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Wie können wir mit Schmerz ­umgehen?

Ausgabe 307

Foto: motortion, Adobe Stock

Schmerz. Wir können ihm nicht entkommen. Schmerz ist unausweichlich in unserem Leben. Wir sind hier, um geprüft zu werden und um unseren Rang im Jenseits festzulegen. Diese Prüfungen äußern sich in breiten Phasen der Erleichterung (die Dankbarkeit verlangt) und gelegentlichen Schwierigkeiten (die eine Kombination aus Geduld und Erwartung auf göttliche Belohnung bedingen).

Von Shaykh Abdul-Rahim Reasat

Die Vorteile, die aus diesen Prüfungen erwachsen, sind vielfältig und verdienen einen genaueren Blick. Vorher muss diese Sache jedoch verstanden, gefühlt, erfahren und verarbeitet werden.

Auf diese Weise färben diese Vorteile die Wahrnehmung eines Gläubigen mit den Tönen eines tieferen Glaubens. Derart wird man formbar für  Prüfungen, die sich uns ereignen, um uns zu besseren Versionen unserer selbst zu formen. So poliert uns die Reibung des Schmerzes bis zu dem Punkt, an dem wir glitzern und glänzen.

Der Prophet
Das Weglaufen von Beschwernis, sein Ausblenden mit Ablenkungen oder vermeintliche Darstellungen von Stärke leugnet die oben aufgezeichneten Vorteile. Das größte Beispiel in Gottes Schöpfung, Allahs Frieden und Segen auf ihm, setzte sich profund mit seiner menschlichen Erfahrung auseinander, während er innerhalb der Dienerschaft gegenüber Allah blieb.

Als sein Sohn Ibrahim im Kleinkindalter starb, sagte er: „Wahrlich die Augen weinen und das Herz trauert. Und doch sagen wir nichts als das, was unserem liebenden Herrn gefällt. Durch Dein Ableben, O Ibrahim, sind wir wahrlich betrübt.“ (Bukhari)

Er spürte die Emotionen und ließ die körperliche Antwort zu, mit der Allah uns erschuf sowie drückte er aus, was er fühlte. Das wurde gemäßigt durch die Begrenzung der Trauer auf Worte, die seine Nähe zu Allah nur steigerte. Das ist die Antwort von jemandem, der den Zweck und Nutzen von Prüfungen und Leid verstanden hat.

Die Verarbeitung?
Neben den Aspekten der gesegneten Worte des Gesandten Allahs, möge Allah ihn segnen und ihm Frieden geben, finden wir andere Segnungen in der umfassenden qur’anischen Rechtleitung. Sie gibt uns ein Verständnis der innewohnenden (und dennoch gelegentlich verschlossenen) Schönheit der Prüfung. Und wir erhalten eine Vorahnung des unausweichlichen Vorkommens solcher Ereignisse.

Beide Angelegenheiten gewähren den Gläubigen ein tiefes Begreifen der Weisheit hinter diesen Prüfungen. Uns wird geholfen, wenn wir sehen, dass wir wachsen und von ihnen profitieren können. Ohne sind wir paralysiert durch den Schmerz, denn wir begreifen diese Sache nicht, wie wir es sollten.

Auf eine angemessene Stärke hinarbeiten
Sura Al-Hadid ist ein Ozean, in dem wir Wellen voller Güte und Rechtleitung finden. Hier gibt es insbesondere zwei Verse, die uns den Weg in der Behandlung der vorliegenden Frage besonders erhellen. Wir werden kurz auf sie eingehen. „Kein Unglück trifft ein auf der Erde oder bei euch selbst, ohne dass es in einem Buch (verzeichnet) wäre, bevor Wir es erschaffen. Gewiss, dies ist Allah ein Leichtes – damit ihr nicht betrübt seid über das, was euch entgangen ist, und euch nicht (zu sehr) freut über das, was Er euch gegeben hat. Und Allah liebt niemanden, der eingebildet und prahlerisch ist.“ (Al-Hadid, Sure 57, 22-3)

„Was trifft, sollte niemals das Ziel verpassen“
Das erste bemerkenswerte Wort ist „asaaba“. Seine Wurzel bezieht sich in der Bedeutung auf das Erscheinen von Ereignissen in einer angemessenen Weise. Zusätzlich gibt es eine Spur von fließendem Wasser, das sich an einem Ort sammelt. Eine Ableitung der Wurzel dieses Wortes bezeichnet einen Pfeil, der sein Ziel trifft. Beziehen wir diese Nuancen mit ein, dann sehen wir, dass jede Prüfung in unserem Leben auf uns zugeschnitten ist. Sie wurde für uns gemacht. Sie hat ihr Ziel getroffen. Wir können ihr nicht entkommen und Spekulationen über „was wäre, wenn (…)“-Szenarios sind fruchtlos.

Sie kam zur richtigen Zeit, auf die passende Weise und mit der nötigen Intensität. Sie konnte uns weder verfehlen, noch überholen. Das ist wunderschön in diesem Hadith ausgedrückt: „Wisset, was euch trifft, sollte euch niemals verfehlen. Und was euch verfehlt, sollte euch niemals treffen.“ (Tirmidhi)

Das bringt uns Erleichterung. Wir treffen die nötigen Vorkehrungen, aber wissen auch, dass Schwierigkeiten in unser Leben kommen werden. Uns ist bewusst, dass all diese Dinge für uns gedacht sind.

Die Folge ist Befreiung von der Paranoia sowie der übertriebenen Furcht vor dem bösen Auge und anderen Angelegenheiten. Sie können den Eindruck erzeugen, dass Allah nicht die vollkommene Kontrolle hat.

