
Das Elendslager an der Grenze zu Kroatien wird zum Schlammloch. Bricht erst einmal der Winter ein, können keine Menschen in Vucjak bleiben. Die Verantwortlichen stehen unter Handlungsdruck. Ein Bericht von Gregor Mayer
Bihac (dpa). Das Lager Vucjak – zehn Kilometer entfernt von der bosnischen Stadt Bihac – ist kein Ort, an dem Menschen hausen sollten. In den Zelten aus Segeltuch liegen Matratzen auf dem durchnässten Erdboden, wie auf Fotos von Aktivisten zu sehen ist. Waschräume und Toiletten sind verdreckt. Der Boden zwischen den Zelten ist eine Schlammwüste, zum Teil steht das Wasser knöchelhoch. Es ist ein Glück, dass noch kein Schnee gefallen ist. Das Wetter ist für die Jahreszeit sogar noch relativ milde.
Vucjak ist die Antwort der 50 000-Einwohner-Stadt Bihac auf einen Zustrom von Migranten und Flüchtlingen, den sie kaum mehr zu bewältigen vermag. Unmittelbar an der Grenze zu Kroatien gelegen, zieht sie Menschen an, die ohne Papiere über die „grüne“ Grenze gehen wollen. Rund 7000 von ihnen halten sich derzeit in mehreren Lagern in Bihac und im umliegenden Kanton Una-Sana auf. Im Juni nahmen die überfüllten Lager der internationalen Hilfsorganisationen keinen mehr auf. Die Migranten schliefen auf der Straße.
Mit den Mitteln, die sie hatte, stampfte die Stadtverwaltung auf einer ehemaligen Mülldeponie das Lager Vucjak aus dem Boden. Viele seiner inzwischen rund 1000 Bewohner griff die bosnische Polizei in der Stadt auf und brachte sie gegen ihren Willen hierher. Die internationalen Organisationen und NGOs wollen damit nichts zu tun haben, das improvisierte Lager entspricht nicht ihren Standards.
Das Rote Kreuz von Bihac versorgt die Bewohner mit bescheidenen Mahlzeiten und Tee. Es lässt die Wassertanks der verschmutzten Sanitäranlagen nachfüllen. Ihre Mittel seien begrenzt, sagen die Rot-Kreuz-Leute. Die Zentralregierung in Sarajevo kümmere sich nicht um das Problem. Die Stadt Bihac und der Kanton Una-Sana blieben sich selbst überlassen.
Bei einem Besuch im September gab es noch ein Ambulanzzelt. Betrieben hat es ein deutscher Aktivist, unterstützt von freiwilligen Ärzten und Sanitätern aus Deutschland, Österreich, Ungarn und Slowenien. Dirk Planert (52), Fotograf und Journalist, hatte im Bosnienkrieg (1992-1995) humanitäre Hilfstransporte in das damals eingeschlossene Bihac gebracht.
Im Juni hatte der Dortmunder dort eine Ausstellung mit seinen Fotos. Da erfuhr er von den Zuständen in Vucjak – und fuhr hin. „Jemand hat entschieden, 1000 Menschen einfach so wegzuschmeißen“, sagte er in einem Ton, dem die Entrüstung anzumerken ist. Spontan entschied er sich, an diesem unwirtlichen Ort zu bleiben und zu helfen.
Ende September verwiesen die bosnischen Behörden Planerts Team des Landes. Bis dahin hatte es Verletzungen von Migranten behandelt, die beim irregulären Grenzübertritt von kroatischen Polizisten ertappt und nach Bosnien zurückgeschoben wurden. „Das läuft immer nach dem selben Schema ab“, beschrieb Planert: „Die Ertappten müssen sich aufreihen, die Polizisten nehmen ihnen Geld, Schuhe und Handys weg – oder zerstören die Handys -, verprügeln sie und treiben sie zurück über die Grenze.“ Bei den Verletzungen handle es sich oft um Blutergüsse von Schlägen und Tritten, gelegentlich auch Knochenbrüche.
Kroatien bestreitet die Vorwürfe, die auch von Menschenrechtsorganisationen erhoben und zum Teil mit Videoaufnahmen dokumentiert wurden. Den schwierigen Gang über die Berge ins EU-Nachbarland Kroatien nennen die Migranten „The Game“ – Das Spiel. Entweder man schafft es bis Österreich, Deutschland oder Italien und kommt ins Asylverfahren, oder man scheitert, bekommt Prügel und muss zurück zum Start. Der Start ist Vucjak, ganz nah an der kroatischen Grenze gelegen. Das erklärt, warum die meisten Migranten unter den widrigen Bedingungen ausharren wollen.
Und es erklärt, warum sie in den Kanton Una-Sana, in den nordwestlichen Zipfel Bosniens drängen. In anderen Gebieten des Landes wäre es leichter, Platz zu schaffen, in regulären, winterfesten Einrichtungen. In Vucjak sind die Zelte nicht beheizbar. Bei Schnee und Frost droht eine humanitäre Katastrophe. Nach etlichen Hilfsorganisationen verlangte am 14. November nun auch EU-Kommissar Dimitris Avramopoulos die Schließung des irregulären Lagers.
Die Kommunalverwaltung von Bihac reagiert zunehmend gereizt auf die angespannte Situation. Vor einem Monat erklärte Bürgermeister Suhret Fazlic: „Wir stellen jede Versorgung von Vucjak ein. Wir lassen die Krise eskalieren, damit die staatlichen Stellen (in Sarajevo) endlich ihren Job machen.“
Geändert hat sich seitdem nichts. Zuletzt kündigte die Kantonsregierung an, dass die regulären Lager in Bihac und Velika Kladusa, die die Internationale Organisation für Migration (IOM) betreibt, am (morgigen) Freitag zugesperrt würden. Doch dann hieß es: die IOM-Lager bleiben. Für ihre Insassen gelte ab Freitag eine Ausgangssperre. Wie diese umgesetzt werden soll, ist unklar. Zumal Dutzende Menschen auf einer Wiese vor dem Lager Bira in Bihac campieren, weil sie dort wegen Überfüllung keinen Einlass finden.
Tatsache ist aber auch, dass die Stimmung in der Bevölkerung längst schon gekippt ist. Im Sommer und frühen Herbst hatten die Menschen in Bihac den Migranten noch eine gewisse Empathie entgegengebracht. Die fremden jungen Männer und gelegentlich Familien flanierten durch die Stadt, verweilten auf den Bänken in den weitläufigen Parks.
Die monatelange Anwesenheit der Fremden hat der Empathie zugesetzt. Hetzer in den sozialen Medien bauschten Meldungen über Schlägereien unter Migranten zu einer diffusen Sicherheitsbedrohung auf. Gelegentliche Einbrüche von Migranten in leere Wochenendhäuser kosteten weitere Sympathiewerte. Am (morgigen) Freitag wollen „besorgte Bürger“ wieder einmal gegen die Fremden demonstrieren, unter dem Motto „Die Menschen haben die Migranten satt“.
Die Tage von Vucjak dürften aber gezählt sein. Wie EU-Kommissar Avramopoulos am 14. November in Brüssel sagte, hätten die Verantwortlichen in Bosnien in Aussicht gestellt, dass sie zwei Militärbaracken übergangsweise zur Verfügung stellen würden.