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„Wir hoffen, dass die Leute einen Nutzen ziehen“

Ausgabe 263

Foto: Khalil Mitchell

(iz). „Blessed are the Strangers“ ist ein Dokumentarfilm über die erste muslimische Gemeinde der englischen Stadt Norwich. Vor mehr als vierzig Jahren kamen dort Konvertierte – damals britische Hippies und schwarze Aktivisten mit karibischen Wurzeln – zusammen und gründeten eine Moschee, die für Muslime wie auch Nichtmuslime offen sein und zum Islam einladen sollte. Der Film wurde kürzlich in englischen Städten auf ausgewählten Events ausgestrahlt und die Macher hoffen auf weitere Vorführungen in Europa. Wir sprachen mit einem der Produzenten, Hanif Whyte, über das Projekt sowie über aktuelle Herausforderungen muslimischer Gemeinschaften im Westen Europas.
Islamische Zeitung: Lieber Hanif Whyte. Erzählen Sie uns etwas über Ihr Projekt. Was waren die Beweggründe, einen solchen Film zu produzieren?
Hanif Whyte: Das Projekt hat sich während der letzten fünf bis sieben Jahre entwickelt und vergrößert. Es begann zunächst als kleines Bestreben junger Leute, die ihre eigenen Wurzeln erforschen und sehen wollten, wie ihre Eltern zum Islam gefunden hatten. Sie wollten erfahren, wie sie zusammengefunden hatten, wie die Moschee in Norwich gegründet wurde. Also haben sie viele Interviews mit ihren Eltern, mit älteren Gemeindemitgliedern, den Gründern der Gemeinschaft geführt. So begann es 2010. Während dieses Prozesses lernte ich Ahmed Peerbux kennen, der mein Co-Produzent und Regisseur des Films ist. Durch die Forschung, die wir betrieben, merkten wir schnell, dass wir dem Film nicht gerecht werden, wenn wir bloß geschichtliche Interviews führen. Also begannen wir zu filmen, zeigten unsere Ideen Interessenten und fanden auf Zuspruch. So wuchs das Projekt allmählich zu einem Dokumentarfilm heran. Ahmed Peerbux war schon früh mit im Team, und in den letzten anderthalb Jahren gewannen wir durch den Produzenten Mike Freedman Verstärkung. Als Nichtmuslim und jemand, der mit unserer Gemeinschaft nichts zu tun hat, bereicherte er unsere Arbeit durch seine ganz eigene, frische und unabhängige Perspektive. Er half uns dabei, das Projekt professionell bis ans Ende zu führen. Denn eine Sache, die wir gelernt haben, ist, dass man nie wirklich fertig ist. Man hat entweder keine Zeit oder kein Geld mehr, und muss es daher auf vernünftige Weise abschließen. Aber das Gefühl, allem gerecht geworden zu sein, hat man nie. Den Menschen, die sich den Film bisher angeschaut haben – Muslime wie auch Nichtmuslime –, gefällt der Film und wir haben positives Feedback bekommen. Also haben wir das Gefühl, eines unserer Ziele erreicht zu haben. Alhamdulillah.
Islamische Zeitung: In den vergangenen Monaten haben Sie den Film in Großbritannien gespielt. Die Reaktionen waren also überwiegend positiv?
Hanif Whyte: Ja. Es ist eine einzigartige Geschichte. Eine Gruppe von Hippies und schwarzen Aktivisten findet sich in Norwich zusammen, einer Stadt an der Ostküste Englands. Die politische Rechte „The British National Party“ nannte diese Stadt in den 90ern „die letzte weiße Bastion Großbritanniens“. Sie waren ziemlich stolz darauf, dass es einer der wenigen Orte war, der Diversität bekämpfen und von sich abwenden konnte. Dass es ein Ort war, der es geschafft hatte, weiß und „englisch“ zu bleiben. Das ist also Norwich. Leute denken, es sei eine süße, kleine Stadt im Osten, mit vielen Bauernhöfen und weißen Einwohnern.
Wenn also Leute aus London oder Birmingham, viel durchmischteren Städten, von dieser Gemeinschaft in Norwich hören, wenn sie erfahren, dass es dort seit 40 Jahren eine muslimische Gemeinde gibt, ist das für die meisten eine faszinierende und einzigartige Geschichte. Sie können es oft kaum glauben, insbesondere durch die Tatsache, dass es überwiegend Konvertierte waren, die dort zusammenfanden und große Schritte unternahmen, den Leuten von Islam zu erzählen, die Menschen im Westen zu unserem Din einzuladen. Ich denke, die meisten sind ziemlich gerührt, wenn sie diese Geschichte hören, sie sind fasziniert davon.
