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Auf Spurensuche im geheimen Polen (1)

Ausgabe 307

(iz). Was fällt uns ein, wenn die Geschichte des Islam in ­Europa beschworen wird? Man denkt an die Mezquita von Cordoba oder die Alhambra in Granada; oder Sizilien unter arabischer und normannischer Herrschaft. Und die lange osmanische Anwesenheit auf dem Balkan sowie die Schönheit Bosniens und Albaniens.

Von Leyla Jagiella

Aber Polen? Würde einem Polen einfallen? Wahrscheinlich nicht. Als Land erscheint es heute beinah monoethnisch und überwältigend katholisch. Üblicherweise wird es nicht mit islamischer ­Geschichte in Verbindung gebracht. Vielleicht abgesehen von der Tatsache, dass König Jan Sobieski III. die osmanischen Truppen im 17. Jahrhundert vor den Toren Wiens besiegte und damit „Europa“ (das heißt, Westeuropa) vor einer islamischen Übernahme rettete. Eine Tatsache, an die sich europäische Rechtspopulisten heute überall oft breitspurig erinnern und die von weißen Terroristen wie Anders Breivik oder dem Moschee-Schützen von Christchurch gefeiert wurde. Heutige polnische Konservative und Nationa­listen, die meisten offene Rassisten und Islamophobe, instrumentalisieren diese Periode erheblich. Sie glauben an eine ewige, heilige Mission Polens als „Europas Bollwerk gegen den Islam“.

Ein genauerer Blick auf dieses Stück Geschichte zeigt jedoch erschütternde Brüche im gefälligen Narrativ, das sowohl von internationalen Rechtsextremen als auch polnisch-katholischen Nationalisten verkauft wird. Jan Sobieski war aus politischen Gründen Feind der Osmanen. Er war gewiss sehr polnisch und katholisch. Gleichzeitig war er auch großer ­Bewunderer der osmanischen Kultur.

Er bevorzugte die osmanische Küche vor jeder anderen und sprach fließend Türkisch. Als junger Mann verbrachte er einige Jahre in der osmanischen Hauptstadt Istanbul – eine Erfahrung mit bleibendem Eindruck für ihn. Des Weiteren kleidete er sich ausschließlich im „sarmatischen“ Stil – einer Mode, die vom 16. bis zum 19. Jahrhundert beim polnischen Adel beliebt war. Inspiriert wurde sie von osmanischer, tatarischer, persischer und sogar mogul-indischer Mode. Als pol­nischer Gentlemen des 17. Jahrhunderts wäre er an Orten wie Istanbul, Isfahan oder Delhi weniger aufgefallen als in Paris oder Wien.

„Sarmatische“ Mode war inspiriert durch die romantische Ideologie des „Sarmatismus“, die polnische Adlige glauben ließ, sie wären Nachkommen der Sarmaten gewesen. Das war ein antikes Reitervolk der eurasischen Steppe, das eigentlich einen iranischen Dialekt sprach, der mit dem heutigen Ossetisch, Jaghnobisch und (eher entfernter) dem Paschtu verwandt war. Polnische Adlige der Zeit betrachten sie als enge Verwandte von Türken und Tataren. Daher sah sich dieser Adel als perfekte Mischung aus Osten und Westen: katholisch und ­gebildet in Latein, aber von Asiens Reiterkriegern abstammend. Eine Legende besagt, dass die polnischen Kräfte während der Schlacht um Wien von anderen christlichen Verbündeten gebeten worden seien, sich durch ein wenig Stroh an ihren Helmen hervorzuheben. Ansonsten hätte man sie nicht von osmanischen Soldaten unterscheiden können.

Gelehrte der südasiatischen Kunst und Geschichte haben manchmal spekuliert, ob sich das Königreich Vijayanagar nicht als „islamisiertes Königreich“ bezeichnen ließe. Selbst wenn es von Hindukönigen regiert und einer großen hinduistischen Bevölkerung bewohnt wurde, übernahmen seine Könige und Eliten Moden und andere kulturelle Ausdrucksweisen ihrer muslimischen Nachbarn im Norden. Ebenso könnte man annehmen, dass das frühmoderne Königreich Polen ein ­islamisiertes Gemeinwesen war.

Ein noch genauerer Blick auf König Jan Sobieski III. sowie die Schlacht von Wien zeigt mehr verwirrendere Brüche mit modernen polnischen und europä­ischen Narrativen. Der Kampf war überhaupt nicht zwischen rein christlichen und rein muslimischen Kräften. Es gab viele christliche Einheiten, die freiwillig auf osmanischer Seite fochten. Insbesondere ungarische und siebenbürgische Protestanten zogen es oft vor, für die Osmanen zu kämpfen. Andererseits operierten muslimische Kräfte auf der „christlichen“ Seite. Insbesondere waren das mehrere tausend muslimische Tataren unter dem Kommando von Jan Sobieski III.

