Hansestädte haben die Nase vorn bei Verhandlungen mit Muslimen

Bremen/Köln (iz). Nach der Hansestadt Hamburg ist es wieder eine Hansestadt, die einen Staatsvertrag mit den islamischen Religionsgemeinschaften unterzeichnet hat. In Bremen und Bremerhaven sind von nun an islamische Feiertage, die Besetzung einiger, öffentlich-rechtlicher Gremien, Bestattungsrituale oder der Bau von Moscheen vertraglich geregelt.

Mit diesem Staatsvertrag gehört der Islam nun auch zu Bremen. Zuvor hatte Hamburgs erster Bürgermeister Olaf Scholz (SPD) den Islam in die Hansestadt „eingebürgert“.

Zu den Unterzeichnern des Bremer Staatsvertrags gehören neben der Schura Bremen auch der Landesverband der islamischen Religionsgemeinschaften Niedersachsen und Bremen (DİTİB), unter dem erfolgreichen Vorsitzenden Yılmaz Kılıç aus Melle und der Verband der islamischen Kulturzentren (VIKZ). Alle Beteiligten, angefangen vom Bremer Senat über Kirchen, Moscheen und weiterer zivilgesellschaftlicher Organisationen bewerten den Staatsvertrag als einen „Meilenstein“ und wichtige Anerkennung der muslimischen Religionsgemeinschaften sowie ihrer langjährigen, ehrenamtlichen Arbeit.

Den islamischen Religionsgemeinschaften ist es nun gesetzlich erlaubt, Moscheen mit Kuppeln und Minarette zu bauen, sofern diese sich mit den geltenden Baugesetzen vertragen. Außerdem bekennen sich beide Seiten ausdrücklich zur Gleichstellung von Mann und Frau. Dass dieser Punkt in dem Vertragstext ausdrückliche Erwähnung findet, weist auf eine offene Wunde in der Einwanderergesellschaft hin: Noch immer gibt es in den oftmals patriarchalischen Familienstrukturen vieler Muslime, Araber und Türken Defizite bei der geschlechtlichen Gleichstellung.

Dies hat aber im Gegensatz zur allgemeinen Auffassung in der Mehrheitsgesellschaft überhaupt keine Grundlage in der islamischen Religion. Patriarchalische Gesellschaftsstrukturen und geschlechtliche Diskriminierung haben vorislamische Zusammenhänge, die öffentlich auch klar benannt werden müssen. Kulturelle Eigenschaften mit pseudoreligiösen Merkmalen zu vermischen, bringt die Migrantencommunity nicht voran. Bei der Geschlechtergleichstellung müssen sich viele Muslime noch weiter anstrengen. Der kulturelle, soziale und wirtschaftliche Erfolg der muslimischen Frau sollte die Männer nicht irritieren.

In dem Bremer Vertragstext finden weiterhin Abkommen zu Bestattungen auf öffentlichen Friedhöfen, die Beteiligung in öffentlich-rechtlichen Institutionen, zum Beispiel in den Rundfunkräten sowie die Achtung islamischer Speisevorschriften für die Bremer Muslime Erwähnung. Des Weiteren können sich die Muslime an islamischen Feiertagen wie dem Ramadan-Ende und dem Opferfest unbezahlten Urlaub nehmen und die Kinder vom Schulunterricht befreien lassen. Muslimische Schüler bekommen grundsätzlich frei an den Feiertagen und müssen nicht, wie früher, um Erlaubnis bei der Schulleitung fragen.

Daneben müssen Betriebe ihrem Personal an diesen Tagen die Teilnahme an dem Gebet erlauben, falls seitens des Arbeitgebers keine ernstzunehmenden Gründe dagegen sprechen. Weitere wichtige Fragen, wie etwa der Schwimm- und Religionsunterricht oder die Speisevorschriften auf Klassenfahrten, finden in dem Staatsvertrag keine Erwähnung. Diese müssen aber ebenso schnell geklärt werden.

In dem Stadtstaat (Bremen und Bremerhaven) leben nach Schätzungen etwa 50.000 Muslime. Diese bekommen durch den Vertrag, zwar mehr Rechte, aber auch mehr Pflichten im Alltag. Dennoch bedeutet ein Staatsvertrag noch keinen Status einer Körperschaft des öffentlichen Rechts. Erst dadurch wäre es aber möglich, auf „gemeinsamer Augenhöhe“ zu diskutieren, wie so oft von Integrationsexperten gefordert wird. Erst durch einen Körperschaftsstatus können wichtige Mitspracherechte und nötige Finanzmittel für eine qualitativ wertvolle Arbeit beansprucht werden.

Sie müssen aber auch mehr Finanzmittel bekommen, um die ehrenamtlichen Tätigkeiten zu professionalisieren und geeignete sowie dringend benötigte Fachkräfte einzustellen. Bei der Finanzmittelvergabe und der zukünftigen Einstellungspraxis des Landes Bremen wird sich herausstellen, ob sich Wohlfahrtsverbände, Kirchen und andere öffentlich-rechtliche und zivile Organisationen wirklich über diesen Staatsvertrag freuen und es ernst meinen oder ob dies nur Politik mit Symbolcharakter ist.

Man muss sich nichts vormachen: Es geht hier auch um die Verteilung von knappen Ressourcen. Wo Geld und Macht geteilt werden, muss jeder zu Kompromissen bereit sein. Mit der Anerkennung der islamischen Religionsgemeinschaften und der Unterzeichnung des Staatsvertrags kommt ein weiterer „Akteur“ hinzu, den die etablierten Kräfte als Konkurrenz ansehen könnten.

Es bleibt zu hoffen, dass die neue Situation zu neuen Kooperationen und gegenseitigem Nutzen führen wird; ein Nutzen für die gesamte Gesellschaft. Eine „win-win-Situation“ gewissermaßen, in der alle Seiten profitieren und keiner verliert.

Zum Autor:
Yasin Bas ist Politologe, Historiker, Autor und freier Journalist. Zuletzt erschienen seine Bücher: „Islam in Deutschland – Deutscher Islam?“ sowie „nach-richten: Muslime in den Medien“.

Experten warnen vor wachsender Islamfeindlichkeit

Osnabrück (KNA). Sozialwissenschaftler warnen vor einer neuen Form von Rassismus in Deutschland. Statt allgemeiner Fremdenfeindlichkeit verlagerten sich Ressentiments mehr und mehr auf den Islam, sagte Sozialwissenschaftler Wilhelm Heitmeyer der „Neuen Osnabrücker Zeitung“ (Montag). „Es heißt nicht mehr ‘die Türken’, sondern ‘die Muslime’“, erläuterte der Leiter des Instituts für interdisziplinäre Konflikt- und Gewaltforschung der Universität Bielefeld.

Solche Pauschalurteile führten zu einer immer größeren Ablehnung der Muslime innerhalb der Bevölkerung, so Heitmeyer weiter. Islamophobie sei darüber hinaus auch im Lager der Wohlhabenden und Reichen verbreitet. Ferner habe sie im politischen Milieu der Linken und der Mitte zugenommen. „Bildung schützt nicht vor Islamfeindlichkeit“, fasste Heitmeyer zusammen. Der Forscher sprach von einer neuen „rohen Bürgerlichkeit“.

Ähnlich äußerte sich Alexander Häusler von der Arbeitsstelle Neonazismus der Fachhochschule Düsseldorf. „Undifferenzierte Kritik am Islam oder den Muslimen gilt als konsensfähig, weil sie nicht als klassisch rassistisch eingeordnet wird“, so der Sozialwissenschaftler. Anders als ausländerfeindliche und antisemitische Äußerungen werde sie daher nicht sanktioniert.

Der Zentralrat der Muslime in Deutschland (ZMD) forderte, islamfeindlichen Rassismus als eigenständigen Tatbestand zu werten. Bislang fassten Regierung und Sicherheitsbehörden Straf- und Gewalttaten gegen Muslime unter dem Oberbegriff der Fremdenfeindlichkeit zusammen. „Dadurch wird die Dimension der Islamfeindlichkeit verschleiert“, kritisierte der ZMD-Vorsitzende Aiman Mazyek. Um besser nachvollziehen zu können, wie sich rassistische Gesinnungen in Deutschland entwickeln, forderte Mazyek einen jährlichen Rassismusbericht.

Interview mit Avni Altiner, dem Vorsitzenden der Schura Niedersachsen e.V.

(iz). Muslimische Themen werden bei uns gerne und oft auf abstrakter und konfliktreicher Ebene abgehandelt. Hier herrschen Allgemeinplätze, Vereinfachungen und Schlagworte. ­Schauen wir genauer hin, dann sind Nuan­cen und Schattierungen erkenntlich. Je lokaler der Blick wird, desto schwerer wird ein simples Weltbild.

Wie agieren aktive Muslime abseits der Bundespolitik im Bereich der Länder? Was sind ihre Themen, Probleme und Wünsche? Diese und noch mehr Fragen stellten wir dem neuge­wählten Vorsitzenden der Schura Niedersachsen e.V., Avni Altiner. Sie ist als bunte Interessenvertretung von Muslimen auf Landesebene ein Beispiel dafür, wie sich innermuslimische Kooperation und ergebnisorien­tiertes Arbeiten realisieren lassen.

Islamische Zeitung: Lieber Herr Altiner, Sie sind als Vorsitzender der Schura Niedersachsen bestätigt worden. Was sind die Aufgaben ­Ihres Verbandes?

Avni Altiner: Die Schura Niedersachsen e.V. ist ein multi-ethnischer und übergreifender Landesverband von ca. 90 Moscheegemeinden, landesweit sind fast alle Moscheegemeinden in der Schura organisiert; weitere ca. 76 Moscheen im Landesverband der DITIB.

Wir sind Partner des Landes beim isla­mischen Religionsunterricht oder in den zur Zeit laufenden Verhandlungen über einen Staatsvertrag. Als einziges Bundesland in Deutschland wird in Niedersachsen ab kommendem Schuljahr islamischer Religionsunterricht nach den Vorgaben des ­Grundgesetzes angeboten. Damit ist die Schura Niedersachsen e.V. eine anerkannte Religionsgemeinschaft; wie in Hamburg und Bremen.

Islamische Zeitung: Normalerweise wird Niedersachsen nicht oft mit Fragen des Islam und der muslimischen Community in Verbindung gebracht. Was sind Ihre wichtigsten Themen?

Avni Altiner: Die Schura Niedersachsen e.V. hat die Devise: „Erst Leistung erbringen, dann darüber zu reden – auch in den Medien.“ Deshalb sind wir in der Medienlandschaft nicht so präsent wie Verbände, die auf Bundesebene dominieren.