Natürlich gibt es aber auch kritische Stimmen. Einige finden den Film etwas zu romantisch. Jedoch ist die Story für uns tatsächlich eine romantische. Denn es ist eine Story über Liebe. Von Menschen, die sich auf eine Reise begeben haben und sich auf dieser Reise verliebt haben. Sie haben sich in den Islam verliebt, sie haben sich in andere Muslime verliebt. Für uns hat also die Anmerkung, der Film sei romantisch, keine negative Konnotation.
Generell finden die Menschen Freude an unserem Film und finden ihn nützlich für das Gespräch rund um das Thema Islam im Jahr 2017.
Islamische Zeitung: Also war dies die aller erste muslimische Community in Norwich, oder gab es dort vereinzelte Muslime, die sich aber nicht in einer Gemeinschaft zusammengetan hatten?
Hanif Whyte: Nein. In Norwich waren sie die ersten Muslime, die sich dort ansiedelten. Soweit uns bekannt, war die Moschee zudem die erste, die von einer Gemeinschaft aus mehrheitlich konvertierten Muslimen errichtet wurde.
Islamische Zeitung: Der Film zeigt, welche Schwierigkeiten die neuen Muslime mit anderen Communities hatten. Ist dies immer noch der Fall? Einer der Interviewten erzählt, wie er als Schwarzer damals in einer Moschee abgewiesen worden sei, die mehrheitlich von Asiaten besucht wurde. Man erkennt also die ethnischen Spannungen, die unter Muslimen herrschten. Ist dies heute noch so oder konnte sich die Situation ändern?
Hanif Whyte: Ich denke, es ist vielerorts noch der Fall, für viele Leute. Wir haben überall noch viele Moscheen, die sogar so genannt werden. Türkische Moschee, albanische Moschee, pakistanische Moschee… Es ist wirklich selten, dass man eine Moschee findet, die keine offene kulturelle Zugehörigkeit hat. Wenn man zur Norwich Moschee geht, wird einem niemand sagen „das hier ist eine karibische Moschee“, oder was auch immer. Es ist einfach eine Moschee. Die Khutbas werden auf Englisch und Arabisch gehalten, denn die Gemeinschaft spricht Englisch und wir sind in England, die Moschee ist in England. Daher ist es selbstverständlich, die Khutbas in der Sprache des Landes zu halten. Außerdem ist es wichtig für Menschen, die die Moschee besuchen, zu verstehen, was in den Khutbas gesagt wird, was dort gelehrt wird.
Daher ist diese Moschee immer noch etwas Einzigartiges. Es gibt inzwischen mehr Gemeinden, die sich öffnen, aber wir hören immer wieder, wie Leute es erfrischend finden, dass hier in den Aktivitäten kein kultureller Hintergrund mit im Spiel ist.
Islamische Zeitung: Als jemand, der in dieser Community aufgewachsen ist, wie würden Sie sie heute beschreiben? Hat sich die Dynamik verändert? Ist sie immer noch so lebendig wie am Anfang? Und würden Sie sagen, Sie waren erfolgreich darin, das Problem der „Rasse“ in ihrer Gemeinschaft zu lösen? Steht wirklich der Din an erster Stelle und der kulturelle Hintergrund kommt erst an zweiter?
Hanif Whyte: Nun, Menschen haben ihre kulturellen Verbindungen, und daran ist nichts falsch. Es wäre dumm, zu behaupten, ich sei kein Schwarzer, ich sei „bloß Muslim“. Ich habe eine Identität und die beinhaltet definitiv auch meine Rasse. Aber das wichtigste Merkmal für die Leute in unserer Gemeinschaft ist, dass sie Muslime sind und, dass sie einst Konvertiten waren. Das spielt eine wichtige Rolle in der Art und Weise, wie man Islam versteht und in der Fähigkeit, anderen über den Islam zu erzählen. Die Tatsache, dass man selbst den Din entdeckt hat und die bewusste Entscheidung getroffen hat, Muslim zu werden, versetzt einen in eine leichtere Position, andere den Din zu lehren und die Wichtigkeit dessen zu erkennen. Das wird immer ein wichtiger Bestandteil dieser Community bleiben – das Verlangen danach, zu lehren und mit anderen Menschen das zu teilen, was man selbst gefunden hat.
Die Dynamik ist natürlich nicht dieselbe wie damals. Die Leute damals waren Pioniere. Sie haben den Ort entdeckt, die Moschee eröffnet. Heute herrscht eine ganz andere Energie. Wir haben hier nun die zweite und dritte Generation an Muslimen, die aus Norwich stammen. Es hat sich also einiges verändert, aber es ist immer noch eine lebendige Gemeinschaft.