Ein Gläubiger fühlt sich wohl und weiß, dass alles, was passiert, maßgeschneidert ist, um ihn durch einen Weg in seinem Leben zu bringen. Alles ist perfekt für seinen langfristigen, dauerhaften Nutzen geeignet.

Passgenau
Wir können sicher sein, dass jedes ­Geschehen nicht nur unausweichlich ist, sondern zusätzlich maßgeschneidert. Was zutrifft, ist perfekt und schön, wie die Pfeile, die ein Ziel verfehlen, wenn dies für sie vorgesehen wurde. Wie können wir das wissen? Zur Beschreibung der Entstehung von Bedrängnissen benutzt Allah ein Verb, das der Wurzel „bara“ entstammt. Es wird als „schaffen“ verstanden. Eine tiefere Analyse verweist auf die Bedeutung der Makellosigkeit. Das gibt uns das Verständnis von etwas Vollkommenen oder perfekt Geformten.

Wenn wir diese Feinheiten in die Lektüre einfließen lassen, erhalten wir das Verständnis, wonach alle Prüfungen von Gott perfekt geplant und gestaltet wurden, um die bestmögliche Situation für uns zu schaffen – mit Blick auf die Ewigkeit. Der Vorteil der Prüfung besteht darin, im Paradies die unsterbliche Version eines jeden Gläubigen zu erheben.

Dieser ist die Leinwand und die Bedrängung ist die Farbe, welche die unberührte Natur des Untergrunds verändert. Wenn man sich auf den tatsächlichen Kontaktpunkt konzentriert, kann man denken, dass die Tönung die perfekte weiße Leinwand befleckt hat. Wenn man jedoch zurücktritt und mit einem Blick schaut, der die Verschmelzung der einzelnen „Flecken“ zeigt, entsteht ein Bild von auffallender Schönheit, Feinheit, Bedeutung, Kunstfertigkeit und Geschicklichkeit. So sind alle Prüfungen für den Gläubigen. Und Allah ist der perfekte Architekt, der ihr Leben gestaltet hat.

Was bleibt, ist die angemessene Antwort. Der Gesandte Allahs, möge Allah ihn segnen und ihm Frieden geben, sagte hierzu: „Wie wunderbar ist die Angelegenheit des Gläubigen! Alles, was ihm geschieht, ist gut und dies gilt für niemand anderen als den Gläubigen. Wenn ihm etwas Gutes widerfährt, ist er dankbar und das ist gut für ihn. Wenn ihm etwas Schlechtes geschieht, erträgt er es mit Geduld und dies ist gut für ihn.“

Geschick
Jede uns befallende Bedrängnis wurde vorab von Allah, dem vollkommenen Schöpfer, gestaltet. Der obige Vers beinhaltet Rechtleitung über allgemeine Dinge wie Pandemien, wirtschaftliche Schwierigkeiten, Naturkatastrophen und andere weitreichende Prüfungen. Er beleuchtet auch den persönlichen Schmerz des Einzelnen, der härter trifft und vom Individuum intensiver gefühlt wird.

Die Kenntnis, wonach Allah die Dinge kennt und sie Seinem Geschick unter­liegen, ist ebenfalls ein großer Segen. Mit diesem Wissen können wir Leid effektiver verarbeiten.

Unkenntnis kann uns zu übermäßiger Trauer führen, die uns zurückhält. Und Erleichterung kann manchmal bewirken, dass wir uns zu sehr auf die Segnungen konzentrieren und vergessen, dass sie von Allah kommen. Eine negative Folge sind Arroganz und Prahlerei. Denn wir beginnen zu glauben, wir hätten sie verdient und seien daher anderen Menschen überlegen, die sie nicht empfangen. Wir müssen uns bewusst sein, dass die Schleudern und Pfeile des Glücks gnädig sind. Man muss sich nicht gegen das Meer der Probleme wehren, denn seine Wellen spülen Segnungen an unsere Ufer.

Vorbereitung
Das Wissen, dass alle Dinge vorherbestimmt sind, verleiht dem Gläubigen eine andere Sicht auf sie. Die Prüfungen des Lebens kommen mit Gewissheit, aber sie bringen mit sich Weisheit und hinterlassen Geschenke und Güte bei ihrem Verlassen.

Zu erleben, dass ein geliebter Mensch, der zu einer festgelegten Zeit ins Jenseits übergeht, uns verlassen sollte, erleichtert den Abschied. Der Schmerz ist da, wie der Prophet ausdrückte. Das ist der menschliche Zustand. Leid lässt nach, wenn wir wissen, dass die Dinge von ­Allah geleitet werden, der unsere besten Interessen im Auge hat – mehr als wir selbst. Er sieht, was wir nicht erkennen, und weiß, was wir nicht kennen.

Zu wissen, dass dies die Natur dieses Lebens ist, ermöglicht es dem Gläubigen, sich vorzubereiten. Segen wird genossen, aber er lenkt einen nicht vom Gebenden ab. Der Schmerz der Prüfungen ist fühlbar, aber er entwickelt den Gläubigen. Er kommt Gott näher und bringt weitere Gaben von ihm.

Die Trauer und das Glück nutzen, wenn wir wissen, dass es sich um eine Prüfung handelt, die letztendlich dazu dient, einen im Paradies auf eine höhere Stufe zu bringen. Würden sie fehlen, wären sie für den Gläubigen dysfunktional. Sie hindern ihn an seinem langfristigen Nutzen. Deshalb kann man vorbereitet und so gewappnet sein.