Deren Vorfahren waren zu diesem Zeitpunkt schon mehrere Jahrhunderte lang fester Bestand von Polens Gesellschaft. Sie befanden sich seit Tokhtamisch im Land. Er war Khan der Goldenen Horde und hatte sich mit seinem früheren Freund und Verbündeten Amir ­Timur überworfen (dem gleichen Timur, der in der europäischen Geschichtsschreibung als Tamerlan bekannt ist, und der durch seinen Urenkel Babur zum Vorfahr der südasiatischen Moguldynastie wurde). Mit einigen verlässlichen Freunden suchte der Khan Zuflucht auf dem ­Gebiet eines anderen Freundes, König Jagiełło von Polen. Tokhtamischs Sohn, Dschalaluddin Khan, kämpfte später 1410 auf Seiten Jagiełłos gegen die Ritter des Deutschen Ordens. Der polnische Sieg bei der Schlacht von Grünwald (oder Tannenberg, Anm.d.Red.) wurde häufig der Hilfe des Khans und seiner Truppen zugeschrieben. Seitdem siedelten tata­rische Muslime in Polen, dienten seiner Krone und spielten eine wichtige Rolle bei der kulturellen Übermittlung zwischen Polen, tatarischen Khanaten im Osten sowie dem Osmanischen Reich. Dadurch trugen sie zum Sarmatismus und seiner Mode bei.

Im Verlaufe der Jahrhunderte trat ein Großteil dieser Gemeinschaft zum Katholizismus über und assimilierte sich. Historisch veränderte Grenzen führten dazu, dass sich mehrere tausend Mitglieder der Gemeinschaft nicht innerhalb der heutigen polnischen Grenzen, sondern in Litauen, Weißrussland oder der Ukraine befinden. Eine Reihe von ihnen wanderte zu Beginn des 20. Jahrhunderts in die USA aus, wo sie in Brooklyn eine der frühesten Moscheen Nordamerikas gründeten. Etwa zeitgleich wanderten andere in die Türkei, auf die Krim oder nach Aserbaidschan aus. Jahrhunderte früher zogen einige polnische Tataren zu einer Zeit in das Osmanische Reich, als das Königreich betont katholischer wurde und religiöse Freiheiten beschränkt wurden. Durch Assimilierung, Grenzverschiebungen sowie Auswanderungswellen schrumpfte die Gemeinschaft zu einem kleinen Rest zusammen. Aber immer noch gibt es in Polen tausende tatarische Muslime und sie halten an ihrem islamischen Glauben fest. Ihre ältere polnisch-islamische Identität und Praxis kollidiert oft mit Vorstellungen und Bräuchen neuerer muslimischer Zuwanderer.

Väterlicherseits bin ich polnischer Herkunft und übrigens auch Muslim. Doch ich wuchs nicht in einer tatarisch-muslimischen Familie auf. Meine direkten Vorfahren waren guten Katholiken. Es gibt eine Familienlegende über eine angebliche alte tatarische Herkunft. Sie faszinierte mich seit frühester Kindheit, aber ich konnte ihre Echtheit nie bestätigen. Als Erwachsene verstehe ich es mehr als Chiffre. Als mythischen Ausdruck eines kulturellen Gedächtnisses, das an die ­Bedeutung erinnert und sie anerkennt, die tatarische Muslime und deren Einfluss einst in der polnischen Geschichte hatten – obwohl sie heute oft vergessen oder unterdrückt werden. Näher an der vergangenen Realität ist der Fakt, dass meine Familie ihren Namen tatsächlich dem gleichen König Jagiełło verdankt, der mit Tokhtamisch und Dschalaluddin Khan kämpfte. Und mein Urgroßvater lebte einige Jahre im osmanischen Istanbul. Wie König Jan Sobieski fand er Gefallen an dortiger Kleidung und Kultur. So habe ich mich immer verbunden gefühlt mit der Geschichte sowohl des polnischen Samartismus und der muslimisch-tatarischen Gemeinschaft.

Wenn man weiß, wo zu suchen ist, kann man die islamische Geschichte Polens und der Nachbarländer leicht ausgraben. Ich habe meine eigene kleine ­Pilgerreise unternommen, um historische Sehenswürdigkeiten zu erkunden und muslimische Gemeinden zu besuchen – eine Reise, die mich in das alte polnisch-litauische Königreich führte, beinahe von der Ostsee bis zum Schwarzen Meer.

