„IZ-Begegnung“ mit dem Juristen und Brancheninsider Taris Ahmad über Anspruch und Wirklichkeit des „Islamischen Finanzwesens“

„Das islamische Bankwesen ist wie ein Schwein, dass gewissenhaft nach den Prinzipien und Regeln der Scharia geschlachtet wurde.“ (Schaikh Muhammad Tawfiq)

„Die Folge ist, dass die Produkte der ‘Islamic Finance’ wohl gleichermaßen den Armen wie der Umwelt schaden.“ (Taris Ahmad)

(iz). Seit seiner Einführung ist das vermeintliche „Islamische Finanzwesen“ (zu dem nicht nur der Bankensektor, sondern auch andere „islamisierte“ Variationen der kapitalistischen Geldwirtschaft zählen) die Standardantwort aus dem Diskurs des politischen Islam in Sachen Ökonomie. Unab­hän­gig davon, dass eine Ablehnung ­unter vielen Gelehrten wächst, melden sich auch immer wieder Brancheninsider mit kritischen Beiträgen zu Wort.

Angesichts diverser Überschneidungen zum konventionellen Banking – allen voran das fraktionelle Reservebanksystem – kommen immer mehr Muslime zu dem Schluss, dass es sich dabei um keine nachhaltige Alternati­ve handelt.

Wer weiß beispielsweise, dass ­Kredite für die Renovierung der Haramain – Mekka und Medina – durch die so genannten „Islamischen Banken“ mitunter auch auf dem konventionellen Finanzmarkt angeboten wurden? Oder, dass es in Sachen der vermeintlichen „Islamic Finance“ gar ein regelrechtes „Fatwashopping“ gibt?

Hierzu sprachen wir mit dem Juristen und Brancheninsider Taris Ahmed, der als Anwalt einer internationalen Kanzlei im saudischen Riad arbeitete. Der Jurist machte dabei seine eigenen Erfahrungen mit diesem, vermeintlich islamischen Finanzinstrument.

Islamische Zeitung: Lieber Taris Ahmad, Sie sind Anwalt und haben unter anderem als Wirtschaftsanwalt auf der Arabischen Halbinsel Erfahrungen mit dem so genann­ten „Islamic Banking“ gemacht. Wie sahen diese aus?

Taris Ahmad: Vor meinem Wechsel nach London, war ich zwei Jahre lang bei [der Kanzlei] Allen & Overy in Saudi Arabien tätig, wo ich auch die Gelegenheit hatte, an einem Lehrbuch zum Thema mitzuwirken.

Islamische Zeitung: Was ist Islamic Finance?

Taris Ahmad: Der Begriff ist ein wenig irreführend. Es gibt im Prinzip „Equity Finance“ [Finanzierung mit Eigenka­pital] und „Debt Finance“ [schuldbasierte Finanzierung mit Fremdkapital]. Equity Finance kann im Groben als ohnehin islamkonform betrachtet werden. Denn nach islamischen Recht ist zunächst erst einmal alles erlaubt, was nicht ausdrücklich verboten ist. Bloss niemand käme auf die Idee, dies „islamisch“ oder „Islamic Finance“ zu nennen.

„Islamic Finance“ ist der Versuch, Debt Finance scharia-konform zu strukturieren. Im islamischen Recht gibt es meines Wissens jedoch nur eine Art von Schuld; nämlich einen Qard Hassan, also ein zinsloses Darlehen.

Islamische Zeitung: Wie sieht das konkret aus?

Taris Ahmad: Es gibt eine Vielzahl von Verträgen und jeder Vertrag ist anders. Grob gesprochen wird jedoch versucht, Geldrückflüsse zu schaffen, die ­denen von Zins ähneln. Ob diese Zins sind oder nur so ähnlich wie Zins, wird gemeinhin debattiert und hängt vom Kleingedruckten ab.

Ein Kritikpunkt ist, dass sich der ­Profit am LIBOR [der täglich festgelegte Referenzzinssatz im Inter­banken­geschäft] orientiert und ein Verlustausgleich vereinbart wird, womit man einen zinsähnlichen Geldrückfluss geschaffen hat.

Islamische Zeitung: Eine der vorgetragenen Kritikpunkte am „Islamic Banking/Islamic Finance“ ist die Zweckentfremdung oder Verzerrung traditioneller islamischer Vertragsformen, die, ihres eigentlichen Inhalts entleert, als Grundlage für bestimmte Konstrukte – wie den Hypothekenbanken – dienen. Wie würden sie dies als Jurist bewerten?