Wichtige Fragen sind für uns die unmittelbare Beteiligung beim islamischen Religionsunterricht mit Lehrbefugnisentscheidung (Idschaza) und ebenso bei der Ausgestaltung des Islamisch-theolo­gischen Instituts an der Universität Osnabrück. Weiterhin positioniert sich die Schura Niedersachsen e.V. in politischer Hinsicht als ein Islam der Mitte, der sich damit deutlich von randständi­gen Strömungen (etwa Salafisten) abgrenzt und damit für eine breite politische Stabilität innerhalb des deutschen Verfassungs- und Gesellschaftsrahmen garantiert.

Islamische Zeitung: Mehrheitlich stehen die Bundesverbände im Blickpunkt des Interesses, und nur selten diejenigen auf Landesebene…

Avni Altiner: Die Arbeit wird ganz überwiegend nur auf Landesebene gemacht; dorthin hat die deutsche Verfas­sung die Kompetenz in Religionsangelegenheiten verwiesen. Die Schura Niedersachsen e.V. beherzigt dies. Unsere Ansprechpartner sind die Landesministerien, Gewerkschaften, Kirchen, Sozial­verbände und regionale Medien. Mit all diesen haben wir ein positives und konstruktives Auskommen. Unsere Arbeits­schwerpunkte sind Partizipation an der politischen Gestaltung des Landes, besonders auch im Hinblick auf die Belan­ge der Muslime. All dies fließt letztlich in das Verhandlungsbündel für einen Staatsvertrag zusammen.

Islamische Zeitung: Die Schura steht einerseits in Verhandlungen mit der Landesregierung, andererseits nimmt diese – durch verdachtsunab­hän­gige Moscheekontrollen und das Sicherheitsprogramm – eine konfron­tative Haltung gegenüber Muslimen ein. Wie gehen Sie damit um?

Avni Altiner: Für uns gibt es kein Schwarz-Weiß-Denken. Gerade mit dem Ministerpräsidenten (früher Wulf, heute McAllister), dem Kultus-, dem Wissenschafts- und dem Justizministerium haben wir ein sehr gutes Verhältnis. Wir gehen davon aus, dass sich der Konflikt, der sich aus dem irritierenden Agieren des Innenministers ergab, mit der Landtagswahl im Januar 2013 auflösen wird, unabhängig von der ­Parteikonstellation.

Islamische Zeitung: Ihr Verband ist auchan der Ausbildung muslimischer Religionslehrer und Imame beteiligt. Wie bewerten Sie den momentanen Entwicklungsstand des Projekts?

Avni Altiner: In Osnabrück ist nicht nur das – nach der Dozentenzahl – größte islamisch-theologische sowie religions­pädagogische Institut entstanden; dank einer vernünftigen Politik des Wissenschaftsministeriums ist auch die von der Verfassung gebotene Einbindung der Muslime in Gestalt eines politikunabhängigen Beirates im bundesweiten Blick am besten gelöst. Auch hier zeigt sich, dass das Institut den Weg eines Islam der Mitte geht, hier also die Gläubigen im Land im Blick hat.

Zügig muss nun in Osnabrück der Be­darf an ca. 200 Lehrkräften für den konfessionellen islamischen Religionsunterricht bereitgestellt werden, denn das Land hat dessen Einführung zum Schuljahrsbeginn 2013/2014 zugesichert. Ebenso brauchen wir in Deutschland ausgebildete, sprachfähige Theolo­gen, die selbst von der Basis kommen, praktizierend sind und „Stallgeruch“ haben. Nur diese werden von den gläubigen Muslimen in Deutschland ernstge­nommen werden; nicht jene, die sich als große Reformtheologen der Mehrheitsgesellschaft in den Medien dauernd anbiedern.

Islamische Zeitung: Die Entwicklung einer „Islamischen Theologie“ hat bei Muslimen zu gemischten Reaktionen geführt. Einerseits hoffen viele auf eine Heimischwerdung der muslimischen Lehrer, andererseits befürchten Stimmen innerhalb der muslimischen Gemeinschaft, dass es zu einer Einflussnahme auf die Unabhängigkeit der Lehre kommen könnte…

Avni Altiner: Genau diese Sorgen teilen wir! Aber mit den Antworten auf die Fragen zuvor habe ich den hier eingeschlagenen Weg beschrieben. Dass ­unser Weg der Kooperation mit der Uni und dem in dieses und seine Mannschaft eingebrachten Vertrauens der richtige ist: das wird von den Mitgliedern beider Landesverbände – Ditib und Schura – so begrüßt.

Uns ist aber auch klar – und da wollen wir gemeinsam hin –, dass die Lehre und mehr noch die Forschung in Osnabrück uns als Muslime in Deutschland und Europa begreift. Dies ist der Rahmen, in dem islamisches Recht, Geschichtsverständnis und Gesellschaftsordnung zu verorten sind; und zwar mit Blick auf eine lange Zukunft, eine Zukunft, der eine Vision muslimi­scher Gemeinschaft zugrunde liegt und die sich im Deutschland und Niedersachsen etwa der 2030er Jahre eingerich­tet hat. In Osnabrück ist ein richtiger Beirat mit Basisbindung entstanden, hier hat man keinen Beirat, der wie anderswo künstlich „gebastelt“ wurde, um lediglich die Form zu wahren. Das Inte­ressante ist natürlich, dass die ­Muslime diese Entwicklung sehr genau beobach­ten, und auch die Studierendenzahlen sprechen eine klare Sprache, wenn etwa manche Standorte mehr Dozenten als Studierende haben.

Islamische Zeitung: Aber am Doppelstandort Münster und Osnabrück wird doch auch eine kuriose „Barmherzigkeitstheologie“ gepflegt und die Schura Niedersachsen ist im Beirat?

Avni Altiner: Nein, Sie müssen da unterscheiden zwischen Herrn Khorchides persönlichen Überzeugungen in Münster und dem Kollegium in Osnabrück. Wir sind nur für Osnabrück zuständig. Soweit ich informiert bin, orien­tieren sich die Osnabrücker an einer Theologie der Mitte. Diese so ­genannte „Barmherzigkeitsheologie“ von Herrn Khorchide ist tatsächlich meilenweit von der Basis entfernt. Jeder in der muslimi­schen Community weiß, dass er damit die Residenzgesellschaft bedient. Klar ist und bleibt: Diese Thesen mögen auf Kirchentagen und in der deutschen Öffentlichkeit bejubelt werden, sie haben jedoch keinerlei Rückkoppelung in den Moscheegemeinden. Im Grunde genommen ist das nichts anderes als eine einseitige und selektive Lesart der islami­schen Quellen. Das Gewünschte wird in die Quellen hinein projiziert. Entweder tut er dies bewusst oder unwissentlich, suchen Sie sich die bessere Alternative aus. Mich würde im Übrigen interessieren, wie der Koordinationsrat (KRM) sich hierzu positioniert.

Islamische Zeitung: Seit Jahren besteht der KRM. Wie viel von seinen Aktivitäten kommt bei Ihnen vor Ort an und fühlen Sie sich ausreichend koordiniert?

Avni Altiner: Zwar gehören die in der Schura Niedersachsen e.V. durch ihre Ortsmoscheevereine vertretenen Verbände IGMG und VIKZ zu den KRM-Partnern. Doch ist keiner der bundesweiten Landesverbände Gründungsmitglied oder Partner des KRM. Der KRM ist aufgrund seiner Struktur – selbst eine Satzung fehlt bislang – nicht Religionsgemeinschaft im Sinne der Verfassung. Unsere Aufgabe ist es, die Mus­lime im Hinblick auf den islamischen Religionsunterricht und umfassend in Vereinbarungen mit dem Land zu vertreten. Wir wünschen uns im Interesse der Muslime, dass sich der KRM in Nordrhein-Westfalen zu einer richtigen Religionsgemeinschaft nach der Losung „Vielfalt in Einheit mit denselben Rechten und Kompetenzen“ weiter­entwickelt – wie hier in Niedersachsen.

Islamische Zeitung: Sind Sie der Ansicht, dass die bisherige Organisationsstruktur der Muslime ihre ­zukünftigen Aufgaben gerecht wird? Immerhin besteht die ethnische Separation in der Community auch ­weiterhin…

Avni Altiner: Sabr [Geduld], Aufklärung und erfolgreiches Vorbild sind hier die Devise. In den beiden Hafenstädten Hamburg und Bremen haben die Schura Hamburg und die Schura Bremen einen Staatsvertrag ausgehandelt. Die Schura Niedersachsen befindet sich – in guter Kooperation mit dem DITIB-Landesverband – gerade in diesem Prozess. Über ethnische ­Separation macht sich Gedanken, wer zurückblickt. Auch hier gibt es sehr positive Entwicklungen in der Zusammenarbeit.

Islamische Zeitung: Was erhoffen Sie sich für die nächsten Jahre?

Avni Altiner: (…) dass sich aus Islamophobie und Diskriminierung ein sympathisches Miteinander der Religionsgemeinschaften in Niedersachsen, Deutschland und Europa entwickelt. Allen Muslimen hier muss vollkommen klar sein, dass der Schlüssel dazu in ­ihren eigenen Händen liegt: Wer zurück schaut, wer auf den Staat wartet, wer sich seine Befehle und Fatwas in der Ferne abholt, wer sich nicht in demokrati­sche Strukturen einfügen kann, wer sich der Partizipation in den zivilgesellschaftlichen Einrichtungen verweigert, wer den Bildungs­aufstieg verschläft, wer nicht durch ­Taten ein gutes Vorbild liefert und zeigt, dass der Islam auch ­dieser Gesellschaft etwas Positives zu bieten hat, der und die verwehrt nicht nur sich selbst eine gedeihliche Zukunft sondern versündigt sich am Auftrag des Islam, unseres geliebten Propheten und der Umma. Die Islamische Zeitung ist uns da stets eine gute Plattform, der wir ein langes, erfolgreiches Leben wünschen. Denn wir sollen einen urdeutschen Satz beherzigen, der da heißt: „Ohne Fleiß kein Preis“

Islamische Zeitung: Lieber Avni Altiner, Danke für das Gespräch.

