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Wir können wir in Gemeinschaft leben?

Ausgabe 349

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Foto: Freepil.com

Geht es um Gemeinschaft und Beisammensein kollidieren bei vielen Anspruch und Wirklichkeit bzw. eine Norm wird in Relation zur Realität gesetzt. 

(iz). Die Reaktionen waren in den letzten Jahren gemischt: Einige zogen sich ins Private zurück, mancher ging in die innermuslimische Öffentlichkeit, um Barrieren offen anzusprechen und andere verarbeiten das Thema idealistisch. Schaikh Habib Bewley, Schaikh Yousef Wahb & S. Wilms

Muslime und Gemeinschaft: Wo stehen wir?

Im November 2021 (mitten in der Pandemie) veröffentlichte Leonard Sezgin-Just seinen nachdenklichen Essay „Weitermachen: Fluchtpläne aus der geistigen Enklave“, in dem er auf die innere Lage der muslimischen Community in Deutschland einging.

Er stellte sich auch die Frage, ob es derzeit so etwas wie ein muslimisches Subjekt gebe. Er konstatierte, dass hinter einer „omnipräsenten Stimmung der Lähmung“ mehr steckt als „bloße Durststrecken in Einzelbiografien“. Damit tat er etwas Entscheidendes und dachte über unser Selbst nach und versucht eine Standortbestimmung, anstatt einer bloßen Reaktion auf dominante Diskurse.

Ebenso wichtig ist die Feststellung, dass wir es hier mit Menschen mit „einem ungeheuren intellektuellen und künstlerischen Potenzial“ zu tun haben. Ihre positive Möglichkeit wird zu selten von außen und innen gesehen.

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Insbesondere gesamtgesellschaftlich gelten junge Muslime häufig als Problem, das zu behandeln wäre. Hier weist er auf etwas anderes hin: Trotz „aller Zersplitterungen und Verwerfungen“ sieht er bei ihnen ein „lebendiges Gruppenbewusstsein“.

Ob gewollt oder nicht führt der Autor damit in einen wichtigen Aspekt ein, der im innermuslimischen Gespräch leider randständig geblieben ist: Asabiyya, oder Gruppensolidarität, wie sie von Ibn Khaldun beschrieben wurde. Bedauerlicherweise wurde und wird sie von vielen als Tribalismus missverstanden.

Das behinderte bisher das ohnehin schwierige Wachstum eines Subjektcharakters. Ohne ein Mindestmaß ist die vom Autor gezeichnete Lage kaum aufzulösen. Ironischerweise ist gelegentlich bei intellektuellen MuslimInnen eine seltsame Dissonanz mit Community zu finden. Manche haben das in ihr Sprechen integriert, wenn sie betonen, „kein Teil einer Gemeinschaft“ zu sein.

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Foto: Muslimische DiaLogen | Rat Berliner Imame

Warum Gemeinschaft?

Sie ist der Schlüssel zum Erfolg des menschlichen Wesens. Es gibt Dinge im Laufe des Lebens, die wir nicht alleine bewältigen können und nicht durch uns selbst überwinden können. Es ist egal, welche Strukturen wir errichteten. Isolation zerstört uns. Aber das Modell der Moderne ist eines des stetig anwachsenden Alleinseins, bei dem der Staat als Ersatz für Mitmenschen agiert.

Im muslimischen Denken ist sie klar die Antwort für Schwierigkeiten, aber es ist genauso offenkundig, dass jede Generation beobachtet, wie sie sich weiter auflöst. Also ist es unsere Aufgabe, sie wiederzubeleben. Wir kennen sie besser als die meisten anderen, denn wir wissen um ihre Bedeutung. Gemeinschaft bedeutet uns – immerhin normativ – noch etwas. Wir haben ein Maß an Geschwisterlichkeit und Dschama’at. Sie waren immer der Eckstein unseres großen Dins.