Taris Ahmad: Commodity-Murabaha-Verträge beispielsweise waren bei den frühen muslimischen Juristen in der heutigen Form, außer als unzulässige Hila [arab. Rechtskniffe; Versuche, das Recht, mithilfe des Rechts zu umgehen], unbekannt. Unorganisierte Tawaruk wurden von der schafi’itischen ­Rechtsschule erlaubt, weil sich die Absicht des Investors dem Richter entzieht und dieser lediglich mit zwei rechtmäßigen Verträgen konfrontiert wird. Organisierte Tawaruk ist jedoch eindeutig verboten.

Aber, das islamische Finanzrecht dreht sich nicht nur um Zinsen. Das Zinsverbot ist nur eine, der relevanten Scharia-Normen. Das islamische Wirtschaftsrecht ist viel komplexer. Zum Beispiel gibt es noch die Konzepte von „Gharar“ und „Salam“ oder die Probleme mit Vertragsstrafen. Wichtig ist auch zu bemerken, dass „Islamic Finance“ sehr heterogen ist. Auch diese Industrie hat ihre „alternativen Banker“, die tatsächlich methodisch rigide Produkte anfertigen wie zum Beispiel das Al-Ansar Eigenheimprojekt in Manchester.

Islamische Zeitung: Woher kommt die große Nachfrage?

Taris Ahmad: Es gibt viel Kapital, jedoch ist der Zugang dazu für die Mehrheit versperrt. Der normale Unternehmer braucht Kapital, um sich auf dem Markt zu etablieren; genauso wie der normale Haushalt Kapital braucht, um sich ein Eigenheim zu finanzieren. Banken spielen daher eine zentrale Rolle. ­“Islamic Finance“ ist der Versuch einer Antwort. Doch ging dieser Versuch für viele schnell in die gleiche, falsche Richtung.

Islamische Zeitung: So mancher Gelehrter hat aber die diversen ­Produkte abgesegnet…

Taris Ahmad: Die „Sharia Gouvernance“ ist ein großes Thema. Die verschiedenen Bankprodukte erhalten ihr Halalsiegel von ihren hauseigenen Juris­ten des islamischen Rechts. Meinungsvielfalt unter muslimischen Juristen gab es immer, jedoch gab es auch immer ­Gerichte und sorgfältig ausgebildete ­Juristen.

„Fatwashopping“ ist möglich, weil die Privatmeinungen nicht autoritativ von Gerichten entschieden werden, die die Vertragsausgestaltungen nach islamischer Rechtmäßigkeit untersuchen können. Das Problem ist also die Abwesenheit methodischer Rigidität, die nur von Gerichten eingefordert werden kann.

Islamische Zeitung: Es gibt jedoch solche Gericht in den Golfstaaten oder in Malaysia…

Taris Ahmad: Die Rechtswahl für ­Finanzverträge ist oftmals das englische Recht, dessen Gerichte hohes Vertrauen genießen, jedoch Scharia-Recht nicht anwenden können, weil dies keinem Staat zugeordnet werden kann. In einigen Golfstaaten wurde die Gerichtsbarkeit den Scharia-Gerichten entzogen, ­sofern eine der Streitparteien eine Bank ist.

Islamische Zeitung: Besteht bei diesen Finanzinstrumenten die Hoffnung auf eine Revitalisierung des islamischen Rechts?

Taris Ahmad: Entwicklungspolitik braucht generell auch einen Rechtsstaat. Problematisch ist jedoch, dass islamisches Recht in der Praxis von Banken – im neoliberalen Geiste – mit weiter entwickelt wird und damit die Belange der Rechtstradition, die auf einen Interessenausgleich aller Parteien abzielt, nicht berücksichtigt. Die Folge ist, dass die Produkte der „Islamic Finance“ wohl gleichermaßen den Armen wie der Umwelt schaden. Alle möglichen konventionellen Produkte – sogar Derivate! – werden nun „islamisiert“. Commodity-Murabaha und organisierter Tawaruk usw.: All dies sind, dogmatisch betrachtet, Mutationen des islamischen Rechts.

Islamische Zeitung: Haben sich das „Islamic Banking“ und die „Islamic Finance“ wirklich als krisenfester ­erwiesen?

Taris Ahmad: Krisenursache bleiben das fraktionelle Reservebankwesen (frac­tional reserve banking) und Papiergeld ohne Deckung (Fiat money). Weder die Occupy Bewegung noch die „Islamic Finance“ ändern etwas daran. Ähnlich dem ethischen Bankwesen kann es etwas milder sein.