Wo schlägt das Herz der Welt? IZ-Gespräch mit Dawud Stewart Hurrell über geopolitische Fragen

(iz). Nach dem Ende des Systemgegensatzes und des Zusammenbruchs der Sowjetunion hat sich die Geografie und Politik des Raumes – die Geopolitik – durch diverse Konflikte und Entwicklungen wieder ins Gedächtnis der Menschen gerückt. Und das, obwohl der moderne Mensch ungeheuer viel Zeit in virtuellen Räumen verbringt…

Trotz der Tendenz, die Bedrohung ideologischer und nie zu greifender Gegner – wie beim Antiterrorkrieg oder der so genannten Cyber-Kriminalität – über ihre Haltbarkeit hinaus am Leben zu erhalten, wird deutlich, dass sich die Geografie als Teil des menschlichen Schicksals nicht länger verdrängen lässt. Ein Blick auf das Herkunftsland des in Deutschland verbrauchten Erdgases macht verständlich, dass Europa nicht an die USA grenzt, sondern an Kernland Eurasiens.

Hierzu sprachen wir mit dem geopolitischen Fachmann und Lehrer Dawud Stewart Hurrell. In dem Hintergrund-Interview geht Hurrell der Frage nach, wie und warum Geografie heute noch wichtig ist, worum es jenseits ideologischer Streitigkeiten im Nahen Osten geht und wo heute das Herz der Welt heute schlägt.

Islamische Zeitung: Dawud Stewart Hurrell, Sie sind Lehrer und Publizist für Geopolitik. Obwohl es eine dominante Weltsicht gibt, können Muslime zu anderen Antworten gelangen?

Dawud Stewart Hurrell: Ja, das können sie. Der bekannt Satz, dass man die Gegenwart durch Kenntnis der Vergangenheit verstehen kann, gilt auch hier. Die dominante moderne Weltsicht wurde durch eine Sicht der Geschichte gestaltet, die Institutionen und Prozesse von Macht betont. Wir nehmen sie als gegeben an. Das gleiche gilt für die Fortschritts-Philosophie.

Bis ins späte 19. Jahrhundert war sie auf die westliche Welt beschränkt – und auf Eliten und Denker, die mit den „westlichen“ Verhältnissen in Kontakt traten. Sie sahen darin die Lösung für die Krankheiten und die scheinbare Rückständigkeit ihrer Gesellschaften. Ein Beispiel dafür waren die Jungtürken oder die chinesischen Reformer. Die letzteren griffen die chinesischen Mandschu für deren sture Weigerung zur Modernisierung an; angesichts des Erfolges, an dem sich der Rivale Japan unter den Meji erfreute. Auch wenn eine überlegene westliche Militärmacht oft Reaktionen gegen die „Alten und Rückständigen“ provozierte, verstanden die Reformer der muslimischen Welt nicht, dass entlang der Institutionen, die notwendig waren, um ihre westlichen Rivalen nachzuahmen – wie rapide Industrialisierung und Falschgeld-Währung –, der Staat kam.

Der Staat, dessen Behandlung hier den Rahmen sprengen würde, machte eine komplette Revision des Islam notwendig, um die Integration des Staates in der Gesellschaft zu legitimieren. Diese Revision wurde durch eine Weltsicht vervollständigt, die Modernisierung in all ihren Formen betonte. Dies geschah auf Kosten der existierenden – und vermeintlich als archaisch wahrgenommenen – Rolle des Islam. In Folge wurden ganze Bevölkerungen einer Interpretation der Bedeutungen der sich entfaltenden Ereignisse unterworfen, die ihnen von den Medien aufgedrängt wurden. Sie verloren eine Perspektive, die sie gehabt hätten, hätten die Institutionen des Dar Al-Islam noch Bestand.

Diese Perspektive war spirituell und politisch. Ein junger osmanischer Mann konnte sich der Armee des Sultans anschließen. Diese Handlung hätte lebensverändernde Konsequenzen für ihn gehabt, da sie in sich die Saat einer spirituellen Erleuchtung trug. Oft war das die Folge der Anstrengungen der sufischen Tariqats, die in allen Dienstgraden vertreten waren. So war das osmanische Militär eine Erweiterung des Glaubenssystem, das seinem Wesen nach einheitlich war. Der junge Mann, der heute beim türkischen Militär dient, wird keine derartige Befriedigung erhalten, denn die Armee wird durch Wehrpflicht aufgefüllt und dient im Wesentlichen der inneren Sicherheit und anti-kurdischen Patrouillen.

Die Weltanschauung der gegenwärtigen Erziehung und Indoktrinierung kann durch das Studium einer Gesellschaft sowie der wirtschaftlichen, politischen und militärischen Organisation ihrer früheren Periode umgekehrt werden. Das gilt für die ’abbasidischen Jahrhunderte, das Goldene Zeitalter der Osmanen oder sogar der Vergleich des heutigen Chinas mit den Zivilisationen der Tang und Song, deren historisches Erbe von Mao einer blutigen Revision unterzogen wurde. Eine Vergangenheit, die oft mit Nostalgie betrachtet wird – und das mit gutem Grund! Das Beispiel Mao ist wichtig, weil China mehr eine Zivilisation ist, und weniger ein Staat. Es erlebte eine signifikante Unterbrechung seiner Vergangenheit. Maos Programme führten zum Tod von 30 Millionen Menschen unter dem gescheiterten sozialistischen Experiment – einer Doktrin, die im Übrigen in Europa ihren Ursprung hatte.

Diese historischen Reflexionen dienen als Modell für den Gegensatz zwischen Gegenwart und Vergangenheit. Die Geschichtlichkeit bietet alternative Lösungen für einige der dringenderen Fragen, der sich Muslime im Besonderen – und die Welt im Besonderen – gegenübersehen. Das Problem erscheint, wenn die „Moderne“ mit dem Islam von früher verbunden wird. Nehmen wir die Muslimbruderschaft: Ihre Lösung für Ägypten – und der muslimischen Gemeinschaft insgesamt – besteht in ihren Augen aus der Verbindung von Islam mit dem Staat, dessen Philosophie und Strukturen. Dies schaffte zuerst den Islam als solchen ab und an zweiter Stelle einen Staat, mit dem Islam als Ideologie. Das ist ein aussichtsreicher Kampf.

Oder nehmen wir die Taliban, die 2001 die Buddha-Statuen von Bamiyan in die Luft jagten; jüngst sprachen einige Muslimbrüder davon, die Pyramiden Ägyptens sprengen zu wollen. Diese Sprengungen wurden von Taliban durch islamische Begriffe begründet, aber warum standen sie nach 1.400 Jahren islamischer Herrschaft in Zentralasien immer noch? Lag dies daran, dass ihre Vorfahren kein Dynamit besaßen? Oder daran, dass die „Analysen“ ihrer Vorfahren sie als unwichtig betrachteten, so als würden sie in den Augen der Taliban heute eine Art Schirk verursachen, die der über sie wehende Wind hätte mitnehmen können.

Im finanziellem Bereich legen zeitgenössische islamische Wirtschaftswissenschaften mögliche Wege nahe, Papiergeld, zinsfreie Darlehen und alle anderen Arten der Täuschung in den islamischen Rahmen zu integrieren. Die Wirklichkeit ist – wie ein Jahrtausend muslimischer Geschichte nahelegt –, dass ein alternatives System finanzieller Stabilität durch eine bimetallische Währung erzielt werden kann. Hierzu gehört ein Handelssystem, dass das Bartering nicht als wichtiges Tauschmittel ausschließt sowie die Auqaf, bei denen große Landstriche für die Wohlfahrt benutzt wurden. Hier empfehle ich das Buch „Osmanli History and Institution“ von Mehmet Maksudoglu.

Islamische Zeitung: Was macht die Geopolitik wichtig für unsere Zeit?

Dawud Stewart Hurrell: Wir leben in einer Welt konkurrierender Mächte. In der Antike – vielleicht mit Ausnahme von Persern, Römern und Chinesen – waren Rivalitäten lokal begrenzt. Heute schwingen die großen Mächte ihr Schwert an allen Ecken der Welt. Ihre Aktionen betreffen uns alle.

Eine Bewertung ihrer Handlungen innerhalb der engen Grenzen ideologischer oder ausschließlich politischer Begriffen reicht nicht, um eine Perspektive zu gewinnen. Die Geopolitik betont drei Disziplinen, wie es vom Amerikaner Nicholas Spykman bestimmt wurde: Geschichtsphilosophie zur Beschreibung territorialer Ausbreitung, politische Geographie im Allgemeinen und die Beschreibung und Analyse der Sicherheitsstrategie eines Staates aufgrund seiner geographischen Bedingungen. Nähert man sich dem Studium und Verständnis der globalen Politik durch den Gebrauch dieser Disziplinen, gelangt man zu einem beispiellosen Erkenntnis des Themas.

Betrachten wir Syrien: Der Beleg für die Theorie eines territorialen Wachstums lässt sich in seinen Bestrebungen zur Wiederrichtung eines „Großsyriens“ erkennen. Dazu gehören Gebiete der Levante, Palästinas, Jordaniens und des westlichen Iraks. Wenn nicht um Gebietszuwachs, so ging es doch immer um die Steigerung des regionalen Einflusses. Der Erfolg von Damaskus blieb auf die vergangene Besetzung und politische Manipulation des Libanon beschränkt. Bedenken Sie, dass Hafez al-Assad 1972 sagte, dass „Syrien und Libanon ein einziges Land“ seien.

Ein politisch-geographischer Ansatz beinhaltet neben den physikalischen Gegebenheiten den Blick auf die ethnische, demographische, industrielle, landwirtschaftliche, hydrologische, mineralische und religiöse Zusammensetzung, um die Funktionsweise der syrischen Maschinerie zu begreifen.

Die Sicherheitsinteressen Syriens werden durch eine Kombination aus seinen historischen Erfahrungen, innenpolitischen Strukturen sowie den außenpolitischen Zwängen angetrieben. Und all dies bewegt sich innerhalb einer geopolitischen Struktur des erweiterten Nahen Ostens. Dazu gehören auch die Beziehungen von Damaskus zu seinen Nachbarn – ob freundlich oder feindlich.