Wir wurden nicht von Allah geschaffen, um alleine als Einsiedler zu leben. Das bedingt Austausch und keinen Rückzug. Das Beispiel des Propheten, möge Allah ihn segnen und ihm Frieden geben, war das Knüpfen von Bindungen und nicht ihre Trennung. Dieser Din ist einer der sozialen Interaktionen und der gemeinsamen Anbetung, nicht nur der individuellen ‘Ibadat.

Die Vervollkommnung aller Säulen des Islam findet sich nur in Gemeinschaft. Das Glaubensbekenntnis ist nicht besiegelt, solange es nicht bezeugt wird. Das Gebet ist bedeutungsvoller und wertvoller gemeinsam mit anderen.

Zakat wird nicht an sich selbst gezahlt, sondern an die Bedürftigen der Gesellschaft. Fasten lässt sich am besten mit Mitmenschen brechen. Das Bittgebet wird eher beantwortet, wenn es einen breiten Rahmen hat und mehr Menschen miteinbezogen werden.

Der Prophet, möge Allah ihn segnen und ihm Frieden geben, sagte: „Die Hand der Barmherzigkeit Allahs ist mit der Gruppe.“ Diese Dschama’at, von der wir sprechen, ist nicht nur eine wahllos zusammengewürfelte Sammlung von Leuten.

Gesellschaft kann schädlich sein, wenn sie auf der Lüge basiert und nicht auf Wahrheit. Man muss nur die zerstörerische Wirkung eines Mobs betrachten. Menschen, die auf der persönlichen Ebene scheinbar zivilisiert und vernünftig sein können, können als Gruppe verrückt und irre handeln.

Das Geheimnis des Erfolgs in dieser Sache ist – wie bei allen anderen – Unterscheidungsvermögen (arab. Furqan). Diejenigen, mit denen wir Zeit verbringen, prägen unser Selbst. Sie werden einen auf ihr Niveau bringen – ungeachtet der eigenen Qualitäten –, bis man so wie sie wird. Das ist die unausweichliche Konsequenz von Gesellschaft. Die Folgen sind schnell zu spüren und können innerhalb von Wochen permanent werden.

Wer vierzig Tage mit einer Gruppe verbringt, wird einer von ihnen. Der Gesandte Allahs, möge Allah ihn segnen und ihm Frieden geben, sagte: „Männer folgen dem Din ihres engen Freundes. Also schaut genau hin, mit wem ihr euch anfreundet.“ Sind die Leute rechtschaffen bzw. handeln sie falsch? Verbringen sie ihr Leben mit nützlichen Dingen oder sinnloser Zeitverschwendung?

Wie sieht das angemessene Umfeld aus?

Sobald man die richtigen Menschen gefunden hat, soll man an ihrer Gesellschaft festhalten und sie niemals loslassen. Man sollte wissen, dass es zwei Arten von Gemeinschaft gibt – den breiteren sowie den inneren Kreis. Wir müssen beide haben, um sicher zu sein. Wir brauchen die zweite Stufe der Dschama’at, um wirklich überleben zu können.

Dieser Kreis korrespondiert mit unserem gelebten Alltag. Es sind die Leute, mit denen wir tatsächlich regelmäßig Zeit verbringen. Solch eine Gruppe von Männern und Frauen muss in der Lage sein, sich aufeinander zu verlassen – durch dick und dünn, Überfluss und Hunger.

Sie sind füreinander da – in den besten Zeiten und den schlimmsten. Solche Leute brauchen keine Katastrophen, um großzügig, liebend und menschlich zu sein. Sie sollten klar, offen und frei sein. Und es darf weder Tratsch noch üble Nachrede geben. In diesem Fall können wir nicht auf Erfolg hoffen.

Im Nachwort seines Buches „The Entire City“ schreibt Schaikh Dr. Abdalqadir as-Sufi: „Entscheidend sind einige wenige Gefährten für Gesellschaft im Dunklen.“ Ein Kreis von „Männern und Frauen, die nicht durch Blut oder Rang verbunden sind, sondern eine geteilte Qualität des Lebens, die reine Anbetung des Herrn der Welt verlangt. Ein anhaltender Wettstreit unter seinen Mitgliedern“ in Großzügigkeit, Hilfe, Wachstum, Lernen und gegenseitiger Sorge.

