Wenn Geschichte fasziniert: Interview mit dem begeisterten Osmanen-Fachmann Rasim Marz

Ausgabe 206

(iz). Geschichte zählt zu den „weichen“ Themen, den vermeintlichen Geisteswissenschaften. Nicht erst seit der Einführung von Master- und Bachelor-Abschlüssen, welche die deut­schen Unis international kompatibel machen sollten, steht Geschichte als Wissenschaft nicht gerade im Mittelpunkt des öffentlichen Interesses. Oft dient sie nur als Untermauerung in zeitgenössischen Debatten.

Umso faszinierender kann es sein, jemanden kennenzulernen, der sich mit Herz und Seele dafür begeistern kann und die Goethesche Maxime verkörpert, dass man eine Sache nur verstehen könne, wenn man sie liebt. Mit Rasim Marz trafen wir einen 21-jährigen Westerwälder mit teilweise türki­schen Wurzeln, der uns bei einem Kaffee in der Nähe seines Heimatortes über sein Interesse an Geschichte, seine Leidenschaften zu den Osmanen erzählte. Marz, laut Selbstauskunft ein „freier Historiker“, der zur Zeit seine Hochschulreife nachholt, um später Osmanologie zu studieren, betreibt als Präsident des Ottoman Clubs (ottoman-club.com) einen Geschichtsverein, die sich dieser Leidenschaft ­widmet.

Islamische Zeitung: Lieber Rasim, du bist im besten Sinne als als Westerwälder Muslim ausgewachsen. Wie kommt man von dort aus zur Beschäftigung mit der osmanischen Geschichte?

Rasim Marz: Bei mir handelte es sich um reines Interesse. Schon als Kind faszinierte mich die Geschichte Ägyptens, was mich dann zur türkischen führte. Die Vielfalt der osmanischen Geschichte hat mich einfach fasziniert. 600 Jahre osmanischer Geschichte, ein großes islamisches Imperium, sind schon sehr interessant.

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Islamische Zeitung: Ist deine Beschäftigung verbunden mit der, seit einigen Jahren in der Türkei steigenden Begeisterung für alles Osmanische?

Rasim Marz: Ich habe das Ganze für mich allein entdeckt. Die bisherige, türkische Geschichtsschreibung über die Osmanen lässt sich nicht mit der restlichen, europäischen vergleichen. Jahrzehntelang wurden die Osmanen in der Türkei geleugnet. Es ist ein großes Prob­lem, dass die türkischen Kemalisten eine Geschichtsschreibung vorgegeben haben, an die sich die Lehrpläne zu richten ­haben. Da gab es jahrzehntelang keinerlei Freiraum für eine unabhängige Forschung oder für eine andere Interpretation.

Ich hatte es mir zum Ziel gesetzt, mich mit der objektiven Forschung über die Osmanen zu beschäftigen und bin zu dem Fazit gekommen, dass das Osmani­sche Reiche eben kein rückständiger Staat war, sondern im 19. Jahrhundert eines der fortschrittlichsten Länder Europas war. „Der kranke Mann am Bosporus“ ist hier definitiv eine falsche Zuschreibung.

Islamische Zeitung: Welche Autoren muss man lesen, wenn man einiger­maßen wissen will, wer die Osmanen waren?

Rasim Marz: Halil Inalcik ist definitiv einer der wichtigsten Köpfe, die sich mit der osmanischen Geschichte beschäftigt haben. Professor Iler Ortay, der jetzige Direktor des Topkapi-Palastes, ist eng mit der Sultans-Dynastie ­befreundet. Er ist einer der wichtigsten, wenn nicht der bedeutendsten, in der neueren osma­nischen Forschung. Darüber hinaus gibt es noch den Journalisten und Autor Murat Bardakci, der es sich seit Jahrzehnten zur Aufgabe gemacht hat, die osmanische Geschichte so zu erzählen, dass sie auch für den kleinen Mann zu verstehen ist. Er hat beispielsweise über die Bedin­gungen des letzten Sultans in Italien geschrieben und was dieser durchmachen musste. Seit den 1980er Jahren ist die türkische Öffentlichkeit dabei, sie ­wieder auf ihre Geschichte zu besinnen. Sie identifiziert sich auch immer mehr mit den Osmanen.

Islamische Zeitung: Wie viel davon ist echtes Interesse und wie viel moderner Kitsch beziehungsweise die neue, türkische Außenpolitik?