Islamische Zeitung: Oft wird die ­“Islamic Finance“ als nachhaltige Alternative zum konventionellen Finanz­wesen gepriesen. Ist diese (Selbst-)Zuschreibung ihrer Erfahrung nach noch tragbar?

Taris Ahmed: Investitionen in Unternehmen mit beispielsweise einem bestimmten Maß an Zinseinnahmen oder in bestimmten Industrien wie etwa der Waffen- oder Alkoholproduktion sind verboten. Das ist schon mal ein guter ethischer Anfang. Jedoch ändert dies nichts am Zins, der die Umweltressourcen unkontrolliert verbraucht und globale Armut perpetuiert.

Islamische Zeitung: Viele sehen den Arabischen Frühling als islamisches Erwachen. Kann dieser Zweig der Finanzwirtschaft hier überhaupt eine Rolle spielen?

Taris Ahmad: Freilich bringt diese Industrie viele lukrative Jobs und Profite mit sich. Die Volkswirtschaft wird jedoch langfristig nur von einer tiefer gehenden Reform der Juristenausbildung, der Unabhängigkeit der Gerichte und des politischen Willens zinsfrei zu arbeiten profitieren. Das würde auch Menschenrechte stärken und eine Umverteilung herbeiführen. Was gebraucht wird, sind kompetente traditionelle Gelehrte, die die Scharia methodisch beherrschen und auch in der Praxis als Anwälte und Richter tätig sein können.

Islamische Zeitung: Lieber Taris Ahmed, vielen Dank für das Interview.

Der politische Islam verstellt den Blick auf eine wesentliche Dimension unserer Lebenspraxis. Von Abu Bakr Rieger

(iz). Präsidenten kommen und gehen in diesen Tagen, die Krise bleibt. Vielleicht ist der Wechsel im Führungspersonal und die spektakuläre Suche nach politischen Größen ­deswegen so spannend, weil sie uns einige Tage über unser eigentliches Dilemma hinweg tröstet. Wir müssen uns schon aus Vernunftgründen eingestehen, dass der alte Kapitalismus nicht mehr funktioniert. Es sind die bekannten Sensationen, die uns nachhaltig sorgen müssen. Europa hat Schulden in einer Größenordnung, die eine Rückzahlung illusorisch erschei­nen lassen und, wenn wir nichts tun, unsere gewohnten Gesellschaftsordnungen unter unheimlichen Veränderungsdruck setzen werden. Unsere Politik hat bisher, angesichts der größten ökonomischen Krise der Menschheitsgeschichte und angesichts der globalisierten Macht des Kapitals, keine einleuchtende Zukunftsvision hervorbringen können.

Unsichere Zeiten
In Griechenland erleben wir gerade, wie schnell das totgeglaubte Monster des Nationalismus oder des Kommunismus wieder in Europa auferstehen kann. Die Mobilisierung der griechischen Bevölke­rung, die selbst nur ein Bruchteil des Hilfspakets erhält, gegen weitere Einschränkungen oder Sparmaßnahmen gehört zu den aktuellen Schreckensszenarien der Brüsseler Finanzjongleure. Die Prognosen sprechen von einer Verfestigung autoritärer Bürokratien und von der weiteren Einschränkung der politischen Souveränität. Befürchtet werden, nicht nur in Athen, künftig neuartige Staaten, deren Sicherheitsapparate und Verwaltung über Generationen hinaus vor allem die geordnete Abwicklung der Schulden kontrolliert. Wer seine ­Steuern und Zinsen nicht bezahlt, wird zum Staatsfeind. Die nationale Politik hat nicht nur ihren eigenen Entscheidungsspielraum eingegrenzt, sondern als Option, die dem Menschen erlaubt, zwischen wesentlich verschiedenen Entwürfen zu wählen, ausgedient. Im Mutterland der Demokratie heißt das praktisch, dass, unabhängig von künftigen Wahlen, jede Athener Regierung die Vereinbarungen mit der EU befolgen muss.

