
IZ-Reiseblog: In den Tempelruinen von Selinunt macht unser Autor existenzielle Erfahrung.
(iz). An der malerischen Südküste Siziliens, direkt am türkisblauen Mittelmeer, liegt Selinunt – eine der eindrucksvollsten archäologischen Stätten Europas. Einst eine mächtige griechische Kolonie, ist es heute vor allem für seine imposanten Tempelruinen bekannt, die majestätisch über der Küste thronen.
Besonders beeindruckend sind Tempel E (vermutlich der Hera geweiht, mit seinen weitgehend rekonstruierten Säulen) und Tempel G. Letzterer ist einer der größten je errichteten dorischen Bauwerke dieser Art, dessen monumentale Trümmer selbst heute gewaltige Ausmaße erahnen lassen.
Doch nicht alles ist so klar erkennbar: Über das weitläufige Gelände verteilt liegen unzählige Trümmerteile wie Säulenreste und Mauerfragmente, die sich für den Laien nur mit Fantasie sinnvoll zusammensetzen lassen. Insbesondere dieser Kontrast aus aufgebauten und scheinbar chaotischen Ruinen verleiht dem Ort eine besondere Atmosphäre – zwischen archäologischer Entdeckung und stillem Verfall.
Selinunt – Ankunft nach Kampf auf und mit dem Rad
Wir kommen etwas abgekämpft an. Auf Google-Maps sah die Strecke für Radfahrer einfach aus. In Wirklichkeit verfahren wir uns, müssen durfs Gestrüpp, überwinden einen Zaun. Man schimpft auf die Technik. Und wir begegnen Wachhunden, die – Gott sei Dank – auf Bittgebete reagieren.
Dann geht es eine Weile bergauf. Wir schnaufen in der Morgensonne und stehen auf der Anhöhe unvermittelt vor grandioser Landschaft und einem großen Tempel. Allerdings sind wir an diesem Morgen ein wenig aus dem Tritt geraten und noch nicht bereit für eine tiefere Erfahrung.
Jeder Reisende weiß, wie wichtig die eigene Stimmung für unsere Eindrücke ist. Diese Schwankungen können auch Genies ergreifen. Als Goethe die Insel am 13. Mai 1787 verlässt, gerät das Schiff in einen Sturm. Der Dichter wird seekrank und blickt auf seine Reise zurück, die nun in „keinem angenehmen Licht erscheint“.
Er gerät in einen seelischen Strudel und zweifelt am Sinn seiner Erkundungen. „Wir hatten doch eigentlich nichts gesehen, als durchaus eitle Bemühungen des Menschengeschlechts, sich gegen die Gewaltsamkeit der Natur, gegen die hämische Tücke der Zeit und gegen den Groll ihrer eigenen feindseligen Spaltungen zu erhalten.“
Selinunt, beklagte er weiter, „liegt methodisch umgeworfen“ in der Tradition vergangener und künftiger Zerstörungskraft. Die nihilistische Anwandlung korrigiert Goethe sogleich: „Diese wahrhaft seekranken Betrachtungen eines auf der Woge des Lebens hin und wider Geschaukelten ließ ich nicht Herrschaft gewinnen.“
Foto: Abu Bakr Rieger
Das Schweigen der Tempel
Wir stellen unsere Räder ab und besuchen zunächst das Museum, das zwischen den beiden Tempeln liegt. Wir wandern durch die Ausstellungsräume, lesen einige Texte, betrachten Vasen in den Vitrinen und sind etwas ungeduldig, denn mehr interessiert uns insgeheim der Cappuccino, der im Hof angeboten wird. So ist es nur ein Satz, den wir wirklich mitnehmen. Er ist am Eingang des Museums zu lesen und stammt von dem französischen Philosophen Jean Paul Sartre: „Wir hinterfragen die Tempel von Selinunt, ihr Schweigen hatte mehr Gewicht als viele Worte.“
Bei einem Kaffee besprechen wir das Rätselwort des Existentialisten. Meint er etwa, dass die leblosen Steine, die die Anlage bilden, uns Heutigen, den letzten Touristen, nichts mehr zu sagen haben? Oder ist diese negative Interpretation, nur der eigenen Stimmung geschuldet? Stimmungswechsel sind manchmal Kleinigkeiten unterworfen. Sie werden durch eine Pflanze, die man sieht, einem Blick eines Passanten oder – wie in unserem Fall – durch die belebende Wirkung eines guten Cappuccinos verursacht.
Als wir wieder aus dem dunklen Innenhof in die sonnige Landschaft vor dem Gebäude treten, erinnern wir uns an eine Passage aus den Wanderjahren des Italienreisenden Ferdinand Gregorovius. Er schrieb über seinen Besuch: „Zu Selinunt stellt sich nur eine einzige Epoche dar, ringsum keine Spur von Leben, die feierlichste Öde zu beiden Seiten, eine grenzenlose, aber selige Verlassenheit, ein verschwimmender Meereshorizont, tiefstes Schweigen und mythenvolle, odyseeische Einsamkeit.“ Diese Worte, finden wir, passen.
Foto: Abu Bakr Rieger
Wie wirken Ruinen auf uns?
Es gibt eine ganze Philosophie über die Wirkung von Trümmern auf den Menschen. Wir können sie schön finden, oder hingegen in ihnen Symbole für die Vergeblichkeit allen menschlichen Strebens sehen und verzweifeln. Wir versinken dann im Mythos des Sisyfos. Aber mit den imaginären Fähigkeiten, über die wir verfügen, können wir uns genauso in einen Zeitraum versetzen, der an einem anderen Leben teilnehmen lässt.
Wir ahnen dann Verhältnisse, die in einem Zwischenraum zwischen Himmel und Erde, Menschen und Göttern angesiedelt sind. In diesem Falle sprechen Steine, die von den größeren Zusammenhängen erzählen. Diese Stimmung muss nicht rückwärtsgewandt sein. Sie erhebt uns vielmehr im Hier und Jetzt in einen anderen Zustand, der für die eigene Zukunft entscheidend sein kann.
Wir sind versöhnt mit diesem Tag und laufen auf eine Anhöhe hinauf, die eine Rundumsicht gewährt. Im Schatten sitzend blicken wir über die Tempel hinweg auf das blaue Meer. Wir beobachten Eidechsen, die zwischen den Steinen leben, von jeher Bewohner, die nicht in zeitlichen Kategorien denken. Sie sind in der Sonne einfach nur da. Wie wir.
Es ist spät geworden und wir verlassen den Park auf dem offiziellen Weg; an staunenden Besuchern vorbei, die im Gegensatz zu uns lange Wege gehen müssen. Im Kassengebäude, durch das wir die Fahrräder bugsieren, stellt uns eine Ordnungskraft.
Man braucht kein Italienisch zu können, um aus dem zischenden Ton den Vorwurf herauszuhören, man habe Gesetze gebrochen haben. Wir schieben die Schuld auf die moderne Technik, die uns den Weg gewiesen hat. Die nachträgliche Entrichtung des Eintrittspreises ist kein Problem, sorgt aber nicht dafür, dass das Gespräch freundlich endet. Wir sind ungehalten und zahlen – ohne, dass wir es gleich bemerken – einen anderen Preis. Die Welt hat uns wieder.