Würde man versuchen, Syrien mit den Augen von Thomas Friedman [eines US-amerikanischen Publizisten] zu sehen, bliebe ein intellektuelles Vakuum zurück. Das Studium der Geopolitik mildert diese Kurzsichtigkeit. Der bekannte geopolitische Denker, Halford Mackinder, betrachtete die verschiedenen Wellen nomadischer Eroberer, die über die Jahrhunderte aus dem Inneren Zentralasiens kamen; als Teil seiner „Theorie des Kernlands“. Jene Theorie, die er in seinen Vorlesungen und Büchern ausarbeitete, war eine theoretische Reflexion auf den russischen – und später sowjetischen – Imperialismus. Mackinder beschrieb die strategische Kultur einer Region, die auf Expansion ausgelegt ist. Ihrerseits bildete sie den Gegenentwurf für die spätere amerikanisch-atlantische Theorie der Eindämmung [engl. containment], die Nicholas Spykman entwickelte. Selbst Ihr Nationaldichter Goethe war nicht immun gegenüber dem Denken in geopolitischen Begriffen. Er sagte 1827 gegenüber seinem Sekretär – ca. 80 Jahre vor dem Bau des Panamakanals –, dass es absolut unverzichtbar für die Vereinigten Staaten sei, eine Passage des Golfs von Mexiko zum Pazifischen Ozean zu bewerkstelligen. Er, so Goethe, sei sicher, dass es dazu kommen werde.

Islamische Zeitung: Vor Kurzem sprach ein bekannter US-amerikanischer Autor von der „Rache der Geografie“ und erinnerte uns an ihren Einfluss für das menschliche Schicksal. Einige wichtige Regionen, darunter viele Energielagerstätten, befinden sich in der muslimischen Welt…

Dawud Stewart Hurrell: Geografie ist Schicksal, heißt der Satz, auch wenn er oft zurückgewiesen wurde. Das Schicksal der Titanic und die Geografie des Nordatlantiks sind eng miteinander verbunden, auch wenn ein aufmerksamer Kapitän die Überschneidung beider hätte verhindern können. Ohne die bewusste menschliche Machenschaft besteht die menschliche Lage in einem bestimmten Raum üblicherweise in einem kulturell-politischen Sinne, der definitiv von seiner Umgebung bestimmt beeinflusst wird.

Als Beispiel dafür mag Afghanistan dienen. Der Großteil seiner multiethnischen Bevölkerung existiert in der gleichen Form, wie es vor tausend Jahren der Fall war. Die fruchtbaren östlichen Windtäler, das zentrale Bergplateau, die Grasebenen des Nordens sowie die Halbwüsten des Südens und Südostens tragen alle zu den unterschiedlichen Formen von sozialer und politischer Organisation bei. Eine Folge davon ist eine Lebensweise, die an das Gelände angepasst ist: Trockenfeldbau, Beweidung oder bewässerter Anbau durch das Wasser aus Bergen oder Flüssen. Die schiitischen Hazaras beispielsweise verdanken ihr Überleben dem zentralen Bergmassiv, wo sie siedeln. Diese Bergformation machte die Verteidigung wesentlich leichter. Die verschiedenen Gruppen – seien es Paschtunen oder Tadschiken – mussten als Folge des jahrzehntelangen Kriegs für sich selbst kämpfen. Der permanente Kampf – gegen in- oder ausländische Feinde – bewirkte einen sturen Sinn für Unabhängigkeit und Misstrauen gegenüber der Herrschaft in Kabul.

Die zentralisierte Kontrolle in einem Staat mit solchen autonomen Regionen ist beinahe unmöglich. Die Provinzen werden zuerst durch Ethnizität, dann durch Stammen, dann Clan und schließlich durch Familie bestimmt. Und mittendrin findet sich der Typus des Warlords. Den letzten erfolgreichen Zentralstaat gab es unter dem Eisernen Emir, Abdurrahman, der 1901 starb. Sämtliche folgende Versuche, erneut die Herrschaft von Kabul zu erzwingen, endeten in einem blutigen Desaster.

An dieser Stelle passt der Bezug zur Titanic, denn sobald Captain Obama den Blick vom Ozean (dem ausländischen Projekt von Demokratie und kapitalistischer Produktionsweise, das Afghanistan aufgezwungen wurde) abwendet, wird er auf den sprichwörtlichen Eisberg treffen. Und Afghanistan wird, wenn man es denn endlich in Frieden lässt, zu dem werden, was es immer war. Aber natürlich haben die Sättigung mit neuen Technologien wie Transport und Telekommunikation einen bleibenderen Einfluss auf die Menschen dieses Landes, als ihn die militarisierten Amerikaner jemals haben konnten.

Es ist bekannt, dass Küstenzonen und solche im Landesinneren erkennbar unterschiedliche soziale und politische Formen entwickeln. Küstenregionen haben – wegen ihrer Bindung zum Überseehandel, der verschiedene Teile des Erdkreises verbindet – einen wesentlich höheren Grad von kulturellem Austausch, dem Transfer von Ideen und Wohlstand. Diese Zonen sind in der Regel wohlhabender als das Landesinnere. Gebiete im Zentrum sind wesentlich konservativer und – dank der Kosten und der logistischen Schwierigkeiten – die Bewegung von Gütern und Ideen ist langsamer. Das heißt, dass zentrale Gebiete ihre traditionellen Identität wesentlich länger bewahren. Man muss nur die historische Entwicklung von England mit der des russischen Reiches vergleichen. Wir können auch [die pakistanische Hafenstadt] Karatschi mit [dem afghanischen] Kandahar vergleichen.

Die Beziehung der Geografie des Nahen Osten zu seinen dominanten kulturellen und politischen Eigenschaften lässt sich bei Ibn Khaldun finden. Erwarten Sie allerdings keine schmeichelhaften Beschreibungen der Araber; und das, obwohl er selbst einer war. Der Prophet Muhammad sprach von barfüßigen, halbnackten Schafhirten, die beim Bau hoher Gebäude miteinander wetteiferten. Man kann sich nur vorstellen, was seine Anhänger unter dieser Aussage verstanden. Immerhin hatte die öde Wüste schwerlich Baumaterialien, von einer Kultur der Befestigung ganz zu schweigen, die auf eine solche Entwicklung hingewiesen hätte.

Aber die Bedeutung von Geografie offenbart sich in der Zeit selbst. Und der umfangreiche Erdölreichtum – unbekannt zu Beginn des 20. Jahrhunderts – veränderte das Schicksal der Region auf unvorstellbare Art und Weise. Der Geografie des Islam nach zu urteilen, kann man nur schlussfolgern, dass es das Schicksal der Muslime ist, über umfangreiche Machtpotenziale für kommende Jahrzehnte zu verfügen; auch wenn das Vakuum in ihrer Führungsschicht hier offenkundig Grenzen setzt.

Islamische Zeitung: Momentan befindet sich der Nahe Osten im Griff diverser Konflikte. Der schlimmste davon ist der zunehmend blutige und komplizierte Krieg in Syrien…

Dawud Stewart Hurrell: Die geopolitischen Folgen der Krise müssen sich erst noch erweisen. Es wäre möglich, dass im Westen Syriens eine alawitische Enklave entsteht, die entlang einer bedeutenden kurdischen Autonomiezone im Norden liegt. Das würde zu einer Verschlimmerung des kurdischen Separatismus in der Türkei führen. Zur Diskussion im heutigen Syrien stehen Fragen nach Nationalismus, Religion und Ethnizität. Der Kampf zwischen Alawiten und Muslimen bewegt sich entlang religiöser Linien, während der kurdisch-arabische Konflikt durch ethnische Trennungen motiviert ist.

Und trotzdem müsste man sehr stark suchen, um einen alawitischen Vertreter in Syrien finden, der sich ernsthaft um seine eigenen, komischen theologischen Vorstellungen kümmert. Die Alawiten sind eher eine Gemeinschaft mit einer dominanten politischen als einer religiösen Identität. Vergleichbares findet man vielleicht in Israel. Jeder dort ist ein Israeli, aber nicht jeder Israeli ist ein Jude. Die Alawiten, die als Nicht-Muslime immer in der Minderheit waren, haben ihren Anspruch auf historische Unterdrückung passenderweise stark übertrieben. Sie haben diese gefährliche Lage dadurch geschaffen, dass sie sich selbst in das Machtnetz von Hafez al-Assad verwickeln ließen. Das ist eine Lage, die offenkundig unhaltbar ist. Das Hama-Massaker von 1982 hat eine aktive Opposition gegen die brutale alawitische Diktatur lange unterdrückt, aber die Entschlossenheit des Widerstands nur gesteigert.

Der Sieg der Muslimbruderschaft hat ihre Entschlossenheit nur gesteigert. Ich glaube, dass das alawitische Regime in Syrien früher oder später fallen wird; die zunehmende amerikanische Beteiligung lässt keinen anderen Schluss zu. Die Türkei, die eine Führungsrolle in der Region will, ist auf Verbündete angewiesen. Das erklärt zum Teil die Kooperation mit jener kleinen, künftigen diplomatischen Supermacht: Qatar. Trotz der hohen Preises, den die Türkei dabei in der Kurdenfrage bezahlen muss.

Qatar und Saudi-Arabien wollen das Assad-Regime aus dem Weg räumen, um den „schiitischen Halbmond“ zu brechen, der sich von Beirut nach Herat zieht. Die schiitische-alawitische Unterstützung für die Hisbollah – die einzige Gruppe, die eine militärische Stellung gegen Israel einnimmt – ist peinlich, denn sie offenbart die Schwäche der „sunnitischen“ Regime.

Die opportunistische Hamas ist ein anderes Thema. Die Vergeltung nach den Katjuscha-Angriffen auf Israel war ein simpler Weg, sich den Säckel zu füllen; jetzt, wo die Hilfsmittel nach dem Krieg in die Region kommen.

Israel hat den Takt geändert: In der Vergangenheit betrachtete Tel Aviv Assad (erst den Vater, dann den Sohn) als notwendige Übel. Das Syrien der Assads mag zu einem bestimmten Punkt ein militärischer Gegner gewesen sein. Aber nach den Kriegen wurde es zu einem rhetorisch militanten, aber berechenbaren Akteur, der das Land stabil hielt und seine Aufmerksamkeit auf den Libanon, und nicht auf Israel richtete.

Nachdem die Hisbollah das politische Establishment im Libanon infiltriert hatte, ist sie jetzt ein Staat im Staate, der soziale Dienstleistungen offeriert und einen überlegenen militärischen Arm hat. Die Zukunft des Libanon sieht düster aus. Die massiven Bombenangriffe gegen die libanesische Infrastruktur während des Krieges 2006 war Israels Weg zu zeigen, dass es keinen Unterschied zwischen diesem syrisch-iranischen Stellvertreter und dem Staat Libanon macht, solange deren Überschneidung anhält.

Um den alawitischen Assad gegen eine sunnitische Regierung mit Bindungen an die Türkei und Qatar – neben anderen – auszutauschen, ist definitiv die bessere Option. Dies wird ein Glied der Kette von Teheran, durch Beirut bis Nasrallah zerbrechen.

