
Leitartikel zum Titelthema „Freiheit“: Wir können unsere Unabhängigkeit nicht als Einzelne sichern. Das sagt der US-Historiker Timothy Snyder.
(iz). In den letzten Jahrzehnten der Krisen ist die Frage nach der Freiheit in aller Munde. Denkt man an die Pandemie, die Klimaerwärmung oder den Ukrainekrieg deutet sich eine Zeitenwende an. Die alte Idee individueller Freiheit wird zugunsten der kollektiven Notwendigkeiten der Menschen und den Bedürfnissen nach Sicherheit und Wohlstand zurückgedrängt.
Noch nicht völlig aufgearbeitet sind die Maßnahmen zum Gesundheitsschutz, das Klima verlangt reduzierten Konsum und der Ukrainekrieg macht deutlich, dass auch ein Weltkrieg in den Bereich des Möglichen gerückt ist. Es ist unklar, wie sich der Umgang mit den Krisen auf unsere liberalen Gesellschaften langfristig auswirkt.
Das Ausmaß der Katastrophen, die uns sorgen, lässt es möglich erscheinen, dass der Staat mit größerer Autorität auf seine Bevölkerung einwirkt und mehr verlangt als gewohnt. Noch glauben wenige Westeuropäer, dass sie sogar persönlich in einen Krieg verwickelt werden könnten. Höhere Steuern, mehr Opferbereitschaft und gesteigerter Gehorsam sind Zugeständnisse, die der Staat von uns künftig verlangen könnte und schaffen ein Gefühl neuer Unsicherheiten.
Die Frage nach der Freiheit ist hochaktuell, beschäftigt Denker und Philosophen. Timothy Snyder hat kürzlich ein neues Buch mit dem Titel „Über Freiheit“ veröffentlicht. In diesem Werk entwickelt der Historiker und Politologe eine tiefgehende und zugleich praxisorientierte Philosophie der Freiheit. Snyder kritisiert die vorherrschende Vorstellung von Freiheit als bloße Abwesenheit von Zwang – die sogenannte „negative Freiheit“ – und plädiert stattdessen für ein aktives Verständnis von Freiheit als positiver Kraft, die in der Gesellschaft wirksam ist.
Zentrale Dimensionen der Freiheit
Snyder identifiziert fünf zentrale Dimensionen der positiven Freiheit: die Souveränität, die Unberechenbarkeit, die Mobilität, die Faktizität und die Solidarität. Diese Dimensionen werden nicht nur theoretisch erörtert, sondern auch mit persönlichen Erfahrungen und historischen Beispielen verknüpft.
Snyder verweist auf Denker wie Simone Weil, Edith Stein, Václav Havel und Leszek Kołakowski, die sich intensiv mit dem Thema auseinandergesetzt haben. Zudem fließen seine eigenen Erlebnisse in Osteuropa, insbesondere in der Ukraine, ein, um die Bedeutung von Freiheit in der Praxis zu verdeutlichen.
Snyder kritisiert die aktuelle politische Landschaft, insbesondere in den USA, wo die Vorstellung von Freiheit oft mit einem minimalen Staat und maximaler individueller Autonomie gleichgesetzt wird. Dieses libertäre Verständnis des Staates dient oft den Interessen der Reichen. Er argumentiert, dass diese Sichtweise die soziale Ungleichheit verstärke und die kollektive Verantwortung untergrabe. Stattdessen fordert er ein Verständnis von Freiheit, das auf Solidarität, sozialer Gerechtigkeit und der Anerkennung gemeinsamer Werte basiert.
„Über Freiheit“ ist ein leidenschaftliches Plädoyer für eine aktive, gemeinschaftsorientierte Freiheit, die über die Einräumung individueller Rechte hinausgeht und das Gemeinwohl in den Mittelpunkt stellt. Snyder fordert die Leserinnen und Leser auf, Freiheit nicht als selbstverständlich anzusehen, sondern aktiv für deren Erhalt und Förderung einzutreten. „Wer wirklich frei sein will, muss anderen helfen, frei zu sein.“ – So könnte man Snyders Freiheitsbegriff auf den Punkt bringen.
Snyders Beitrag erinnert an das Fundament der Freiheit. Sie beginnt im Leib und ist nicht nur ein geistiges Konzept, sondern betrifft zutiefst unser körperliches Dasein – etwa unsere Fähigkeit zu handeln, zu widerstehen, zu sprechen, uns zu bewegen.
Der verletzliche und sterbliche Körper
Besonders in politischen Kontexten (z. B. Krieg, Unterdrückung, Flucht) zeigt sich, dass der verletzliche, sterbliche Körper der Ort ist, an dem Freiheit entweder möglich wird oder zerstört wird. Die Figur des „Homer Sacer“, der nur Träger seines nackten, rechtlosen Lebens ist, wurde bereits durch den Philosophen Giorgio Agamben in die politische Diskussion gerückt.
Pessimistisch ist Snyders Blick auf die sozialen Medien: „Algorithmen treiben uns in Kategorien, die durch unsere am wenigsten interessanten Eigenschaften definiert sind, und lenken uns von den Entscheidungen ab, die wir in der physischen und sozialen Welt um uns herum treffen müssen.“
Er räumt ein, dass „unsere Macht, dem fiktional-industriellen Komplex zu widerstehen, begrenzt ist, aber es gibt sie.“ Für die Unabhängigkeit des Menschen ist es wichtig, geschichtliche Kontexte zu verstehen und nicht zuletzt das eigenständige Lesen nicht zu verlernen.