Ich begann am Ufer der Ostsee, der Stadt mit den drei Namen: Gdańsk (polnisch), Gdańsk (kaschubisch) und Danzig (deutsch). Sie gilt oft als die „westlichste“ aller polnischen Städte und blieb offen für das Meer und die jenseitigen Länder Skandinaviens. Lange Zeit stand sie unter starkem deutschen Einfluss. Trotzdem war sie Ausgangspunkt für viele Reisen in die muslimische Welt. Im Mittelalter schrieben arabische Chronisten über die riesigen Handelszentren an diesen Küsten. Hier kaufte die muslimische Welt Bernsteine, Felle und Sklaven. ­Bündel an Dirhams und Dinaren aus Zentralasien wurden bei polnischen ­Ausgrabungsstätten gefunden, was die Bedeutung dieser Handelsnetze bekräftigt. Im 17. Jahrhundert traf der französische Reisende Jean-Baptiste Tavernier einige Armenier aus Gdańsk, die in Mogul-Indien mit baltischem Bernstein handelten. Auf ihrem langen Rückweg haben diese Armenier wohl die teuren nordindischen, kaschmirischen und iranischen Textilien mit sich geführt, die der polnische Adel seiner Zeit so sehr bevorzugte.

Evliyâ Çelebi, der bekannte osmanische Reisende des 17. Jahrhunderts, berichtete, dass polnische Tataren zur Danziger St. Nikolaus-Kirche pilgerten. Sie glaubten, der türkische Sufi-Heilige Sari Saltuk sei dort begraben. Heutige ­polnische Tataren betrachten die Kirche nicht mehr als Pilgerort, aber sehen Gdańsk weiterhin als Ort von religiöser Bedeutung an. In den 1920er und 1930er Jahren entstand hier eine lebendige tatarisch-muslimische Gemeinschaft, als Gdańsk „freie Stadt“ war. Sie war unabhängig vom neu gegründeten Polen und dem Deutschen Reich und stand unter Verwaltung des Völkerbunds. Ihre Mitglieder kamen hierher aus dem Osten des Landes auf der Suche nach Arbeit und wirtschaftlicher Stabilität, aber erlebten die Stadt auch als Ort mit frischer und freier Luft – entfernt von den rigiden, konservativen Heimatdörfern. Die kleine tatarische Gemeinschaft wurde zum Knotenpunkt für den „Jadidismus“ – einer modernistischen Reformbewegung, die unter tatarischen Muslimen in Russland entstand.

Nach dem Zweiten Weltkrieg mussten die deutschsprachigen Teile der Stadt nach Westen fliehen. Gleichzeitig nahm sie viele polnische Flüchtlinge aus den Gebieten auf, die an die Sowjetunion abgetreten werden mussten. Unter ihnen fand sich eine erhebliche Menge polnischsprachiger, tatarischer Muslime aus dem, was heute Litauen und Belarus ist. Die so aufgefrischte Gemeinschaft plante den Bau einer Moschee. Die Neuankömmlinge halfen. Und so begann der Bau der neuen Moschee von Gdańsk im Jahre 1984. Schließlich eröffnete sie im Juli 1990 ihre Türen für Gläubige und Besucher.

Das weiße Gebäude sollte Modernität und Weltläufigkeit signalisieren. Das Minarett scheint von osmanischen Beispielen inspiriert zu sein, die Kuppel vage südasiatisch und der Haupteingang ­erscheint verschwommen andalusisch. Sie unterscheidet sich erheblich von den traditionellen polnischen Dorfmoscheen. Während der Eröffnung hielt eines der aktivsten weiblichen Mitglieder der tata­risch-muslimischen Gemeinschaft Danzigs, Dżemila Smajkiewicz-Murman, eine Rede, die eine Welt weit entfernt von ­dieser unberührten neuen Moschee ­beschwor.

Sie erinnerte sich an die alte Holzmoschee ihrer Geburtsstadt Vilnius (dt. Wilna, poln. Wilno): „Jetzt, nachdem ich nach so vielen Jahren auf meine Kindheit zurückblicke, sehe ich ein kleines Mädchen, das mit meinem Großvater zur Moschee schlendert; zur Moschee in Vilnius, die es nicht länger gibt. Ich sehe meinen Großvater, Ibrahim Smajkiewicz, und Imam von Vilnius, wie er die Prinzipien des Islam erklärt. Und jeden Morgen höre ich seine Stimme im Gebet. Und ich bete zusammen mit meinem Opa, der mir erklärt, dass dieser ‘Teppich für das Gebet’ (Namaziyk) hoch geschätzt werden müsse, denn in ihm ist ein Stück Stoff eingewebt, dass die Ka’aba bedeckte und das von Mufti Szynkiewicz mitgebracht wurde. Jetzt scheint mich dieses kleine Stoffstück, immer noch gegenwärtig in meinem Geist, nach Mekka zu führen, wo ich das Ganze sehen werde.“

Der Text wurde zuerst im englischsprachigen Magazin „Critical Muslim“ veröffentlicht. Übersetzung und Abdruck mit Genehmigung der Autorin.