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Vom Lob des Auswendiglernens

Ausgabe 353

Auswendiglernen
Foto: IZ Medien

In der Moderne ist das Auswendiglernen zum Synonym für Ignoranz und Rückständigkeit geworden. Dabei ist es ein Teil des Wissens.

(Traversing Tradition). Einmal war Imam Al-Ghazali (möge Allah ihm barmherzig sein) auf Reisen, als er von Straßenräubern ausgeraubt wurde. Er bat sie, seine Bücher und Notizen zurückzulassen, da sie für die Diebe nutzlos seien und Kenntnisse enthielten, die er sich mühevoll angeeignet hatte. Einer der Räuber antwortete: „Wie kannst du behaupten, dass du ihr Wissen erworben hast, wenn wir es dir weggenommen haben und du nun ohne Wissen dastehst?“

Ungeachtet dessen gab er die Texte zurück und aufgrund dieser Erfahrung verbrachte Imam Al-Ghazali Jahre damit, alles, was er gelernt hatte, sich einzuprägen. Wenn man bedenkt, dass einige Gelehrte des Islam sämtliche Bücher auswendig lernten, die sie in ihrer Sammlung hatten, wird deutlich, dass das Auswendiglernen ein wichtiger Teil des Wissens ist.

Auswendiglernen als Voraussetzung von Wissen

Das Auswendiglernen ist nicht gleichbedeutend mit dem Erwerb von Wissen an sich. Muslime haben das Auswendiglernen jedoch schon immer als Teil und Voraussetzung für Wissen geschätzt. Dies beginnt mit dem Qur’an. Ungeachtet der Tatsache, dass die Mehrheit der Muslime ihre Mushafs (wörtlich „gebundene Seiten“) aus Apps auf ihren Handys oder aus gedruckten Texten bezieht, ist das Einprägen eine kollektive Obligation:

„Das Auswendiglernen des Qur’an ist eine gemeinschaftliche Verpflichtung (fard kifayah) für diese Gemeinschaft. Das bedeutet (in Wirklichkeit), dass eine Anzahl von Menschen, die mutawatir sind, ihn auswendig gelernt haben, sodass es keine Veränderung oder Verfälschung gibt. Wenn eine Gruppe der Gemeinschaft dies tut, ist die gesamte Gemeinschaft von dieser Verpflichtung befreit; und wenn niemand sie auswendig lernt oder lehrt, dann ist die gesamte Gemeinschaft sündig.“ Imam As-Suyuti

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Das Auswendiglernen beschränkt sich nicht nur auf den Qur’an und die prophetischen Hadithe, sondern erstreckt sich auch auf Texte über Glaubenslehre (‘Aqida), Recht (Fiqh), Grammatik, Poesie und sogar die Natur- und Mathematikwissenschaften.

Schaikh Muhammad al-Ya’qoubi erwähnt, dass er während seines Studiums der heiligen Wissenschaften Tausende von Zeilen auswendiglernte, was jedoch im Vergleich zum Vater verblasste, der 30.000 Zeilen didaktischer Gedichte zu verschiedenen Themen eingeprägt hatte. Dies kam zu dem Qur’an und unzähligen Hadithen hinzu, die sie auswendig gelernt hatten.

Praktische Vorteile

Das Auswendiglernen solcher Dichtungen hat mehrere praktische Vorteile. Es ermöglicht einem, die Fundamente eines Themas auf prägnante Weise zu lernen und sich daran zu erinnern. Der Durchschnittsmensch von heute hat viele Kurse besucht, an deren Namen er sich nicht einmal mehr erinnern kann, geschweige denn an den Inhalt. Diese Gedichte sind gut geeignet, um die Grundlagen eines Themas zusammenzufassen und sie einprägsam zu machen.

Sowohl die ständige Exposition gegenüber Medien, Unterhaltung und sensorischer Stimulation als auch der Zugriff auf die gesamte Weltinformation, die uns zur Verfügung steht, haben die Fähigkeit der Menschen, Informationen aus dem Gedächtnis abzurufen, verschlechtert. Wie man so schön sagt: Wer rastet, der rostet. Aus islamischer Sicht hängt die fehlende Wertschätzung des Erinnerungsvermögens mit der mangelnden Anerkennung der religiösen Kenntnis zusammen.

Muslime erwarten heute von Lehrern, dass sie alles über den Islam wissen, während sie ihren Mitmenschen, die keine Gelehrten sind, jegliches Mindestmaß an Wissen absprechen, da Fiqh-Q&A-Websites und Online-Vorlesungen nur einen Klick entfernt sind. Hinzu kommt die Abwertung des Auswendiglernens des Qur’an, das ausschließlich als Domäne der Kinder und nicht als eine Tätigkeit angesehen wird, von der Erwachsene profitieren können.

In letzter Zeit wurde viel über unser Erinnerungsvermögen und seine Leistungsfähigkeit geforscht. Ein einheitliches Ergebnis war, dass das menschliche Erinnern wie ein Muskel geübt werden kann und fast jeder in der Lage ist, sich große Mengen an Informationen zu merken. Ein Beispiel hierfür ist die Geschichte von Joshua Foer, der sein Gedächtnis als Experiment im partizipativen Journalismus trainierte. Nach einem Jahr Training gewann er zu seiner eigenen Überraschung die Gedächtnismeisterschaft der USA.

Obwohl die Techniken, die er anwendete, ausschließlich auf visueller Vorstellungskraft (dem „Gedächtnispalast“) beruhten und sich möglicherweise nicht direkt auf islamisches Wissen übertragen lassen, zeigt seine Erfahrung, dass selbst ein Erwachsener sein Gedächtnis trainieren kann, wenn er nur genug Zeit und Mühe investiert.

Wiederholung ist die Grundlage des Einprägens

Allerdings haben verschiedene Menschen unterschiedliche Lernstile, und es ist hilfreich, herauszufinden, wie man am besten lernt. Manche lernen am besten, indem sie den Vers wiederholt lesen, andere müssen auch etwas zuhören. Andere finden, dass es hilft, den Vers mit eigenen Händen aufzuschreiben. Und wieder andere erstellen eine visuelle Darstellung, die die Wörter miteinander verbindet.

Unabhängig vom Lernstil gibt es einige Voraussetzungen dafür. Zunächst muss man sich voll und ganz konzentrieren und alle Ablenkungen ausschließen. Es ist ein Akt der „tiefen Arbeit“, der Konzentration erfordert und nicht nebenbei erledigt werden kann. Zweitens sollte man die verschiedenen Bittgebete und Adhkhar lernen, die beim Auswendiglernen helfen.