„Unsere derzeitige Laune, die Vergangenheit aus meist selbstgerechten Gründen zu verwerfen, hat mit unserer technisierten Unfähigkeit zu tun, uns zu konzentrieren und zu tolerieren. Wir werden von einer Social-Media-Nemesis darauf trainiert, der Herde zu folgen und die Herde zu keulen. Doch wenn wir uns dem Lesen verweigern, tauschen wir nicht die Vergangenheit gegen die Zukunft ein. Ohne Vergangenheit gibt es keine Zukunft. Wir tauschen die Vergangenheit gegen einen prekären Stillstand.“
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Das Thema ist wesentlich für uns Muslime
Das Thema Freiheit ist für Muslime essentiell wichtig, da ihre Gemeinschaften in einer Mehrheitsgesellschaft auf das Prinzip der Religionsfreiheit angewiesen ist. In pluralistischen Gesellschaften ermöglicht diese Garantie, dass Menschen unterschiedlicher Überzeugungen friedlich nebeneinander leben.
In jeder Demokratie ergeben Meinungsfreiheit, Glaubensfreiheit und Versammlungsfreiheit einen elementaren Bedeutungszusammenhang. Man sollte nicht vergessen: Wo die Religion unterdrückt wird, sind meist auch andere Freiheiten in Gefahr.
In der liberalen Gesellschaft, die die Religionsfreiheit verfassungsrechtlich absichert, entstehen neue indirekte Gefährdungen: Der Populismus stellt Religion unter Generalverdacht („Der Islam gehört nicht zu uns.“). Parteien wie die AfD schaffen einen säkularen Druck, die Religion – zumindest die von Minderheiten – vollständig aus dem öffentlichen Raum zu verbannen. In Deutschland werden Menschen, die offen religiös leben (besonders Muslime oder Juden), diskriminiert oder bedroht.
Dabei ist sich die absolute Mehrheit aller Gläubigen klar, dass Religionsfreiheit nicht meint, dass alle religiösen Ansprüche durchsetzbar sind. Sie ist immer – so der Konsens – eingebettet in die Ordnung eines freiheitlichen Rechtsstaats. Weil die oben beschriebenen Gefahren existieren, ist es auch für Muslime wichtig, dass die Möglichkeit der kollektiven Organisation besteht, um eigene Anliegen, Themen oder Rechte effektiv in der Öffentlichkeit anzusprechen.
Die Existenz von Religionsgemeinschaften ist eine Notwendigkeit und Teil der Religionsfreiheit. Muslime sind gut beraten, sich also nicht in die scheinbare Sicherheit des Privaten zurückziehen, sondern sich selbstbewusst öffentlich zu engagieren.
Wer sich die Realität von Gläubigen in Russland oder China genauer anschaut, dem wird bewusst werden, was auf dem Spiel steht. Der Einsatz für die Rechte der Zivilgesellschaft und das Engagement für die Religionsfreiheit gehören zusammen.
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Eine der zentralen Spannungen
Die Frage, wie sich der Begriff der Freiheit zur Religion verhält, insbesondere im Kontext von Vorherbestimmung (Prädestination), ist eine der zentralen Spannungen in der Religionsphilosophie und Theologie. Wenn alles vorherbestimmt ist, stellt sich die Frage: Wie kann der Mensch dann frei sein? Die Antwort hängt stark vom religiösen und philosophischen Rahmen ab.
Im Islam gibt es das Konzept von Qadar (göttliche Bestimmung), das mit dem freien Willen des Menschen in Spannung steht, aber in vielen Interpretationen als eine Mitverantwortung erklärend interpretiert wird. Für viele Gläubige ist der Glaube an die Vorsehung kein Widerspruch zur Freiheit, sondern Trost: Auch wenn das Leben manchmal unverständlich scheint, hat es einen göttlichen Plan. Gleichzeitig bleibt die individuelle Verantwortung im Alltag erhalten – zum Beispiel durch das Streben nach Tugend, Gebet oder Buße.
Im Islam gibt es zweifellos den festen Glauben an die göttliche Bestimmung. „Und ihr könnt nicht(s) wollen, außer dass Allah (es) will.“ (Sure 76:30). Diese Überzeugung ist Teil des Iman (Glaubens) und bedeutet, dass Allah alles weiß, plant und verwirklicht, was geschieht – das Gute und das Schlechte. Aber: Gleichzeitig wird der Mensch im Koran als verantwortlich für sein Handeln dargestellt. Diese Sicht bestätigen viele Verse im Qur’an, in denen der Mensch zur Rechenschaft gezogen wird („Wer nun im Gewicht eines Stäubchens Gutes tut, wird es sehen.“ Sure 99:7–8)
Der Qur’an enthält beide Elemente. Wir bekennen das Wissen um die göttliche Allmacht „Gewiss, wir haben alles in (bestimmten) Maß erschaffen.“ (Sure 54:49) Hinzukommt das Bekenntnis zur menschlichen Verantwortung: „Jede Seele haftet für das, was sie erworben hat.“ (Sure 74:38).
Der Mensch hat die Fähigkeit zur Wahl, zu Gutem oder Bösem – und wird dafür zur Rechenschaft gezogen. „Wer der Rechtlautung folgt, der ist nur zu seinem eigenen Vorteil rechtgeleitet und wer irre geht, der geht nur zu seinem Nachteil irre.“ (Sure 17:15). Der freie Wille ist „real“, aber Gott bleibt der Schöpfer der Ereignisse.
Für Muslime gibt es keinen Widerspruch. Der Glaube an das Schicksal bedeutet nicht alle gesellschaftliche Entwicklungen passiv hinzunehmen. Wir handeln verantwortlich, vertrauen aber darauf, dass Gott am Ende gerecht urteilt und gnädig ist. Bei den aktuellen Diskussionen über die Zukunft der Freiheit ist der muslimische Beitrag wichtig.