Die Interessen Amerikas verlaufen parallel mit denen Israels, sind aber von größerer Natur. Die Syrien-Kampagne ist der erste Schuss einer neuen Schlacht, die zwischen den Koalitionen bestritten wird, die die sunnitischen-schiitischen Linien ausmachen. Dies wird eine neue strategische Dynamik im Nahen Osten erzeugen.

Islamische Zeitung: Sie sprachen in früheren Texten von einem neuen Kalten Krieg im Nahen Osten. Was meinen Sie damit?

Dawud Stewart Hurrell: Zum Verständnis müssen wir einsehen, dass der Kalte Krieg weniger eine Reaktion auf sowjetischen Druck war, sondern vielmehr eine Entschuldigung dafür, den wirtschaftlichen und politischen Einfluss der Amerikaner in aller Welt zu projizieren. Die Historiker Joyce und Gabriel Kolko bezeichneten dies als Forcierung einer „liberalen, Internationalisten“ Agenda. Sowjetische Abenteuer boten eine gute Entschuldigung, wenn es vonnöten war. Dies könnte man 1973 in Chile mit dem Schicksal Salvador Allendes beobachten.

Als Fortsetzung dieses Trends, der nach 1991 durch das Fehlen eines zu identifizierenden Feindes behindert wurde, projizieren und schützen die USA auch weiterhin ihre strategische Interessen in aller Welt. Weil der Zustand Nordamerikas eine Verbindung von unternehmerischen und politischen Parteien beinhaltet, ist es stellenweise schwierig, das nationale Interesse der USA auf Grundlage seiner eigenen Sicherheitsbelange zu bestimmen. Die Folge davon ist, dass man zeitgleich mit zwei Augen auf die US-Diplomatie in jener Kernregion blicken muss.

Im Nahen Osten wird eine neuer Kalter Krieg entlang religiöser Fronten erzwungen. Das beuten die Amerikaner zu ihrem strategischen Vorteil aus. Wie bereits erwähnt, überlagern sich oft die Interessen von Konzernen und die strategischen Belange der USA.

Auf einer Ebene müssen die USA den jetzigen Zustand unter hochwertigen Staaten wie Saudi-Arabien, Qatar, Bahrain und die Vereinten Arabischen Emiraten aufrechterhalten. Wegen der israelischen Sicherheit gehört auch Ägypten dazu.

Der Wert dieser Länder leitet sich aus wirtschaftlichen Erwägungen ab – natürlich Erdöl. Aber da die Regierungen der in Region ihre Rechtmäßigkeit und ihren Wohlstand aus den Erdölexporten ableiten, darf niemand erwarten, dass sie – kollektiv oder einzeln – die Waffe des Erdölboykotts einsetzen. Dafür fehlt es ihnen am politischen Willen. Auch eine koordinierte OPEC-Aktion ist unwahrscheinlich, da diese mittlerweile global ist und wegen der unterschiedlichen nationalen Interessen einer solchen Aktion niemals zustimmen würde (das 1973er Erdölembargo wurde von der AOPEC beschlossen).

Welche andere Großmacht könnte die USA auf rein strategischer Ebene ersetzen? China, mit seinem veralteten ukrainischen Flugzeugträger, oder Russland, das nicht viel mehr zu bieten hat als Waffen und Know-how bei der Entwicklung von Energieträgern? Daher ist das Strategische, im Sinne einer Rivalität zwischen den Großmächten, seit dem Zusammenruch der Sowjetunion weniger wichtig. Allerdings können die erwähnten Mächte die Geo-Ökonomie der Region beeinflussen.

Um es genauer zu sagen: Die erwähnten hochwertigen Staaten des Nahen Ostens bilden den Kern – zusammen mit China im Osten – des Dollarsystems. Solange das Erdöl in US-Dollar berechnet wird, und solange rund 30 Prozent des weltweiten Rohöls aus dem geografisch kleinen „Erdöl-Dreieck“ kommt, bleibt die Verbindung fest. Das wird als die „unsichtbare Hand der Amerikanischen Hegemonie“ bezeichnet.

Die zweite Ebene, die ebenfalls ein Thema des Kalten Krieges ausmacht, ist ein Projekt zur Aufrechterhaltung der Strukturen dieser hochwertigen Staaten, indem sie abhängig vom Schutz des US-Militärs bleiben. Der Gegner ist ein ambitionierter Iran und seine schiitischen Stellvertreter im Irak, Syrien und dem Libanon. Der „schiitische Halbmond“, der sich vom Mittelmeer bis zum westlichen Afghanistan erstreckt, bildet den nördlichen Abschnitt dieses neuen Kalten Krieges. Als Folge der iranischen Ambitionen sind sie nicht nur eine Herausforderung für die arabische Glaubwürdigkeit, sondern auch eine existenzielle Prüfung, wenn sich insbesondere die iranischen Atombestrebungen in der bisherigen Entwicklungsrichtung fortsetzen. Teil davon sind die Förderung von Unruhen in den erdölreichen, östlichen Regionen Saudi-Arabiens sowie in Bahrain. Vergessen werden dabei darf auch nicht das letzte Jahrzehnt der Beziehung von Hamas zum Iran und die breite Beliebtheit von schiitischen Führern wie Hassan Nasrullah und Ahmedinedschad unter der Bevölkerung. Das ist die Folge ihrer aktivistischen Haltung gegen die israelische und amerikanische Macht.

Innerhalb dieser regionalen Rivalitäten begannen die USA damit, sich als Schutzherrn der arabischen Regime gegen das schiitische Abenteuertum einzumischen. Der erste Schritt war die Schaffung von Demokratie im Irak. Dies führte per Definition dazu, dass Macht an die schiitische Mehrheit überging. Und da ihr Führer die Zeit von Saddam im iranischen Exil verbrachte, ergab sich eine unausweichliche Iran-Connection. Der nächste Schritt war die Auflösung der atomaren Drohung durch den Iran, der die Knie von einigen fortschrittlichen arabischen Politikern zum Schlottern bringt. Die Feindschaft und die Kriegsdrohungen gegen den Iran hatten zur Folge, die Entschlossenheit des Irans zur Vervollständigung seines Nuklearprogramms zu steigern. Ein atomarer Iran ohne ein atomares arabisches Gegenstück hätte schwerwiegende Folgen für die Stabilität im Nahen Osten. Es ist daher kaum verwunderlich, dass Saudi-Arabien 2010 ein einen 60 Milliarden US-Dollar schweren Waffendeal mit den USA – oder eher mit den US-Rüstungsschmieden – abschloss.

Das dritte Stadium in diesem Prozess war der so genannte „Arabische Frühling“, der die gemäßigten Männer fürs Grobe in der Region wie Gaddafi, Ben Ali, Mubarak und zukünftig Assad ausschaltete. Im Gegenzug setzte sich der Typus der berechenbaren „islamistischen“ Muslimbruderschaft durch, der natürlich auf die schiitisch-iranischen Ambitionen mit der Bildung einer gemeinsamen Front reagieren wird. Dieser gesteuerter Zustand der Spannung erlaubt den Amerikanern, eine „Nachfrage“ nach Sicherheit zu schaffen, die nur zu gewillt sind, zu „liefern“. Als Folge wird die geo-ökonomische Struktur unverändert bleiben, da es innerhalb dieser Struktur eines Kalten Krieges keinen Raum für unabhängige Aktionen geben wird. Man muss nur an die Gefügigkeit westeuropäischen Alliierten der USA während des eigentlichen Kalten Krieges denken. Dank der Gemütslage der wohlhabenden Monarchen der Region dürfte man kaum erwarten, dass ein arabischsprachiger De Gaulle aufstehen und eine unabhängige Politik ankündigen wird.

Schlussendlich ist dieser neue Kalte Krieg in strategischer Hinsicht für Israel ein Traum, der sich erfüllt. Was könnte besser sein, als dass Israel und die Araber einen gemeinsamen Feind im Iran haben? Und was könnte besser sein, als dass die USA und Israel einen gemeinsamen Feind haben? Ohne die anhaltende wirtschaftliche, militärische und diplomatische Unterstützung der USA ist es fraglich, ob sich Israel in seiner jetzigen Form wird halten können. Ich muss hierbei nur an Efraim Inbar denken, der bereits 2004 feststellte: „Es gab in Israel ein Gefühl, dass sich wegen des Endes Kalten Krieges die Beziehungen zu den USA abkühlen würden und wir einen neuen Leim für das Bündnis bräuchten werden. Und dieser neue Leim war der radikale Islam; Iran war radikaler Islam.“

Islamische Zeitung: Erlauben Geografie und Geopolitik alternative Szenarien, in denen der Nahe Osten oder die muslimische Welt nicht den globalen Frontverläufen von China versus USA folgen? In den letzten Jahren schlugen einige vor, dass das osmanische Modell helfen könnte…

Dawud Stewart Hurrell: Es ist Vorsicht angebracht, wenn wir das regionale Kräftespiel des Nahen Ostens durch die Linse der amerikanisch-chinesischen Rivalität sehen. Zweifelsohne hat China Interessen im Nahen Osten, aber sie sind ökonomischer Natur. Es will sich im Notfall Zugang zu verfügbaren Energiereserven sichern, trotz der diplomatischen Barrieren wie beim Iran. Hierzu gehört auch der Zugang zur arabischen Welt als ein Absatzmarkt. China hat sich den Nahen Osten erschlossen, wo es dank seiner geringeren Kosten einen großen Marktanteil kontrolliert. Hinzu kommen bedeutsame Infrastrukturprojekte [wie der Bau großer Eisenbahnlinien]. Außerdem führt Peking in erheblichem Maße Waffen in die Region aus.

Auf strategischer Ebene ist China im Wesentlichen abwesend. Die Chinesen können es sich einfach nicht leisten, durch ihre Politik in eine Konfrontation verwickelt zu werden, die zu einem Zusammenstoß mit den USA führt. Am Ende braucht Peking – trotz seiner Kontrolle von US-Schatzbriefen in Höhe von drei Billionen Dollars und der US-Schulden – die USA mehr, als sie China brauchen. Amerika hat China, nachdem es von Deng Xiao-Ping geöffnet wurde, durch Investitionen und Auslagerung von Arbeitsplätzen aufgebaut. Es wäre ein Leichtes, dass seine verletzliche Exportwirtschaft beschädigt werden würde.