Teil des Problems
Die Muslime, auch in der 3. Generation noch immer in erster Linie als Immi­granten wahrgenommen, werden von ­einer Mehrheit der europäischen Bevölkerung bisher als Teil des Problems, nicht aber Teil der Lösung wahrgenommen. Man unterstellt ihnen bisweilen, den angeblichen Konsens der europäischen Gesellschaften von innen aufzuweichen. Die ökonomische und soziale, also die geben­de Seite des Islam, blieb gleichzeitig über Jahrzehnte unerkannt. Das ist kein ­Wunder. Der muslimische Intellekt hat bisher die Umkehrung seiner Prioritäten nicht verhindern können. Wichtig sind im Diskurs nur die Aspekte der persönli­chen Moral, ein wenig Politik oder die Klei­derordnung, unwichtig dagegen bleiben die ökonomische Moral, die ­Gesetze des Marktes oder die Zakat. Gelehrte und Funktionäre, falls sie überhaupt einen intellektuellen Führungsanspruch haben, hatten seit dem 11. September in erster Linie ihre politische Verortung klären müssen und dann um ein wenig öffentli­che Anerkennung gerungen. Einen Beitrag zur Bewältigung der ökonomischen und sozialen Krise Europas konnten sie nicht formulieren. Es fehlt hier ­eindeutig auch an dem nötigen „Know-How“. Ohne explizite Kenntnisse und natürlich auch ohne funktionierende Beispiele eines angewandten islamischen Wirtschaftsrechts muss die Existenz der Muslime, inmitten der größten ökonomischen Krise ­dieses Jahrhunderts, natürlich rückwärts gewandt und bestenfalls irrelevant ­erscheinen.

Die Krise – aus ­muslimischer Sicht
Im Mittelpunkt jedes muslimischen Lebens steht natürlich, ganz unabhängig von der Zeit, in der wir leben, die eigent­liche Fundamentalkrise jeder Existenz: die eigene Endlichkeit. Die Erinnerung an Endlichkeit, Schicksal und die Vergegenwärtigung der Allmacht des Schöpfers relativiert die Wucht äußerer Krisen. Die Gelassenheit, nicht etwa ideologische Verbohrtheit, ist daher eine typisch islamische Haltung. Das ist nicht mit ­Fatalismus oder mit der Flucht ins ausschließlich Geistige zu verwechseln. Muslime haben durchaus Realitätssinn. Auf gesellschaftlicher Ebene herrscht das Bewusstsein, dass jede politische Ordnung, wie dies Ibn Khaldun betont, Phasen des Auf- und Niedergangs nicht verhindern kann. Politische Situationen sind der Zeit unterworfen, kommen und gehen, Muslime leben darin, ohne dass ihre islamische Lebenspraxis im Kern gefährdet ist, zumindest dann, solange ihre Riten möglich bleiben und zeitlose ökonomische Grenzziehungen, wie das Zinsverbot, als Fixpunkte des Handelns verbleiben.

Prinzip „contra naturum”
Die Offenbarung prophezeit, dass die Verletzung des Zinsverbotes als ein Prinzip „contra naturum“ für keine Gesellschaft folgenlos bleibt. Aber es bleibt nicht bei dieser negativen Klausel, denn gleichzeitig wird der „faire“ und „freie“ Handel als Sinn stiftend und befreiend definiert. Die Freiheit des Handels und die Freiheit der Auswahl der Zahlungsmittel begründen aus islamischer Sicht jede freie Marktwirtschaft. Europa hat heute diese Grundregeln in sein Gegenteil gekehrt, der Handel ist durch Mono­polisierung stark eingeschränkt, während die Gesetzlosigkeit der Zinswirtschaft legalisiert wurde. Durch die Benachteiligung anderer Zahlungsmittel als die der staatlichen Papierwährungen, ist die Schaffung großer Massen schlechten Geldes und die Flutung der Märkte möglich geworden. Macht hat, wer über die Notenpresse verfügt. Es ist ein Nebeneffekt der Geldherrschaft, dass die öffentliche Meinung jederzeit manipuliert werden kann.