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Foto: Yaseer Booley

Muslimische Gemeinschaften haben auch Pflichten

Unsere Communitys haben nicht nur die Pflicht, Handlungen der Anbetungen wie dem Gebet zu etablieren, sondern müssen auch eine weite Spannbreite anderer wesentlicher sozialer und ökonomischer Dienstleistungen anbieten.

Als Gemeinschaft stehen wir in der Verantwortung, nach dem körperlichen, geistigen und spirituellen Wohlergehen des Anderen zu schauen. Der Gesandte Allahs, möge Allah ihn segnen und ihm Frieden geben, sagte: „Die Beziehung des Gläubigen zu einem anderen Gläubigen ist wie (die Ziegelsteine eines) Gebäudes: jeder stärkt den anderen.“

Religiöse Verpflichtungen haben viele Facetten im Recht. Dazu gehören einige, spezifische Handlungen wie das fünfmalige tägliche Gebet. Es gibt aber auch die Wahl zwischen einem Bestand an Pflichtangeboten wie die verschiedenen Möglichkeiten, ein gebrochenes Fasten wieder gut zu machen.

Juristen haben viele Belege für die Existenz von Gemeinschaftspflichten gesammelt. Dazu gehörten Qur’anverse in Hinblick auf die Verteilung wesentlicher Verantwortlichkeiten unter den Gemeinschaftsmitgliedern und die soziale Pflicht des Aufrufs zum Guten und der Verhinderung des Schlechten.

Wie es mehrheitlich unter Muslimen bekannt ist, bedeutet Fard Kifaya, dass ihre Erfüllung – durch eine unbestimmte Anzahl an Handlungspflichtigen (arab. mukallafin) – andere Mitglieder von ihr entbindet. Wenn niemand dies tut, dann stehen alle Teile in der Pflicht.

Aufgrund des breiten Spektrums bei Anwendungen von gemeinschaftlichen Obligationen haben einige Gelehrte sie entsprechend ihrer Vorteile kategorisiert; andere nach ihren Kontexten. Al-Ghazali beispielsweise übernahm eine dreigeteilte Taxonomie: religiös, weltlich oder gemischt. Auf der anderen Seite akzeptierten Al-Qarafi, As-Subki und Al-Zarkaschi einen Unterschied zwischen: 1.) was einmalig geleistet werden muss wie die Rettung eines Ertrinkenden und: 2.) was immer getan werden muss, wenn es nötig wird, wie Totengebete oder die Bildung von Kindern.

Verteilt über die Rechtsbücher finden sich Beispiele für diese Pflichten bzw. sie werden in Büchern zu juristischen Maximen wie As-Suyutis „Al-Aschbah wa’an-Nazir“ aufgezählt. Dabei lassen sich unterschiedliche thematische Schwerpunkte (in verschiedenen Schulen und nach objektiven Zielen) ausmachen.

Dazu gehören rituelle Handlungen, soziale Dienstleistungen und Wohlfahrt, der Aufruf zum Guten, Erziehung und Einladung zum Islam, die Verbreitung und Aneignung von Wissen oder bürgerliche Tugenden.

Entgegen dem heutigen Trend zur religiösen Individualisierung sind die Rituale der Anbetung oft gemeinschaftlich vorgesehen. Zwei der bekanntesten Beispiele sind die Bestattung von Toten und das Gebet für sie. Ein weiteres die Etablierung (mehr als nur die Verrichtung) des Gebets – der fünfmal täglichen, am Freitag, den Feiertagen sowie bei einer Mondfinsternis. Andere sind die Bestimmung der Gebetsrichtung, die Organisation des Hadsch und der gegebenenfalls nötige Moscheebau sowie ihr Unterhalt und Schutz.