Man könnte hier auf die chinesische Unterstützung für den Iran und Syrien verweisen – entweder militärisch durch Waffenlieferungen oder diplomatisch in der UN. Aber es ist wichtig sich daran zu erinnern, dass die Hilfe Chinas defensiv ist, und nicht aggressiv. Mit anderen Worten, China verteidigt den Iran und Syrien nur, wenn der Preis dafür nicht zu hoch ist. Peking verteidigt seine Verbündeten vielleicht genauso wie die Sowjets Kuba „verteidigten“; im Interesse ihrer Glaubwürdigkeit. Trotz Waffenlieferungen und diplomatischer Rückenstärkung feuerte Moskau offiziell niemals einen Schuss für seinen kubanischen Verbündeten ab (der Abschuss des U2-Spionageflugzeugs geschah auf Befehl eines eigenmächtig handelnden Generals).

Russland und China sind Großmächte, die Respekt und Einfluss wollen. Sie verabscheuen es, dass die USA auf ihren Interessen und Alliierten herumtrampeln. Das bedeutet aber nicht, dass sie die Fähigkeit hätten, die Verhältnisse umzudrehen, wenn etwas schief geht. Als Beispiel muss man nur die Verschiebung der chinesischen und russischen Positionen in der Libyenkrise betrachten; oder die Veränderung der Haltung Moskaus im Falle Syriens. Die USA betreiben aktive Geopolitik gegenüber bestimmten Staaten und Regionen, während China im Wesentlichen reaktionär handelt. Dies könnte sich in einem oder zwei Jahrzehnten ändern und hängt davon ab, wie sich der Aufstieg Pekings entwickelt. Aber heute ist China bestenfalls eine zweitrangige Macht. Es muss seine eigenen Angelegenheiten in Ordnung bringen, bevor es sich in den Hinterhöfen anderer einmischt.

Das osmanische Modell ist spannend. Es sieht eine supranationale politische Organisation vor und hatte die Kapazität, eine Vielfalt unterschiedlicher Völker friedlich zu regieren. Es ist definitiv eine Lösung, wie Mehmet Maksudoglu in seinem Buch klarmachte. Aber hier geht es um eine Frage, wie solch ein politischer Prozess heute entstehen könnte.

In einer Zeit, in der Gebietserweiterungen illegal sind und mit international sanktionierten Gegenoffensiven beantwortet werden, ist die militärische Option für keinen Staat haltbar. Wegen der intensiven Kombination aus Nationalismus sowie ethnischen und religiösen Unterschieden, durch die der Nahe Osten gekennzeichnet wird, ist es zweifelhaft, ob seine Bevölkerungen freiwillig Teil eines Gemeinwesens werden, das größer ist als sie selbst. Frühere Versuche einer arabischen Union sind gescheitert. Man könnte sich vorstellen, dass zukünftig etwas Vergleichbares zur EU entstehen könnte. Solche eine „Union“ müsste sich jeder spezifischen nationalistischen Identität entledigen, was zu sofortigem Widerstand führen würde. Eine „Union“ der osmanischen Art müsste auf dem Islam als gemeinsamem Faktor beruhen, indem sie verschiedene Staaten und Regionen vereint. Ansonsten dürfte sie scheitern. Der Antrieb dazu könnte aus einer wirtschaftlichen Kooperation kommen, wie es im Falle der Europäer die Montanunion für Kohle und Stahl aus den 1950er Jahren war. Möglicherweise mit der Türkei an ihrer Spitze, sobald der Nahen Osten sich erfolgreich industrialisiert, um seine Verletzlichkeit als Ansammlung von Ländern der Rentenökonomie zu beenden.

In Europa kam es zu dieser Solidarität aber erst nach einer lähmenden Serie von Kriegen, die von 1914-1945 dauerten. Sie brachen den Kampfgeist Europas und zwangen es zur Kooperation, um den Kontinent aufbauen zu können. Daher bleibt es zweifelhaft, ob ein ähnliches Projekt für die arabischen Welt erfolgreich wäre. Folgen wir Henry Kissingers Beschreibung, wonach die dortigen Machtverhältnisse vergleichbar zu denen sind, wie sie im Europa des 17. Jahrhunderts herrschten, dann sehen die Dinge nicht vielversprechend aus.

Dies vorausgesetzt ist die Türkei der stärkste Staat des weiteren Nahen Ostens. Seine Kontrolle der Oberläufe von Euphrat und Tigris bedeutet, dass es dieses Monopol über das lebensspendende Wasser für den Aufbau eines beispiellosen politischen Einflusses nutzen könnte. Das geplante – mittlerweile wahrscheinlich eingestellte – Projekt einer Wasserpipeline nach Israel unterstreicht diese Tatsache.

Würden wir nach einem historischen Beispiel suchen, dann ließe sich vielleicht in der Periode der Kämpfenden Reiche Chinas von 400-220 v.u.Z. ein Hinweis darauf finden, wie sich erneut Einheit im Nahen Osten finden ließe. Die sieben kämpfenden Reiche waren mehrheitlich han-chinesisch. Im Nahen Osten dienen Islam und Arabisch als gemeinsame Faktoren.

Wenn alles andere scheitert, scheint militärische Macht der Schlüssel zur Vereinigung getrennter und unabhängiger Regionen zu sein. Obwohl es logisch wäre, dass gemeinsame Sprache, Religion und Kultur die treibenden Kräfte für eine politische Einheit sind. Historische oder theoretische Lösungen sind einfach, aber die praktischen Mittel ihrer Umsetzung sind fast unmöglich, solange kein Erdbeben das Haus zum Einsturz bringt. Also, wenn Sie „Osmanen“ sagen, denke ich an Janitscharen…

Islamische Zeitung: Offenkundig steht Europa – spätestens seit der Krise seiner künstlichen Einheitswährung – am Rand. Was sind die wichtigsten Regionen unserer Zeit?

Dawud Stewart Hurrell: Seit Ende das Kalten Krieges steht Europa immer mehr abseits; eine natürliche Folge des Zusammenbruches seines feindlichen und nuklearen Nachbarn sowie durch den „Aufstieg des Restes“. Während der 1990er brachten die Jugoslawien-Kriege Europa – oder einen Mangel an Europa – zurück in den Blickpunkt.

Aber es waren Ereignisse anderswo, die drängender waren und drohten, die Sicherheit der Kernregionen zu unterminieren – der Zusammenbruch der ehemaligen Sowjetunion, die Öffnung der zentralasiatischen Länder, das irakische Fiasko und die indisch-pakistanischen Spannungen. Diese Entwicklungen verschoben die Aufmerksamkeit vom Nordatlantik in Richtung Asien und Pazifik.

Obamas Hinwendung nach Asien kann als Beginn einer Phase „nach dem Terror“ in Amerikas Generalplan gedeutet werden. Der Aufstieg Chinas ist natürlich ein Modewort, aber er ist fragwürdig, um es vorsichtig zu sagen. Man könnte den logischen Schluss ziehen, dass acht- bis zehnprozentiges Wirtschaftswachstum pro Jahr und parallel dazu wachsende Militärausgaben in ein bis zwei Jahrzehnten eine regionale oder gar globale Herrschaftsmacht hervorbringen werden. Und doch bedeutet diese Logik nach Ansicht von Luttwak, dass sich China selbst eine Falle stellt. Sein wachsendes Durchsetzungsvermögen in der Region schafft neue Feinde, die es blockieren werden, was den Amerikanern in die Hände spielt. In den Augen der USA sollte China ein billiges Erzeugerland bleiben, dass seine Erträge zurück an die USA verleiht, um den Dollar zu stützen und Inflationsraten gering zu halten.

Die Vorstellung, dass die Globalisierung eine rivalisierende Seemacht 6.000 Meilen westlich von Kalifornien hervorbringt – mit schätzungsweise deutlich höheren Fähigkeiten, als sie das imperiale Japan jemals hatte – ist in relativer Hinsicht ein Alptraum. Die enorme Geografie der asiatisch-pazischen Region mit ihren Inseln, Archipelen und riesigen Entfernungen macht ein vorrangiges Setzen auf Seemacht zur Projektion von Macht notwendig. Dies übersetzt sich in die Anschaffung fortschrittlicher U-Boote und oberseeischer Fahrzeuge, um das Machtgleichgewicht zu halten oder zu verändern. Das trifft auch auf die Verbesserung der Luftwaffe zu, die zu einem unverzichtbaren Bestandteil jeder Marine wurde. Um Kissinger erneut zu zitieren: Die internationale Ordnung Asiens erinnert mehr an europäische des 19. Jahrhunderts als die nordatlantischen Staaten im 21. Jahrhundert.

Diese Nationen sehen sich trotz ihrer ökonomischen Bindungen als strategische Rivalen. Der intensive Nationalismus, Ärger über historische Ungerechtigkeiten und Gebietsstreitigkeiten schufen eine Lage, die mit größter Vorsicht zu behandeln ist. Paradoxerweise macht die US-Präsenz die Dinge schlimmer, da sie schwache Länder wie Vietnam oder die Philippinen ermutigt, sich bei Streitigkeiten gegen China zu stellen und sich lauter und kriegerischer zu verhalten, als sie dies bei schwächeren Nachbarn tun würden.

Es bleibt allerdings vollkommen unklar, wie weit die USA gehen würden, um ihre Verbündeten tatsächlich zu verteidigen. Die asiatisch-pazifische Strategie ahmt die nahöstliche nach und erleichtert Risiken für die Sicherheit. Ein Bedarf, der von den USA gefüllt werden kann. Von sehr lukrativen Verträgen zur maritimen Bewaffnung einmal ganz zu schweigen. Allerdings gibt es hier eine erhebliche Konkurrenz der Europäer und Russlands mit seinen verlässlichen U-Booten. Diese sind die gezogenen Schwerter in einer solchen Angelegenheit.

Der Streit zwischen China und Japan um die Senkaku-Inseln ist ein „Siedepunkt“, der vielleicht zu einem militärischen Konflikt führen könnte. Wie es auch ausgeht, diese Entwicklungen stimulieren das maritime Wettrüsten in der Region. Die Amerikaner betreiben ein kluges Spiel. Solange inner-asiatische Streitigkeiten anhalten, ist China gezwungen, seine Energien auf regionaler Ebene zu fokussieren. Das schadet seinen globalen Plänen und erlaubt es den USA, Halt in der Region zu finden. Nach einer Beobachtung des niederländisch-amerikanischen Geopolitikers Nicholas Spykman ist es besser, ein funktionierendes Mitglied eines europäisch-asiatischen Machtgleichgewichts zu sein, um die Entwicklungen innerhalb handzuhabender Grenzen zu kanalisieren, anstatt abwesend oder isolationistisch zu sein. Spykman schrieb dies 1943 und dachte dabei an das imperiale Japan; die Parallelen sind eindeutig.