Der Modernismus
Es gibt Debatten, die wirklich ­wichtig sind, weil man nur mit ihnen das ­Wesen der Zeit, in die man hereingeworfen wurde, verstehen kann. Nur wenn man ­seine Zeit versteht, also in unserem Falle begreift, dass wir in einem von der Ökono­mie geprägten Zeitalter leben, kann man den wichtigen Dingen im Islam entsprechendes Gewicht geben. Die ökono­mischen Gesetzlichkeiten, die der Islam offenbart, betreffen nicht nur das Individuum, sondern das komplexe Netz, das heute alle unseren ökonomischen Transaktionen bilden. In den letzten Jahrzehn­ten wurde allerdings das ökonomische Modell des Islam immer mehr auf das „Islamic Banking“ reduziert. Die überfällige Debatte der Muslime um die Legitimität von „islamischen“ Banken ist ein überaus lohnender Streit. Es geht darum, ob wir wirklich echte ökonomische Alternativen und eigene Modelle haben. Keine Frage, die Auseinandersetzung über den geistigen Ursprung der „islami­schen“ Bank, führt uns direkt in die Denkwelt des politischen Islam. Dieses einseitige „politisierte“ Verständnis des Islam, insbesondere in seinen Ausprägun­gen im arabischen Raum, hat sich als eine notwendige Reaktion gegen den westlichen Imperialismus verstanden. Der Westen als Schöpfungsort moderner Technologie und Wissenschaft schien in der historischen Perspektive als „Moder­ne“ der islamischen Lebenspraxis und seinen Traditionen haushoch überlegen. Die politischen und ökonomischen Ins­trumente des Islam mussten, so zumindest die Überzeugung der neuen muslimischen Denker, den neuen Gegebenhei­ten, notfalls auch mit Hilfe einer Neuinterpretation des Rechts, angepasst werden. Heute erscheint diese Reform, insbesondere die Aufgabe wichtiger Institu­tionen und Überzeugungen der islamischen Ökonomie, in vielen Teilen eher fragwürdig.

Moderne und Technik
Der Schrecken über die brutale Ankunft der Moderne, die das Denken der Muslime im 20.Jahrhundert prägt, geht einher mit der gleichzeitigen ­Faszination von den neuen Techniken, die sich auch den Muslimen als neue Hilfsmittel der politischen Macht anboten. Dem politischen Islam ging es darum, diesen Vorsprung durch Technik einzuholen, zum Beispiel die Mobilisierungskraft von menschlichem Willen zu kopieren, die neuen Kampftechniken nachzuahmen, in die Beherrschung der Atome einzustei­gen und mit der industriellen Produktion von Geld Schritt zu halten. Der politische Islam organisierte die Ziele des vermeintlichen Gegenschlags, also die ­eigene Rückgewinnung von Macht, in Form von „islamischen“ Techniken, sei es in Form von Parteien, Atomwaffen oder Banken. Diese neuen – ­islami­sierten – Kopien schienen den alten Originalen überlegen und versprachen den islamischen Staaten die schnelle eigene Machtergreifung.

Es ist dabei wichtig zu verstehen, dass mit der Idee des Modernismus auch eine schleichende Säkularisierung des Denkens einherging. „Was ist und wer hat Macht?”, die Beantwortung dieser ­Fragen bestimmten den neuen Trend im islami­schen Denken. Die Vorstellung, dass Macht etwas sei, das der Mensch nach Gutdünken für sich gewinnen und orga­nisieren kann, passte sich dabei eher unbemerkt der westlichen Vorstellungswelt von Machtprozessen an. Die islamische Welt zwischen Damaskus und Kairo fühlte sich lange Jahre dementsprechend ohnmächtig. Die „Modernisierung“ und -angesichts der „Macht“ des Westens – gleichzeitige „Demoralisierung“ des islamischen Denkens nahm seinen Lauf. Es ist interessant, dass praktisch zu gleicher Zeit im Westen unter dem Eindruck des Unwesens der Ideologien und ihrer technologischen Kriege eine fundamenta­le Technikkritik einsetzte. Heidegger formulierte einen grundsätzlichen, schockie­renden Zweifel an der Basis moderner Politik. Die Technik, die der politische Islam für seine Zwecke instrumentalisie­ren wollte, habe – so Heidegger – eine dem Grunde nach politikfeindliche Dimension, indem sie den Menschen gera­de nicht ermächtige, sondern auf Dauer versklave. Die Finanztechnik, als das kombinierte Wirken von Kapital und Technik, beschleunigte unter den ­Augen der westlichen Intelligenz, bis zum heutigen Stadium, diesen Vorgang der unheimlichen Entpolitisierung. Die Bedürf­nisse der Technik, des Staates und der Partei dominieren den neuen Glauben.