Islamische Zeitung: Sie arbeiten neben der Filmproduktion auch als Imam. Was wäre Ihr Rat an Muslime in Westeuropa? Sie erwähnten bereits das Phänomen der ethnisch dominierten Moscheen. Was wäre Ihr Vorschlag, um aus dieser Mentalität des Eigennutzens herauszutreten und offener zu werden?
Hanif Whyte: Das ist eine einfache Frage! Ich kann jedoch nur aus meiner eigenen Erfahrung sprechen. Ich behaupte nicht, ein Experte zu sein. Aber meine Erfahrung war wie folgt: In meiner Kindheit und Jugend hatte ich nie das Gefühl, dass es einen Konflikt darin gäbe, Brite und Muslim zu sein. Ich kenne aber viele Muslime, die diesen Konflikt spüren. Mit Freunden, bei der Arbeit, auch in der Moschee, besonders durch die Sprache, die dort gesprochen wird. Es ist fast so, als hätten sie gespaltene Identitäten. Für mich ist es wichtig, dass Gemeinschaften wirklich in dem Ort, an dem sie sich befinden, begründet liegen und diesen verstehen. Dass sie die Sprache des Ortes übernehmen, und seine Kultur, soweit es im Einklang mit unserem Din ist, solange es nicht im Widerspruch zu unserem Glauben steht. Und man sollte es immer als Aufgabe sehen, die Menschen des Ortes zu erreichen, mit ihnen im Kontakt zu sein. Denn wenn wir an einem Ort leben, der nicht überwiegend muslimisch ist, so ist unsere einzige wirkliche Rechtfertigung, an diesem Ort zu leben, die aktive Einladung der Menschen zum Islam. Das sollte bei jeder Gemeinschaft im Westen im Vordergrund stehen.
In der Situation, in der ich aufgewachsen bin, war ich immer im Austausch mit Nichtmuslimen. Es gab immer Menschen, die uns in der Moschee besuchten und wir stellten sicher, dass wir offen und erreichbar für unser Umfeld waren. Mein Islam hat sich nie fremd angefühlt. Das war für mich hilfreich und eine große Erleichterung in dem Prozess, zu verstehen, was es heißt, ein Muslim im Westen zu sein.
Islamische Zeitung: Wie können Filmproduktionen hier hilfreich sein? Sie dienen ja der Da’wa. Sind sie ein erfolgreiches Mittel hierfür? Müssen wir mehr davon haben? Und ist es überhaupt die Anstrengung wert? Vor allem, wenn man unabhängig arbeiten möchte…
Hanif Whyte: Ich finde, es ist die Anstrengung definitiv wert. Für mich ist es eine Kunstform und meine Leidenschaft. Ich genieße es sowieso. Menschen finden deine Arbeit gut oder sie tun es nicht. Man opfert sich für die Sache auf, damit andere sie kritisieren, analysieren und genießen können. Für mich ist es deswegen jede Mühe wert.
Was Da’wa betrifft, würde ich sagen, dass heutzutage mehr geschaut als gelesen wird. Man kann die Rolle des Films nicht ignorieren, wenn man Menschen erreichen möchte. Es ist eine wunderbare Plattform. Vieles kann man durch Szenen vermitteln, was man durch Bücher oder Zeitungen nicht erreichen kann. Es ist daher wichtig, starke muslimische Medien zu haben und ich hoffe, dass dieser Film und unsere Arbeit dazu beitragen.
Islamische Zeitung: Haben sich Nichtmuslime dazu geäußert? Ist ihr Interesse am Islam gestiegen, nachdem sie den Film gesehen haben?
Hanif Whyte: Die meisten, die sich den Film bisher angeschaut haben, sind Muslime. Sie haben davon Film gehört und waren interessiert, mehr darüber zu erfahren. Es gab aber auch eine beträchtliche Zahl an Nichtmuslimen, die den Film gesehen haben und sie waren sehr berührt von dieser Geschichte. Für sie war es etwas Besonderes, andere Engländer zu sehen, die Muslime geworden sind und so viele Mühen auf sich genommen haben, um eine Moschee und eine Community zu gründen. Sie können sich damit eher identifizieren, weil es Menschen aus ihren eigenen Reihen sind, um die es da geht.
Die meisten Geschichten, die wir in den Medien heute über Konvertiten hören, sind solche, in denen sie dem IS beitreten, Terroristen werden. Oder sie bleiben gänzlich ungehört und unsichtbar. Leute, von denen man gar nicht weiß oder wahrnimmt, dass sie Muslime sind. Eine Konvertiertengemeinde, die so aktiv und offen ist, ist für viele etwas Unglaubliches. Viele fragen sich dann, wieso sie nicht mehr darüber wussten und stellen dann Fragen zum Islam. Sie sahen im Film Künstler und Musiker, die zu Muslimen wurden und deren Geschichten faszinierend für sie sind. Es ist also oft ein Anfangspunkt gewesen, sich mit dem Thema Islam auseinanderzusetzen und zu sehen, dass es andere gab, die so sind wie man selbst, die sich auf diese Reise begeben haben und es nichts Fremdes ist.