Rasim Marz: Die Türkei wollte eigentlich immer regionale Supermacht sein. Man darf nicht vergessen, dass die Türkei die zahlenmäßig zweitstärkste Armee der NATO hat. Sie befindet sich geostrategisch in einer sehr wichtigen Lage. Der Bosporus und die ­Meerengen sind in der Welt schon ziemlich eizigartig. Seitdem die Wirtschaft in der Türkei wieder auf Touren läuft, besinnen sich die Menschen immer mehr aus die osmanische Geschichte. Die Türkei möch­te auch immer mehr Einfluss auf den Orient nehmen. Peter Scholl-Latour hat einmal gefragt: „Warum wollt ihr überhaupt in die EU? Als Träger des Khalifats ist es unter eurer Würde.“ Die Türken beziehungsweise das türkische Volk möchte auch gerne wieder eine solche Positionen einnehmen. In den letzten 80 Jahren herrschten ja recht schlechte Beziehungen zwischen Türken und Arabern. In den arabischen Nachfolgestaaten des osmanischen Reiches wurden die Türken ja zu einem Hassobjekt gemacht. Dort will man wieder rehabilitieren.

Islamische Zeitung: Wenn man sich das osmanische Modell in einigen Aspekten betrachtet, dann war es ein absolut nicht nationalistisches Modell. Der Osmane war ja nicht per se ein Türke, sondern Osmane war, wer Osmanisch sprach.

Rasim Marz: Bis 1856 war es im osmanischen Reich so, dass es ­verschiedene Millets, Religionsgemeinschaften, gab. Dazu gehörten die Muslime, die unter dem Schaikh ul-Islam organisiert waren. Dann gab es das armenisch-orthodoxe Patriarchat, das griechisch-orthodoxe Patriarchat und natürlich das jüdische Oberrabbinat. Dazu gab es noch viele kleinere Millets, die in den Jahrhunderten hinzukamen. Mitte des 19. Jahrhun­derts war das Millet-System so veraltet, dass es gerade nach Verlust großer Gebiete auf dem Balkan – Serbien, Griechenland und später Bulgarien – eine Suche nach Modellen gab, wie dieser einmalige Vielvölkerstaaten zusammengehalten werden sollte.

Die Lösung dafür war die Schaffung einer einheitlichen Identität. Im Artikel 8. der osmanischen Verfassung war zu lesen, dass jeder Osmane sei – ohne Rücksicht auf Herkunft und Religion. Gerade im Orient war das für die damaligen Verhältnisse eine überragende Leistung.

Islamische Zeitung: Das ging ja so weit, dass es sogar Deutsche zu Amt und Würden im osmanischen Reich brachten…

Rasim Marz: Ja, da haben wir beispielsweise Mehmet Emin Pascha, der, wäre er nicht in Bosnien ermordet worden, es hätte zum Großwesier bringen können.

1856 wurde ein Volk geschaffen, in dem die Religionen gleichgestellt wurden. Mit der Hoffnung, dass dieser Vielvölkerstaat erhalten bleibt. Klar, die muslimische Gemeinde war immer noch präsent und mächtig. Aber man darf nicht vergessen, Armenier oder Juden waren bedeutende gesellschaftliche Gruppen, die wichtige Bereiche des alltäglichen ­Lebens abdeckten. Nicht umsonst wurden die Armenier als „loyale Nation“ bezeichnet. Das Gemeinschaftsgefühl, des ein Osmane sein, hat wirklich alle verbunden. Insbesondere die Juden haben sich immer als Osmanen gesehen. Als 1917 Palästina durch die Briten im 1. Weltkrieg bedroht war, haben jüdische Verbände unter osmanischer Flagge gegen die Engländer gekämpft.

Wir finden in der osmanischen Geschichte Berichte bis zurück ins 15. Jahrhundert zurück, laut denen die ­Osmanen Übergriffe von Christen auf Juden unterbunden hatten. Laut Dokumenten aus der Zeit von Süleyman dem Prächtigen geht hervor, dass osmanische Behörden in Jerusalem jüdische Viertel schützten und beim Wiederaufbau halfen, griechisch-orthodoxe Christen jüdische Häuser in Brand setzten. Die osmanischen Behörden fungierten als Dritte immer als Friedensstifter in den Gemeinden. Das hat man 1918 ganz besonders gesehen, als die Osmanen aus Jerusalem abziehen mussten, weil die Briten vorgerückt sind. Direkt brachen die ersten Straßenkämpfe aus. Was wir heute in ­Palästina erleben – der Kampf zwischen Israelis und Palästinensern – entstand nicht erst mit der Gründung des ­Staates Israel, sondern geht viel weiter zurück. Mit dem Abzug der Osmanen war das friedliche Zusammenleben in Palästina am Ende. Dies waren nationalistische Gruppen, die ihre eigenen Ziele verfolgt haben und dabei waren, ihre eigenen Nationalstaaten zu gründen.