Zweifel am Bankwesen
Es ist ein weiteres Paradox, dass ­heute unzählige westliche Denker die Humanität des Bankwesens längst anzweifeln, während große Teile der islamischen Welt noch immer die angeblichen Segnungen des „Islamic Banking“ feiern. Es stellt sich eine einfache Frage: kann eine Bank überhaupt „islamisch“ sein? Immer mehr Muslime antworten nach den jüngsten Erfahrungen mit nein. Eine Bank ist eine Bank. Jede „islamische Bank“ nimmt als Bank am globalen Geldsystem teil. Das monetäre System beruht auf dem Recht, dass einzelne Zentralbanken praktisch grenzenlos „Geld aus dem Nichts“ schöpfen können. Die Idee einer globalen politischen Macht bedingt natürlich das Vermögen zur Schaffung endlosen Kapitals. Die Voraussetzung für diese Art der Maßlosigkeit ist, dass die Produktion von (inflationärem) Papiergeld nicht an den Besitz realer ­Güter gekoppelt bleibt. Die „islamische“ Bank versucht nun in dieses System eine Art moralischen Impuls einzuhauchen. Sie will angeblich nur die religiös korrekte Seite des Systems bedienen. Hierzu muss sie die Debatte von der (inflationären) Natur des Geldes, das sie wie jede andere Bank bedenkenlos benutzt, weg lenken. Die Frage, ob das Geld an sich ­moralisch, „gut oder schlecht“, sein kann, spielt für die „Islamische“ Bank und ihre Theoretiker (übrigens auch für viele Puritaner und Hardliner) keine Rolle. Die Entfremdung des Sinnes islamischer Verträ­ge und die dreiste Aushebelung des Zinsverbotes, die das „islamische“ Bankenmodell leider auszeichnet, wäre ein Thema für einen anderen Tag.

Das islamische Geld – ein kurzer Ausblick
Im arabischen Raum, mit seinen ungeheuren Ressourcen, wird heute wie in den Jahrhunderten zuvor die Zukunft des globalen Handels diskutiert. Viele muslimische Gelehrte sehen im Tauschgeschäft zwischen Öl und Papier, das wesentlicher Teil der jüngeren Wirtschaft­sgeschichte der Ölländer ist, einen grundsätzlichen Widerspruch hinsichtlich des koranischen Gebotes des „gerechten Handels“. In jeder eigenständigen Wirtschaftsordnung ist die Definition von Geld, als Basis aller Transaktionen, elementar. Im Islam sind Papiere, die nur auf ein Zahlungsversprechen hinauslaufen, eindeutig verboten. Im Qur’an werden gold- und silbergedeckte Dinar und Dirhams als die traditionellen Zahlungs­mittel ausdrücklich erwähnt. Die Frage an den Islam ist heute, ob er noch ein Mo­dell vorstellen kann, das eine ­Antwort „jetzt“, ohne die sinnlose Romantik ­eines „zurück“, ermöglicht. Das islamische Wissen um die Logik des Geldes ­entfaltet bereits wieder erstaunliche Aktualität. Um mehr über diese Seite des Islams herauszufinden, bedarf es des intensiven Studiums des ganzheitlichen Modells der Ökonomie. Man wird bald feststellen, dass die Lehrer und die Lehranstalten, die über dieses, ehemals klassische Reper­toire verfügen, dünn gesät sind. Die meisten Lehrer, gerade im akademischen Betrieb, verfolgen in erster Linie den öffent­lichen Nachweis, zu welcher Form des politischen Islam sie sich zugehörig fühlen. Hier schließt sich dann der Kreis.

Kommentar: Die Westdeutsche Landesbank will Muslime mit einem neuen Fonds anlocken. Von Sulaiman Wilms

(iz). Muslime und Ökonomie, geht das zusammen? Darauf sind zwei Antworten möglich. Einerseits muss man dies bejahen: Muslime sind auch Verbraucher, Kunden, Unternehmer und Investoren. Außerdem – was oft unterschlagen wird – besteht das islamische Recht erheblich aus ökonomischen Bestimmungen [arab. Mu’amalat, im Gegensatz zur rituellen Anbetung, ‘Ibadat]. Andererseits ­könnte man vom medialen Standpunkt diese Frage verneinen, denn dieser Zusammen­hang wird in der Debatte unterschlagen. Von jenen, die im Namen der Muslime sprechen – „Konservativen“ wie „Liberalen“ – war in der Vergangenheit kaum oder nichts zu essenziellen ökonomischen und monetären Fragen zu hören.

Nimmt ein Muslim heute die verpönte „Scharia“ bejahend in den Mund, ist ihm Kritik sicher. Ironischerweise sind Banken und Fondsmanager die einzigen, die sich auf dieses ansonsten unbeliebte Wort berufen. Dieser Widerspruch wurde bisher übersehen. In Krisenzeiten ist die „unsichtbare Hand“ der Finanzmärkte aber darauf angewiesen, auf bisher un­er­schlos­sene Geldquellen (auch die der ­Muslime) zurückzugreifen.

