes Maß an Sicherheit zu gewährleisten.“
Desgleichen beweist das Vorhandensein der normativen Qur’anverse eben doch, dass nicht nur die Läuterung des Herzens als spirituelle Praxis dargelegt wird, sondern selbst die gesellschaftlichen Belange als Mittel zum Zweck konstituiert werden. Mit diesen Mitteln und Instrumenten bekam auch der letzte Prophet die vornehmliche Aufgabe, Gerechtigkeit unter den Menschen zu etablieren: „Wahrlich, Wir schickten Unsere Gesandten mit klaren Beweisen und sandten mit ihnen das Buch und die Waage herab, auf das die Menschen Gerechtigkeit üben mögen“ (57:25).
Unzählige Verse beschreiben den Qur’an als Rechtleitung, um das Wahre vom Falschen explizit unterscheiden zu können: „Es war der Monat Ramadan, in dem der Qur’an von droben erteilt wurde, als Rechtleitung für den Menschen und evidenter Beweis dieser Rechtleitung und als der Maßstab, mit dem das Wahre vom Falschen zu unterscheiden ist“ (2:185).
Der Koranexeget Maulana Muhammad Ali (1874 – 1951) resümiert drei grundlegende Punkte zu diesem Vers: „Hinsichtlich des Heilgen Koran wird hier dreierlei ausgesagt: Erstens, dass er Führung für alle Menschen ist und deshalb Lehren enthält, die für Menschen aller Länder und Zeiten geeignet sind und ausreichen. Zweitens, dass er umfassende Argumente zur Rechtleitung enthält, um somit die Wahrheit dessen, was er aussagt, nachzuweisen. Drittens enthält er Argumente, die Kriterien zur Unterscheidung der Wahrheit vom Irrtum bieten, indem die Gläubigen die Früchte des Glaubens und diejenigen, die ihn ablehnen, die bösen Folgen der Zurückweisung der Wahrheit kosten.“
Wurden die Hanifen von der Botschaft Gottes ausgeschlossen?
Ömer Özsoy stellt des Weiteren die kühne Theorie auf, dass die Hanifen vom Propheten Muhammad, Allahs Segen und Frieden auf ihm, nicht dazu aufgerufen wurden, der geoffenbarten Religion Folge zu leisten. Dadurch wird den Hanifen eine Art Sonderstatus ohne seinesgleichen von Özsoy eingeräumt: „Auffällig ist hierbei, dass der Koran den Propheten Mohammed nicht etwa dazu auffordert, die Hanîfen in seiner Umgebung zum Islam zu bekehren. Gott ruft ihn selbst auf, ihrem Bekenntnis zu folgen […].“
Wer aber waren die Hanifen und was zeichnete sie im Besonderen aus? Nach Prof. Toshihiko Izutsu (1914 – 1993) ist über die Herkunft der Etymologie dieses Begriffes nichts Zuverlässiges zu sagen, von daher bliebe die wahre Bedeutung noch im Dunkeln stehen. Bezugnehmend auf zwei Qur’anverse hält Izutsu es trotzdem für sehr wahrscheinlich, dass die Bezeichnung Hanif im Grunde genau das Gegenteil von Vielgötterei und Götzendienst kennzeichnet. Im Qur’an kommt das Wort Hanif insgesamt 12 mal vor, davon zweimal in der pluralen Form als Hunefa. Dass diese Bezeichnung in der Frühzeit des Islam als ein Synonym zum Islam bzw. für das Muslimsein verstanden wurde, ging unmissverständlich aus der qur’anischen Edition vom angesehenen Prophetengefährten Abdallah ibn Masud (gest. 652/53) hervor. So hieß der Satz im Qur’an bei ibn Masud nicht wie üblich: „Gewiss, die Religion ist bei Gott der Islam“, sondern „Gewiss, die Religion ist bei Gott die Hanifiyye“.
Es scheint daher offensichtlich zu sein, in dem Wort „Hanif“ einen muslimischen Monotheisten zu sehen, der einzig und allein gottergeben war. Der deutsche Orientalist Prof. Rudi Paret (1901 – 1983) beschrieb diesen Umstand prägnant: „Der koranische Ausdruck hanif hat etwa die Bedeutung ‘muslimischer Monotheist’. An vielen Stellen wird ergänzend hinzugefügt, dass derjenige, der als hanif bezeichnet wird, ‘nicht zu den Heiden gehört.’ […] Die Etymologie und die Bedeutungsentwicklung von hanif sind noch nicht eindeutig geklärt“.
Der Herausgeber einer 30 Bändigen Qur’an-Enzyklopädie, Prof. Süleyman Ates, erläutert in diesem Sinne einen bedeutsamen Ansatz, um die Relevanz des Bedeutungsgehaltes von „Hanif“ – unter Berücksichtigung des geschichtlichen Rahmens – zu erörtern: „Die Araber bezeichneten jene, die die Pilgerfahrt zelebrierten und zudem noch beschnitten waren als die Leute von Abrahams Religion, deshalb bezeichnete man sie als Hanifen.“ Die Untersuchung von Ates verdeutlicht den Gebrauch des Begriffs Hanif in der vorislamischen Zeit (dschahiliya) schlechthin als eine Identität des monotheistischen Gläubigen.