Islamische Zeitung: Der arabische Nationalismus dieser Zeit in der Region entstand ja im Wesentlichen auf Seiten christlicher Araber…

Rasim Marz: Richtig. Gerade diese christlichen Araber haben den kurzlebigen König des Hidschaz, Hussein, ­massiv unterstützt. Man muss immer bedenken, dass die Osmanen niemals den Wunsch hatten, irgendwelche Ethnien zu unterdrücken. Der Sultan hatte den offiziellen Titel des „Vaters der 300 Völker“. Zeigen Sie mir heute ein Land, das 300 Völker in Ruhe und Frieden beherbergt.

Islamische Zeitung: Kann man das osmanische Reich wirklich als „Staat“ verstehen? Der Begriff Devlet (arab. Daula) leitet sich ja aus der Zirkulation von Reichtum ab…

Rasim Marz: Die Osmanen-Forschung hat sich sehr intensiv mit dieser Frage beschäftigt. Es war ein Staat und zwar der „erhabene Staat“. Die Frage nach Reich oder Imperium ist eine umstrittene. Die Osmanen sprachen immer vom „erhabenen Staat“. Man wollte sich immer von den arabischen Staaten des Orients abgrenzen und bezeichnete sich als „Schatten Gottes auf Erden“. Dieser Titel stammte aber aus Turkestan. Der Haupttitel war Sultan der Sultan, oder Padischah. Offiziell wurde der Titel des Khalifen erst nach dem Vertrag von Kücük Kaynarca im 18. Jahrhundert geführt.

Die Osmanen hat drei Begründungen für ihre Titel: die islamische, die byzantinische und die turkestanische. Sie ­waren bemüht, Titel anzuhäufen, um ihren Machtbereich zu festigen. Yavuz Sultan Selim hat die Mamluken besiegt und damit die Khilafa übernommen.

Die Osmanen besetzten weit vor der Eroberung Istanbuls große Teile des Balkans und integrierten sie in ihr Reich. Fatih Sultan Mehmet, der unter anderem Griechisch, Latein und Jüdisch-Spanisch sprach, hat sich immer auch als Kaiser von Byzanz gesehen. Er sah sich als Nachfolger. Diese lange Kette der oströmischen Herrscher sollte nicht abgebrochen werden. Dies widerspricht ja nicht den islamischen Geboten.

Konstantinopel beziehungsweise Byzanz ist eine sehr besondere Stadt. Fatih Sultan Mehmet hat Historiker nach der Eroberung zu rufen lassen. Er wollte wissen, wie diese Stadt entstanden sei. Da hat er verstanden. Diese Stadt, die so alt ist und auf zwei Kontinenten liegt, jetzt ihm gehört.

Man darf nicht vergessen: Die heutigen Griechen haben es den Osmanen zu verdenken, dass ihre Religion überlebt hat. Ohne das orthodoxe Patriarchat hätten sich die Orthodoxen den Katholiken unterwerfen müssen. Die Eroberung Konstantinopels (im 3. Kreuzzug) durch die Katholiken haben die Griechen bis heute nicht vergessen. Es gab früher ­einen Spruch: „Lieber sehen wir den Turban des Sultans in der Stadt, als die Mitra des Papstes.“

Islamische Zeitung: Du bist ein 21-jähriger Westerwälder mit türkischen Wurzeln. Was fasziniert dich an den Osmanen?

Rasim Marz: Allen voran begeistert mich das friedliche Zusammenleben bei den Osmanen. Das haben wir hier auch, aber bei den Osmanen war es noch wesentlich intensiver. Geriet eine ­christliche Familie in Armut, kam der muslimische Nachbar und half aus.

Das ausgefeilte Sozialsystem der Osmanen kann man sich heute nicht mehr vorstellen. Ich habe sehr gute Kontakte zum osmanischen Archiv Istanbul. Die Forschung bezüglich des Stiftungswesens ist immer noch nicht beendet. Wir reden hier von Dokumenten auf einer Fläche von 10.000 Quadratmetern – nur über die Stiftungen des osmanischen Reiches. Das kann sich kein Laie ­vorstellen. Selbst des gegnerischen Habsburger mussten im 16. Jahrhundert einräumen, dass das osmanische Reich in bürokratischer und finanzieller Hinsicht ein Musterstaat war.

Ich glaube, dass wir in Deutschland das Modell des Zusammenlebens zwischen Christen und Muslimen überneh­men können. Warum ging es früher und nicht jetzt? Ich hatte in meiner Familie einen Ururgroßvater, der als deutscher Soldat in Palästina kämpfte. Damals, in den 1970er Jahren war die Kluft zwischen Deutschen und Türken noch sehr groß. Aber gerade dieser hochbetagte Mann war der erste in meiner Familie, der meinen türkischen Vater willkommen hieß.

Islamische Zeitung: Lieber Rasim, vielen Dank für das Interview.