Der Markfachmann Wolfgang Raum geht in seinem Newsletter davon aus, dass Muslime in Deutschland jährlich bis zu zwei Milliarden Euro in konventio­nellen Bank- und Versicherungsproduk­ten anlegen. Auch ihre Sparquote liege über dem deutschen Durchschnitt. Anders als vielen konsumbewussten Biodeutschen sieht man es vielen ­ehemaligen „Gastarbeitern“ nicht immer an, ob sie Immobilien oder große Sparvermögen besitzen. Ein muslimischer Brancheninsider bezifferte im Gespräch die ­Summe der von Muslimen in Deutschland gehal­tenen Vermögenswerte auf rund 70 Milliarden Euro.

Trotz des seit Jahren beworbenen ­Hypes um Halal-Industrie und das vermeintliche „Islamic Banking“ blieb es hier eher ruhig, soweit es die Masse betrifft. Obwohl einige Banken Investment­fonds unter dem Etikett „Scharia-Kompatibilität“ anboten, richteten sie sich eher an ausländische Investoren; insbesondere aus reichen Rohstoffstaaten. In Ermangelung großer Angebote ­versuchen kleinere Agenturen nun, diese Lücke zu füllen und Muslime im Direktmarketing anzusprechen.

Düsseldorfer preschen vor
Die in Düsseldorf ansässige Westdeutsche Landesbank Girozentrale (WestLB) scheint nun als einer der ersten die ­Lücke füllen zu wollen. Wie Raum selbst, PR-Agenturen und die „Welt“ am 16.1. berichteten, ging am 20.1. auf den ­Börsen in Frankfurt und Stuttgart ein „Islamic-Stragie-Zertifikat“ an den Start. In dem vom Zentralrat der Muslime (ZMD) zertifizierten Fonds offerieren die Düsseldorfer „ein risikoreduziertes Investment in die zehn größten islamkonformen Unternehmen Deutschlands“. Als ­Maßgabe, welche DAX-Unternehmen in den Fonds einfließen, dient der WestLB-eigene Index, WestLB Islamic-Deutschland. Welches Unternehmen auf dem Index geführt wird, entscheidet am Ende IdealRatings, eine USA-Firma, die sich auf den „islamischen Finanzmarkt“ spezialisiert hat.

Angeblich werde das Risiko von Verlusten durch eine „Stopp-Loss-Strategie“ reduziert. Verliert der Fonds auf Schlusskursbasis acht Prozent oder mehr gegen­über dem Anfangspreis ­beziehungsweise dem Schlusskurs zum letzten Anpassungszeitpunkt, solle das Kapital am ­folgenden Handelstag vollständig in ein unverzinsliches Geldkonto umgeschich­tet werden. Vor einer weiteren Krise sind auch muslimische Anleger nicht gefeit. Gerade der vermeintliche „islami­sche Finanzmarkt“ kann, wie das Beispiel Dubai zeigt, scheitern, wenn Inves­titionen oder Sicherheiten an die allge­meinen Märkte gekoppelt sind. Bei Gold, Silber und werthaltigen Rohstof­fen hätten die großen Fonds nicht derartige Kapitalsummen vernichtet, wie es ab 2008 der Fall war.

Es bleiben Fragen offen
Nach Angaben von Frank Haak, Leitender Direktor bei der WestLB für „Equity Markets“, erfolgte die Zertifizie­rung „durch drei Gelehrte, die im ­Namen des Zentralrats der Muslime in Deutschland e. V. (ZMD), die Zertifizierung übernommen haben“. Namentlich seien dies: Mufti Abdul Kadir Barkatulla (London, Imam Finchley Mosque), Scheich Haytham Tamim (London, Utrujj Fundation) und Michael Saleh Gassner (Zürich, Islamic Finance-Experte). Nach Angaben von Haak benennt die zertifizierende Einrichtung jedes Jahr eine ­gemeinnützige Einrichtung, die fünf Prozent der Divi­dende erhalten soll.

