(MV Media). Es wird Zeit für Sie, den ersten Schritt zu tun und anzuerkennen, dass Sie ein Problem haben. Sie sind in dem Moment unfähig es zu lösen, wenn Sie direkt nach dem Diner mit der Allerliebsten Ihr Smartphone aus der Tasche ziehen und SMS verschicken, weil Sie die Möglichkeit der gegenseitigen Stille nicht ertragen können. Oder, weil Sie mehr oder weniger tatsächlich glauben, „Krieg und Frieden“ zu kennen, da Sie die leicht verdauliche Zusammenfassung auf Wikipedia gelesen haben.
Aber betrachten wir doch die Vorteile. Wir können nie mehr verloren gehen. Wir wissen immer, was wir für welchen Ort auch immer einpacken müssen, an den wir reisen wollen. Wir müssen mit weniger mittelmäßigen Mahlzeiten oder Hotels mit lausigem Service fertigwerden. Vorbei ist die Möglichkeit zur Langeweile, weil man zwischen zwei Haltestellen „Temple Run“ spielen oder seine Aktienkurse checken kann.
Sofortige Expertise zu jedem Thema, und all die Daten, die man sich vorstellen kann, um die eigenen Überzeugungen über das Übel von Laktose zu unterfüttern, werden Ihrem Gehirn in vorverdauten Texthäppchen geliefert.
Die Kamera ist stets bereit für jede sich bietende Fotogelegenheit und das Aufnahmegerät für jeden Einfall, der unserem Mund entspringt. Was soll’s, dass unsere Aufmerksamkeit in Millisekunden gespalten wurde, dass wir unser soziales Leben anhand von „Facebook-Freunden“ bewerten, unseren beruflichen Wert durch Google-Hits einschätzen und das schlimmstmögliche Wort „Flugzeugmodus“ heißt?
Wir alle sind zwangsneurotische Narzissten, denen ihre Apparate die Magie der reichhaltigen und sofortigen Befriedigung verschaffen. Nicht von unseren Smartphonen unwiderruflich abhängig zu sein, wäre sinnlos.
Warum ist es, dass die Essenz unserer, von Apps vermittelten Existenz so erschreckend an einige der bekanntesten Anti-Utopien erinnert? In seiner „Schönen Neuen Welt“ ersann Aldous Huxley eine Gesellschaft, in der materieller Konsum, genetisch angepasste Erziehung, gute Medikamente und ein entspanntes Sexualleben jeden beglückt und auf Linie bringt. Dieser und andere Romane wie „1984“ beschreiben eine beabsichtigte Verdummung von Sprache und mehrdeutigen Ideen durch fortschrittliche Technologien. Die Folge davon ist eine passive Beherrschung durch autoritäre Regime.
In unserer wirklichen Welt wird das Regime natürlich durch den Markt ausgeübt. Seine unbarmherzige Logik funktioniert durch das Wunder technologischer Innovation und durch das Opium des individuellen Konsums. Das ist kaum eine Metapher. Wirklich, wer braucht Huxleys Soma, wenn jedem zu geben, was er will, die ultimative Droge ist? Und es gibt keinen autoritären Großen Bruder, dem man die Schuld geben könnte. Wir tun uns das selbst an. Was unsere dystopischen Meistererzähler nicht voraussehen konnten, ist, dass die Drohung der Technologie keine universale und tödliche Gleichförmigkeit ist, sondern so ziemlich das Gegenteil: eine universale und tödliche Individualität.
Altmodische bürgerliche Libertäre und soziale Konservative mögen wegen Privatheit, Verantwortungsbewusstsein und anderen Abstraktionen nörgeln. Zur Hölle mit ihnen. Der Markt ist frei, Informationen sind frei und wir sind alle befreit durch unsere gut informierte Entscheidung als Verbraucher. Und so bestärken unsere personalisierten Technologien – dank sei dem Markt – unsere Obsession mit dem Individuellen und befriedigen sie. Dort leben wir alle in unserer eigenen Glocke aus Information, Stimulation und positiver Verstärkung – unsere eigene kleine, narzisstische Sphäre.
Nichts kann schlimmer für eine Zivilgesellschaft als eine Kultur sein, bei der jeder das Gefühl hat, dass er alles bekommen kann – wann er es will. Von dem oberen ein Prozent über das Verschwinden der sozialen Mobilität bis zur anhaltenden Auflösung der politischen Höflichkeit: Wir erleben ein Abbröckeln des allgemeinen sozialen Zusammenhalts, der unsere Demokratien funktionieren lässt. Wenn unsere Smartphones nicht die Ursache von allem sind, dann sind sie sicherlich mitschwingende Ko-Verschwörer, die unsere andauernde eilfertige Aufmerksamkeit verlangen. Sofort isolieren sie uns voneinander, während sie unser kognitive Landschaft die Wertschätzung der Notwendigkeit – wenn nicht gar Tugend – von Doppeldeutigkeit, Unvorhersagbarkeit, Konflikt und Kompromiss entreißen.