Ich hoffe, der Film wird die Zuschauer dazu bewegen, eben das zu erkennen. Dass Islam nicht fremd ist. Er ist nirgendwo fremd. Er hat seine Realität an egal welchem Ort. Und wir möchten dieses Gespräch beginnen. Wir möchten anfangen, darüber zu reden. Wenn uns das gelingt, wird der Film ein Erfolg gewesen sein.
Islamische Zeitung: Es ist ein wichtiger Punkt, dass unter den Interviewten im Film auch Künstler und Musiker sind. Oft hört man, dass Neulingen im Islam die künstlerische Ader abhanden kommt, weil ihnen erzählt wird, ihre Kunst sei verboten…
Hanif Whyte: Es ist sehr hilfreich, im Film eine zeitliche Entwicklung über Jahrzehnte zu beobachten. Die Menschen haben all die unterschiedlichen Etappen durchlaufen. Sie haben zunächst ihre Musik, ihre Kunst aufgegeben, weil sie dachten, sie müssten es. Sie brachen Kontakte zu Familienangehörigen ab, weil es Konflikte gab und sie ihr altes Leben hinter sich lassen wollten. Und mit der Zeit fanden sie ihre Balance und sind heute ausgeglichener und im Frieden mit sich selbst und anderen. Das ist ein Merkmal vieler neuer Muslime. Sie wollen die Vergangenheit zurücklassen und etwas Neues beginnen. Auf dieser Reise erkennen sie aber, dass es natürlich Aspekte ihres alten Lebens gab, die mit ihrem Islam nun nicht vereinbar sind, aber auch andere Elemente, die vollkommen in Ordnung sind. Dinge, die man genossen hat, die nicht im Konflikt zum islamischen Glauben stehen, kann man ruhigen Gewissens auch weiterhin ausleben. Diese Entdeckungen machen viele und werden mit der Zeit gelassener.
Wenn man eine solche Gemeinschaft über die Jahre hinweg beobachtet und ihre Entwicklungen miterlebt, entsteht daraus ein balanciertes Verständnis darüber, was Islam wirklich ist. Das haben wir im Film denke ich ganz gut vermittelt.
Islamische Zeitung: Wird es weitere solcher Produktionen geben oder war es eine einmalige Sache?
Hanif Whyte: Es hat einiges von uns abverlangt. Aber wir sind bereit, die Kamera wieder in die Hände zu nehmen und weiterzumachen. Wir werden oft gefragt: „Was passierte später noch?“ Der Film endet in den 90ern. Viele sind interessiert daran, was in den folgenden Jahren passiert ist, wie es weiterging. Sie wollen auch wissen, was die Geschichten der jüngeren Generation sind. Wir überlegen also, weitere Produktionen unter diesem Aspekt anzustreben. Die Erfahrungen der zweiten und dritten Generation sind gänzlich andere, also sind es auch andere Geschichten, die sie zu erzählen haben.
Es gibt auch Überlegungen, etwas Spezielles über die Frauen der Community zu kreieren, sie mehr in den Fokus zu stellen. Ebenso möchten wir die Verbindung zur Kunst und den künstlerischen Tätigkeiten einiger aufzeigen, und wie bereits erwähnt ihre eigene Reise als Künstler und Muslime vorstellen, die Veränderungen in ihrem Kunstverständnis. Es gibt viele Ideen und es wird definitiv Zeit, die Ärmel wieder hochzukrempeln.
Islamische Zeitung: Gibt es noch etwas, das Sie unseren Lesern mitteilen möchten?
Hanif Whyte: Wir möchten, dass der Film so viele Menschen wie möglich erreicht. Wir hatten Aufführungen in England, würden ihn aber gern auch in Deutschland, der Schweiz und anderen Orten spielen. Das einzige, was wir dafür benötigen, ist die Unterstützung, um diese Vorhaben zu realisieren. Die Geschichte spielt zwar in England, aber so viele können sich damit identifizieren und Nutzen draus ziehen. Daher wären wir für jede Art der Unterstützung dankbar, um den Film über England hinaus weiterzutragen.
Wir hoffen einfach, dass die Leute den Film genießen und Nutzen daraus ziehen werden.
Islamische Zeitung: Lieber Hanif Whyte, wir bedanken uns für das ­Gespräch.
Weitere Infos unter: www.thestrangers.co.uk