Die anvisierten deutschen Unterneh­men wie Adidas, BASF, Bayer, E.ON, RWE, SAP, Siemens und ThyssenKrupp machen angesichts ihrer Bekanntheit Eindruck. Das Auftauchen der Energie­oligarchen RWE und E.ON dürfte wegen ihrer Beteiligung an der Atomenergie für Kritik sorgen. Es ist dem zertifizierten Anspruch des Paketes, islam-kompatibel zu sein, wohl auch eher abträglich, dass Adidas in der Vergangen­heit mit inhumanen Arbeitsbedingungen in der Dritten Welt in Verbindung gebracht wurde. Dass ThyssenKrupp am europäischen Werftenverbund ThyssenKrupp Marine Systems (TKMS) beteiligt ist, und somit zu den ­modernsten Produzenten maritimer Militärtechnologie zählt, muss den Finanz-Gelehrten entgangen sein.

Noch gravierender ist, dass die WestLB als integraler Bestandteil der krisengeschüttelten europäischen Finanzlandschaft bisher Teil des Problems, und nicht der Lösung war. Wie die „Welt“ richtig einschätzt, schützt auch eine „Stopp-Loss-Strategie“ nicht vor einer eventuellen Pleite der Düsseldorfer, da es sich bei dem Index um eine Schuldverschreibung handle. „Die Ratingagentur Fitch bewertet die WestLB mit ‘A-’. Die Versicherungsprämie für das Risiko eines Kreditausfalls der WestLB liegt laut Scope aber mit aktu­ell 401 Basispunkten deutlich höher als bei den meisten anderen Emissionshäusern“, findet sich in der „Welt“.

Muss man sich die Frage stellen, welchen Kenntnisstand die zertifizierenden Gelehrten bei ihrer Rechtsmeinung hatten? Immerhin übersahen sie, dass die WestLB selbst ein versuchter Player am Kasinokapitalismus (eigentlich nicht ­islam-konform) sein wollte. 2006 verzeichnete die Bank laut Wikipedia ­einen Eigenverlust von einer Milliarde Euro. Man hatte sich beim Zocken mit Kursdifferenzen spekuliert. Und im „Februar 2008 mussten die Eigentümer (…) umfangreiche Rettungsmaßnahmen beschließen. Die Bank gliederte risikobehaftete Wertpapiere im Wert von 23 Mrd. Euro in eine den gesetzlichen Vorschriften zufolge gegründete Zweckgesellschaft außerhalb der Bank aus. Dadurch befreite sich die Bank von bilanzwirksamen Belastungen aus diesem Portfolio“, findet sich in dem online-Lexikon zur WestLB. In Folge ­verließen zwei Manager das Finanzinstitut.

Gefordert sind ­nachhaltige Investitionen
Ob der neue Index und die damit einhergehende Zertifizierung einen nachhaltigen Nutzen für Muslime, die Community und ihr Umfeld hat, bleibt offen. Investmentfonds und Anlagemöglichkeiten sind ohne Frage ökonomischer Alltag. Inwiefern dieses Geschäfts­modell mit dem Etikett „islamisch“ versehen werden sollte, kann in Frage gestellt werden.

Will man beides – Profite und allgemeinen Nutzen – miteinander in Einklang bringen, wären ebenso gewinnorientierte Immobilienfonds denkbar, die auf lokaler Basis Räumlichkeiten für Gemeindezentren, lokale Kliniken, Schulen etc. schaffen und vermieten. Ein Blick auf Großbritannien zeigt, dass dort viele die Notwendigkeit für Investitionen in eine lokale Entwicklung erkannten. Hierbei gelten muslimische Gemeinden auch als produktive Bestandteile der sozialen Kohäsion. Das deutsche Genossenschaftsrecht beispiels­weise lässt die Gründung einer Genossenschaft schon mit einer geringen Teilnehmerzahl zu. Mit diesem Geschäftsmodell sind diverse nachhaltige, ökonomische Konzepte denkbar. Offenkundig herrscht in Deutschland ein Vakuum, über das Muslime reflektieren und in das sie investieren sollten.

In der Vergangenheit bestand die einzige (von verbandsinternen Projekten großer Moscheeverbände abgesehen) kollektive Anstrengung deutscher Muslime aus der Sammlung von Spendengeldern für auswärtige Katastrophengebiete. Auf die Entwicklung einer für alle Seiten nützlichen Infrastruktur und die Mehrung eigener Ressourcen ­wurde bisher verzichtet. Hier schließt sich der Kreis: Während einzelne Moscheen und Verbände Zertifikate (für Banken und die Lebensmittelindustrie) ausstellen, gibt es ansonsten kein nennenswertes Interesse an den (siehe oben) Mu’amalat.

Erlauben wir es als Muslime ebenfalls nur noch Banken und Brokern, als ­einzige die „Scharia“ in den Mund zu nehmen?