Jenseits von Ostasien kommt es zu einer Verbesserung der indisch-pakistanischen Beziehungen. Pakistan gewährte Indien vor Kurzem den Status einer meistbegünstigten Nation. Afrika und Lateinamerika bleiben bis auf Weiteres die wirtschaftlichen Jagdgründe für die Großmächte und Russland betreibt immer noch seine schleichende Energiediplomatie. Moskaus jüngste Ankündigung, dass die Bauarbeiten an der South-Stream-Gas-Pipeline durch das Schwarze Meer 2013 beginnen werden, ist ein kleiner, aber teurer Sieg.

Islamische Zeitung: Lieber Dawud Stewart Hurrell, vielen Dank für das Gespräch.

Hurrell lehrt Geopolitik am Dallas College of Leadership in Kapstadt. Seine Artikel und Analysen finden sich auf www.geopoliticus.org.

„IZ-Begegnung“ mit dem Kriminologen Charles A. von Denkowski über die fehlende Erfassung anti-muslimischer Straftaten

(iz). Spätestens seit dem 11. September verzeichnen die deutschen Muslime regelmäßig die verschiedensten Formen anti-mus­­limischer Straftaten. Von Pöbeleien, über Schmierereien, Wandalismus, bis zu tätlichen An­griffen und Brandstiftungen, all das ist leider Realität in unserem Land. Um das Problem zu lösen, braucht es aber neue Kategorien bei der Erfassung dieser Kriminalität, meint der Kriminologe und Polizeiwissenschaftler Charles A. von Denkowski im Gespräch mit der IZ.

Er betreibt die Hannoveraner Firma Crime Prevention Solutions, welche Kriminalprävention und kriminologische Forschung sowie kriminalitätsbezogene Beratung als Dienstleistungen anbietet. Nach dem 11. September leistete er als kriminalpolizeilicher Ermittler im Bereich der politisch motivierten Kriminalität Dienst. Neben seiner unternehmerischen Tätigkeit lehrt praktizierende Katholik und Experte an zwei ­Universitäten.

Islamische Zeitung: Seit mindestens zehn Jahren verzeichnen muslimische Organisationen und Dachverbände stetig auftretende Übergriffe gegen Muslime beziehungs­weise gegen Einrichtungen wie Moscheen. Warum werden diese Handlungen nicht als eigenständige Kategorie bei Straftaten erfasst?

Charles A. von Denkowski: Es fehlt der politische Wille. Das wäre ohne Weiteres möglich, da antisemitisch motivierte Delikte seit rund zehn Jahren auch erfasst werden. Im so genannten Definitionssystem politische motivierte Krimina­lität, Kriminalpolizeilicher Meldedienst (KPMD), könnte man das, da es eine Angelegenheit von Bund und Ländern ist, von Unterkommission Staatsschutz (K-Staatsschutz) der Bund-Länder-Arbeitsgruppe Kriminalpolizei (AG Kripo) des Bundesinnenministeriums organisieren lassen, sodass die Länder entsprechende Fälle statistisch erfassen und der Bund eine zentrale Datensammlung aufbereitet. Man muss sich dabei in Bund und Ländern auf eine gemeinsame Kate­gorie für die Phänomene „Muslimfeindlichkeit“ oder „Islamfeindlichkeit“ verständigen, damit die kriminalstatistische Erfassung bundesweit einheitlich erfolgt.

Wir hätten dann aber nur Daten im so genannten „Hellfeld“ der ­Kriminalität. Allerdings kennen wir die Belastung im „Dunkelfeld“, der Anzahl der nicht bei der Polizei angezeigten beziehungsweise von nicht im KPMD-registrierten ­Delikte auch mit so einer Statistik nicht. Wir bräuchten zusätzlich kriminologische Dunkelfeld-Forschung über die Opferwerdung von Muslimen durch islamfeindliche oder muslimfeindliche motivierte Kriminalität.

Islamische Zeitung: Wie viele gibt es? Könnten Sie diese beziffern?

Charles A. von Denkowski: Nein, aufgrund der mangelnden Datenquellen und der völligen Unerforschtheit dieses Phänomenbereichs kann ich das nicht.

Islamische Zeitung: Was wäre von muslimischer Seite für die Erfassung solcher Straftaten nötig? Bräuchten diese ein Netzwerk, das sie erfasst?

Charles A. von Denkowski: Letzteres klingt interessant. Aber es würde dennoch eine zentrale Erfassung benötigen. Wie gesagt: Es gibt in der Kriminalitäts­statistik keine Kategorie dafür, in der ­solche Delikte spezifisch erfasst werden; sondern nur als entsprechend „fremden­feindlich“ motiviert. Es gibt eben keine Kategorie „islamfeindlich“ oder „muslim­feindlich“, ich möchte dieses erneut betonen. Zur Illustration ein Beispiel:

Stellen Sie sich vor, dass eine deutsche Rechtsanwältin, die Muslimin ist – konvertiert oder deutsche Staatsbürgerin mit Migrationshintergrund –, angegriffen oder mit einem Schimpfwort im Kontext des Wortes „Muslimin“ beschimpft wird und dann Anzeige erstattet. Weil sie keine Ausländerin ist, ergibt die Einstufung dieser Strafanzeige als „fremdenfeindlich“ keinen statistischen Sinn. Der Aussagegehalt des KPMD-PMK wird mit solche Fällen völlig verfälscht. Es finden sich darin keine muslimfeind­lich motivierten Delikte. Und doch werden sie angezeigt und diese Anzeigen erfahren auch eine Einstufung. Nur eben völlig unspezifisch. Das ist weder sachge­recht und es trifft nicht die Motivation mancher Täter.

Noch einmal: Es gibt nach dem 11. September 2001 ein gesellschaftliches Phänomen der öffentlichen Islamkritik, aber auch muslimfeindliche Straftaten, über die einige Moscheen ­Fallmeldungen gesammelt haben. Doch das reicht nicht aus.

Islamische Zeitung: Wo sehen Sie den Übergang zum Verhalten? Wann ist die Grenze erreicht, ab der man von antimuslimischen Straftaten sprechen kann?

Charles A. von Denkowski: Diese Grenze definiert unser Strafgesetzbuch. Verhalten, welches kriminalisiert ist, stellt eine entsprechende Straftat dar, eben eine Handlung von strafwürdigem Unwertge­halt. Von der Meinungs- oder Kunstfrei­heit rein rechtlich gewährleistete und daher zulässige Islamkritik grenzt sich – wie alle Kritik an Religionen – von Straftaten­beständen ab.

Islamische Zeitung: Nun gibt es ja im angelsächsischen Raum Konzepte wie „hate speech“ oder „hate crime“…

Charles A. von Denkowski: Würden wir Muslimfeindlichkeit unter „Hasskriminalität“ erfassen, dann müssten wir auch Angriffe auf Buddhisten erfassen. Das ist wiederum nicht spezifisch genug. Mir ist von in Deutschland erfolgenden Angriffen auf öffentlich als solche erkennbaren Buddhisten nichts bekannt. Sicherlich kann ein Mönch in safrangel­ber Robe öffentlich beleidigt werden, doch Angriffe auf Tempel sind mir nicht bekannt, dafür aber Angriffe auf Moscheen und das Senden von ­Hassbriefen und Drohschreiben an diese. Sie stehen meiner Ansicht nach im Kontext der nach dem 11. September 2001 politisch von einigen Kreisen – übrigens aller Sparten, so genannter linker und rechtskonservativer Interessengruppen – immer wieder in Schüben initiierten Islamdebatte, welche pseudowissenschaftlich geführt wird und in Wahrheit gruppenbezogen menschenfeindlich motiviert ist. Zulässige und für unsere gesellschaftliche Entwicklung notwendige Religionskritik sieht dagegen anders aus, als den Begriff „Kopftuchmädchen“ zu verwenden, wie ein bekannter ehemaliger Berli­ner Finanzsenator es in einem seiner pseudowissenschaftlichen Werke tat, was schlichtweg menschenfeindlich und die Würde dieser Frauen verletzend ist.

Islamische Zeitung: Ließe sich denn eine Entwicklungskette, beispielsweise bei einem Internetblog, nachzeichnen, wo „hate speech“ in tatsächliche Straftaten mündet. Viele Muslime in Deutschland sind besorgt, dass dieser Übergang hier viel zu selten kritisch beleuchtet wird…

Charles A. von Denkowski: Die verfassungsrechtlich garantierte Grauzone im Rahmen von Artikel 5 unseres Grundgesetzes, ist – bildlich gesprochen – ein Teil unserer Meinungsfreiheit. Diese werden wir – manchmal leider – ertragen müssen. Das zeichnet unseren Staat aus, beispielsweise im Gegensatz zur DDR. Oder zu den heutigen Verhältnissen in China, Nordkorea oder dem Iran…

Islamische Zeitung: Es besteht aber in Deutschland nicht nur bei Muslimen die Vermutung, dass es ein relativ ungehindertes Ausufern einer bestimmten Rhetorik gibt…

Charles A. von Denkowski: Ich stimme Ihnen zu, dass ausufernde Islamkritik der gesellschaftlichen Kohäsion keinesfalls förderlich ist. Hier kann eine Art geistiger Brandstiftung geschehen. Sie ist aber nicht zu bestrafen, weil wir sonst keinen freiheitlichen Staat mehr haben. Es ist unheimlich wichtig, das auszuhalten, und mit Hilfe von Stellungnahmen deutscher Muslime dagegen vorzugehen. Es sollte sich zudem ein Bund muslimischer Polizeibeamter gründen, der nach Außen hin vertritt, dass auch Muslime in der Polizei tätig sind und sich zu solchen Dingen dann fachlich – politisch neutral – äußern.

Diese Beispiele zeigen: Die deutsche muslimische Community ist gefordert, sich sachlich im Rahmen des Rechts als Betroffene zu zeigen und möglichst sachlich – das ist zu betonen – Stellung zu beziehen. Wir haben ein großes Spektrum an Meinungsfreiheit und ein ­solches Verhalten ist auszuhalten, solange es keine strafrechtlichen Grenzen berührt sind. Dass dieses konsequent religiösen Menschen sehr schwer fallen mag, verstehe ich. Aber das Aushalten dieser nicht strafrechtlich relevanten Inhalte der Islamdebatte – etwa die widerlichen Karikaturen vom heiligen Propheten Mohammed – es weist auf den Status der Integration auch strenggläubiger Muslime hin. Sie sollten daher friedlich dagegen demonstrieren und Medienarbeit betreiben. Diese könnte die Urheber ­dieser Karikaturen in sachlicher Weise als für unser Zusammenleben als nicht förderlich darstellen, da der Glaube einer Minderheit durch diese Karikaturen angegriffen wird. Folgt man Gottes Idee für den Umgang mit solchen Herausforderungen an uns Gläubige, so sollte ­diesen Feinden des Glaubens gegenüber friedlich und mit Sanftmut reagiert werden. Das allein ist im Sinne unseres einen abrahamitischen Gottes.