Zum selben Ergebnis kam bereits auch der renommierte Qur’anforscher Prof. Josef Horovitz (1874 – 1931) in seinen Studien, die er 1926 mit dem Titel „Koranische Untersuchungen“ publizierte, dabei war er zu der Überzeugung gelangt, insbesondere auf der Grundlage des qur’anischen Textes im Hanifen einen Muslim zu identifizieren: „Hanif ist im Koran = Muslim […].“
Fürwahr beschreibt der Qur’an in aller Klarheit die unverwechselbaren sinnverwandten Identitäten von Hanif und Muslim im Idealtyp von Abraham, Allahs Segen auf ihm. Ausgehend von einer Disputation der Zugehörigkeit innerhalb der Schriftbesitzer um die Person von Abraham wird auf das historisch ursprüngliche Erscheinungsbild des Stammvaters aufmerksam gemacht: „O Volk der Schrift, warum streitet ihr über Abraham, wo die Thora und das Evangelium doch erst (später) nach ihm herabgesandt worden sind? Habt ihr denn keinen Verstand? Ihr habt da über etwas gestritten, wovon ihr kein Wissen habt; weshalb aber streitet ihr über das, wovon ihr kein Wissen habt? Gott weiß, ihr aber wisset nicht. Abraham war weder Jude noch Christ; vielmehr war er lauteren Glaubens (arab. hanif), ein Muslim, und keiner von denen, die (Gott) Gefährten beigesellen. Wahrlich, die Menschen, die Abraham am nächsten stehen, sind jene, die ihm folgen, und dieser Prophet (Muhammad) und die Gläubigen. Und Allah ist der Beschützer der Gläubigen“ (3:65-68).
Darüber hinaus versichert die Heilige Schrift mit Zuversicht, dass alle gläubigen Menschen seit jeher von Gott als Muslime (Gottergebene) tituliert wurden: „Und eifert in Gottes Sache, wie dafür geeifert werden soll. Er hat euch erwählt und hat euch nichts auferlegt, was euch in der Religion bedrücken könnte, der Religion eures Vaters Abraham. Er (Gott) ist es, Der euch vordem schon Muslime nannte und (nun) in diesem (Buch), damit der Gesandte Zeuge über euch sei und damit ihr Zeugen über die Menschen sein möget“ (22:78).
Deshalb wäre der vermeintliche Versuch, die Hanifen außerhalb Gottes Instruktionen aufzuzeigen, von vornherein zum Scheitern verurteilt. Denn allen Propheten und ihren Anhängern war seit Anbeginn immer die gleiche Essenz der Religion ans Herz gelegt worden, die letztendlich ohne Ausnahme zu befolgen war: „Er verordnete für euch die Religion, die Er Noah anbefahl und die Wir dir offenbart haben und die Wir Abraham und Moses und Jesus anbefohlen haben. Nämlich (die), in der Einhaltung der Religion treu zu bleiben und euch deswegen nicht zu spalten“ (42:13).
Von daher ist die Feststellung des katholischen Theologen Prof. Hans Zirker zutreffend, wen er die folgende Ansicht vertritt: „Die Vorstellung, dass man Mohammed ablehnen und dennoch zu den ‘Gläubigen’ zählen könnte, ist dem Koran fremd.“
Diese Ansicht wird im Qur’an in zwei aufeinanderfolgenden Versen durchaus bekräftigt: „Sprich: ‘Wenn ihr Gott liebt, so folgt mir. Lieben wird euch Gott und euch eure Sünden vergeben; denn Gott ist Allvergebend, barmherzig’. Sprich: ‘Gehorcht Gott und dem Gesandten’; denn – wenn sie den Rücken kehren – siehe, Gott liebt die Ungläubigen nicht.” (3:31-32).
Fazit
Die These von Ömer Özsoy bleibt zumindest aus der Perspektive des Qur’an unbegründet und entsprechend subjektiv, demzufolge die Hanifen von der qur’anischen Botschaft ausgeschlossen seien und keinesfalls dem letzten Gesandten zu folgen hätten. Zweifellos fällt bei näherer Betrachtung auf, dass Özsoy sämtliche Qur’anverse unbeachtet ruhen lässt. Die letzte Offenbarung beansprucht jedoch im Gegensatz dazu eine universale Botschaft zu sein und ist von daher an alle Menschen gleichermaßen adressiert. Ungeachtet der religiösen Weltanschauung und der vermeintlichen Privilegierung der Hanifen, besteht die vornehmste Aufgabe des Qur’an darin, seine spirituelle Botschaft an jedes Individuum auszurichten: „Dieser (Qur’an) ist nichts als eine Ermahnung für die Welten“ (38:87).
„Das ist eine Botschaft an die Menschen, damit sie dadurch gewarnt werden und damit sie wissen, dass Er nur ein Einziger Gott ist, und damit diejenigen bedenken, die Verstand besitzen“ (14:52).
Der Qur’an erwähnt währenddessen die spezifischen Merkmale der Adressaten, die ohne weiteres bereit waren, sich ermahnen zu lassen. Dazu gehörten unter anderem jene, die Gottesfurcht besaßen und das Gebet verrichteten: „Du kannst die allein warnen, die ihren Herrn im geheimen fürchten und das Gebet verrichten“ (35:18). Da die Hanifen sowohl gottesfürchtig waren als auch ihre Gebete verrichteten, könnte man hierauf tatsächlich noch die Ansicht vertreten, dass sie von der qur’anischen Botschaft ausgeschlossen wären?
Erst durch die Entsendung des Propheten Muhammad wurde Gottes Religion vervollkommnet und abgeschlossen. Wie wäre es zu erklären, die Hanifen außen vor zu lassen und sie nicht an der vervollkommneten Religion teilnehmen zu lassen?
„Heute habe Ich euch eure Religion vervollkommnet und Meine Gnade an euch vollendet und euch den Islam zum Glauben erwählt“ (5:3).