Islamische Zeitung: Lässt sich das Milieu der Straftäter eindeutig einordnen? Ich habe erfahren, dass ein deutsch-arabischer Student wegen seines Palästinensertuches ein paar Häuserblocks von so genannten anti-deutschen Linken gejagt wurde.

Charles A. von Denkowski: Das ist ein sehr interessanter Fall und ein weiterer Grund, warum wir die erwähnte Dunkelfeld-Forschung brauchen. Es handelt sich bei Muslimfeindlichkeit um ein sehr differenziertes Kriminalitätsphänomen. Ich werde meinen Studierenden dazu auch damit verwandte Themen für Bachelor-Arbeiten anbieten und wenigs­tens auf dieser Ebene mittelbar Forschung betreiben. Doch die deutsche Kriminologie sollte sich über den Weg von Promotionsvorhaben und Forschungsprojekten der Muslimfeindlichkeit und ihren verschiedenen Tätertypologien annehmen. Auch aus dem so genannten linken politischen Bereich heraus, wenn man die Begriffe links und rechts benutzen möchte, ereignen sich durchaus Straftaten gegen Muslime. Genauso wie es sein kann, dass ein sich politisch links verortender, sehr palästinaorientierter Mensch jemanden mit einem Davidstern in der U-Bahn angeht, weil dieser angeblich für die so genannte zionistische Politik Isra­els stünde.

Fazit: Wir haben hier eine sehr differenziert zu betrachtende politische Situation und eine Auseinandersetzung divergierender politischer Meinungen, die teilweise mit Straftaten ausgetragen wird. Daher brauchen wir, ich wiederhole es erneut, eine differenzierte Erfassung muslimfeindlicher Delikte und zudem eine kriminologische Erforschung dieses Phänomens. Hier könnte man analysieren, mit welcher Tatmotivation Täter vorge­hen und aus welcher politischen Richtung das kommt. Es könnte sich auch um gruppenbezogene Menschenfeindlichkeit ohne bestimmten politischen Einschlag handeln. Es sind also diverse Tätermotivationen denkbar.

Islamische Zeitung: Stichwort Bonn, bedauerlicherweise gibt es auch auf muslimischer Seite radikale Gruppierungen und Einzelpersonen. Schaukeln sich hier die Extreme beider Seiten gegenseitig auf?

Charles A. von Denkowski: Seit 9/11 meine ich, genau diesen Aufschaukelungseffekt beobachten zu können. So etwas gab es zuvor nicht. Die Attraktivi­tät des Salafismus für Jugendliche – teils für solche mit Migrationshintergrund, teils für deutschstämmige – ist neu. Das ist eine gefährliche Projektionsfläche, da der Weg in den Dschihadismus drohen kann. An dieser Stelle sind die muslimischen Verbände gefragt, mit kre­ativer ­Jugendarbeit solche von einer Radikalisierung gefährdeten Jugendlichen anzu­spre­chen. Dazu muss ein den mit zumeist älteren Herren besetzten Vorständen von Moscheegemeinden ein Um­denken erfolgen.

Dazu ein Beispiel: Ich habe gerade mit meinen Studenten des von mir an der Universität Vechta gelehrten Seminars Islam und Integration eine Moschee der Ditib besucht und dort sehr intensive, gastfreundliche Aufnahme sowie eine intensive Führung sowie theologische Einführung in den sunnitischen Islam erfah­ren. Wir konnten unsere gegensätzlichen religiösen Positionen, aber auch Gemein­samkeiten, sehr differenziert darstellen. Das umfasste auch, nur so ist Wissenschaft möglich, höflich gestellte kritische Fragen. Es waren Christen und ­Atheisten unter den Studierenden dabei – ich selbst bin praktizierender Katholik – und eben unsere muslimischen Gastgeber. Wir haben alle unsere Identität bewahrt, und trotzdem konnten wir uns über Gemein­samkeiten und Unterschiede verständigen. Das ist möglich. Auch sachliches Hinterfragen strenger Religionsauffassungen aller Konfessionen ist zum ­einen grundgesetzlich gestattet, zum anderen für unseren gesellschaftlichen Diskurs wichtig – denn nicht nur Gläubige ­leben hier miteinander. Insoweit war dieser Besuch ein voller Erfolg. Aber: Ich stellte fest, dass es an der Jugendarbeit mangelte. Das ist verbesserungswürdig.

Die islamischen Verbände müssen auf die jugendbezogenen Werbestrategien der Salafisten, etwa um Pierre Vogel, reagieren. Man könnte von seiner Rekrutie­rungstaktik auch ein wenig lernen. Denn muslimische Jugendliche anzusprechen können nicht nur außerhalb der Gemein­den laufende Projekte, wie etwa JUMA in Berlin, leisten. Jugendarbeit ist zuvör­derst eine Aufgabe der Moscheegemeinden. Hier stellt sich die Frage an die muslimischen Verbände in Deutschland! Mein Rat ist – und meine Firma steht hier auch gerne pro bono als Consulting­büro zur Unterstützung der Umsetzung bereit: Die muslimische Jugendarbeit muss zum einen in die deutsche nicht-muslimische Gesellschaft hinein ausgerichtet sein. Zum anderen muss sie ein nachhaltig bindendes Angebot schaffen, um zu verhindern, dass jugendliche Muslime sich an einem aufgrund seiner Radi­kalität und seiner Subkulturcodes extre­mistischen Islamverständnis, etwa an dem der Salafisten, orientieren. Die Jugendlichen, die im Islam Halt suchen, müssen dazu zuerst von den Moscheen vor Ort angesprochen werden, um sie dort sinnvoll zu integrieren. Dazu bedarf es ausgebildeter Jugendleiter – in jeder Moschee! Jede katholische oder evangelische Gemeinde, so denn junge Menschen in ihrer Gemeinde leben, betreibt bewusst Jugendarbeit. Auch das Internet ist wichtig – jede Moschee muss eine Webseite (auch in deutscher Sprache!) haben, die auch Jugendliche gezielt anspricht.

Islamische Zeitung: Was können betroffene Muslime in Ermangelung der erwähnten Erfassung antimuslimischer Straftaten jetzt tun?

Charles A. von Denkowski: Zuerst einmal Strafanzeige erstatten… Ich denke schon, dass die islamischen ­Verbände – weil nicht abzusehen ist, ob die Erfassung des KPMD PMK geändert wird – eine zentrale Erfassung zunächst intern initiieren sollten. Man sollte aber aufpas­sen, sich in der Außenwahrnehmung nicht in eine Opferrolle zu manövrieren. Wird das zu sehr postuliert, kann man sich auch öffentlich zum Opfer ­stilisieren, dem der Staat nicht helfen will. Davor warne ich!

Vor allem im letzten Jahr waren immer wieder muslimfeindliche Vorfälle Gegenstand von Medienberichten. In Berlin war dies im letzten Jahr sehr extrem, bedenkt man die Angriffe auf die am Columbiadamm befindliche Moschee. Ich denke, dass Muslime auf jeden Fall Anzeige erstatten müssen. Wir brauchen zudem die Dunkelfeld-Forschung; auch ohne reformierte KPMD-PMK-Statistik, wenn es nicht anders geht. Hier ließe sich überlegen, ob nicht sehr wohlhabende Muslime Kriminologen unterstützen, um ein solches Forschungsprojekt durch Spenden zu ermög­lichen. So könnte man sich dem Phäno­men auch mit den Mitteln der qualitati­ven Sozialforschung annähern, um den Kontext der Opferwerdung und diese Vorfälle im Allgemeinen zu verstehen. Es gilt zu fragen: Wie sieht die Täter-Opfer-Konstellation bei Geschlecht und Alter aus? Handelte es sich um Alltagssituationen? Erhielten Moscheen Hassbriefe? Wenn ja, welche Inhalte weisen diese auf? Wurden Scheiben eingeschlagen? Wurden muslimische Passanten, beispielsweise beim Aussteigen aus ­einem Bus, durch Anrempeln oder feindliche Bemerkungen angegangen?

Meine Firma steht für die Beratung des Forschungsdesigns eines solchen Projektes gerne pro bono zur Verfügung.

Islamische Zeitung: Lieber Herr von Denkowski, wir bedanken uns für das Gespräch.

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Widerspruch: Die Türkei muss sich auch im Inneren auf das osmanische Erbe besinnen

Jenseits von Folklore und strategischen Absichten in der Außenpolitik hat die osmanische Hinterlassenschaft bisher ­keine Auswirkungen für die türkische Innenpolitik. Die Folge ist das starre Festhalten am Nationalismus.­ (Today’s Zaman). […]

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Niemand sollte sich die Gelegenheit entgehen lassen, dass Gute im Gesicht der anderen zu sehen

(iz). Die unausweichliche Schwerkraft von Alltag und Routine ist ein zweischneidiges Schwert. Man soll sie nicht verachten; würde jeder Handgriff, jede notwendige Verrichtung etwas ­Neues und Aufregendes sein, wären wir […]

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Heimunterricht: Elterliche Freiheit bleibt bis auf Weiteres nachrangig

Als beinahe einzige Demokratie der westlichen Welt ist der Heimunterricht in Deutschland untersagt. Das Gesetz, in dem er unter Strafe gestellt wird, ist ein Überrest der Nazizeit. (iz). Allen verbesserten […]

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„Die Tinte ist getrocknet“

„Bei dem deutlichen Buch! Wir haben es wahrlich in einer gesegneten Nacht herabgesandt – Wir haben ja (die Menschen) immer wieder gewarnt –, in der jede ­weise Angelegenheit einzeln entschieden […]

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Die IZ als Reiseführer. Auf dem Weg durch Ostdeutschland

(iz). „Reisen bildet“ – diese Maxime gilt auch etwas in der islamischen Lebenspraxis. Zu einem umfassenden Bild deutscher Landschaften gehört natürlich der Besuch des Ostens. Nur, viele Muslime scheu­en sich […]

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