
„Dann und nur dann, wenn sich dieses Wissen im Herzen manifestiert, das heißt zu einem festen Bestandteil des Herzens wird, ändert sich der Mensch dauerhaft. Wo sich das Wissen nicht durch Nachdenken (arab. tafakkur) im Herzen einnistet, wird keine dauerhafte Veränderung möglich sein. Es wird beim Vorsatz bleiben. Doch wie ein Neujahrsvorsatz wird davon bald nicht mehr viel zu sehen sein.“
(iz). In Sure Ar-Rad (Sure 13, 11) sagt Allah ta’ala: „Wir ändern nicht den Zustand eines Volkes, bis sie das ändern, was in ihnen selbst ist.“ Viele von uns werden diesen Qur’anvers schon einmal gehört haben. Ändere dich und dann ändert sich die Welt – von allen Motivationstrainern wird dies heraufbeschworen. Allah ta’ala teilt uns im Qur’an mit, dass er den Islam vollkommen gemacht hat. Kann etwas vollkommen sein, wenn es in sich kein Programm dafür hat, wie sich der Mensch verändern kann? –
Wenn wir uns die meisten muslimischen Gemeinschaften anschauen, fällt auf, dass alle daran interessiert sind, etwas zu tun: Faaliyet, Aktivitäten – wir müssen den Jugendlichen etwas bieten.
Doch wie sehr denken die Organisator darüber nach, was sie anbieten? Der osmanische Mufti Mevlana Muhammed Hamidi (gest. 1762) schrieb in einem Gedicht:
„Mein Ich, es lädt zu Dingen ein, die schaden,
Es mehrt bloß meine Krankheit und auch Schmerzen.
Wie ist‘s möglich einen Feind, der sitzt in meiner Brust,
Solchen Feind zu hintergehen, sich vor ihm zu retten?“
In mir ist etwas, das keine Lust darauf hat, 5x am Tag zu beten, freundlich zu hartherzigen Menschen zu sein, mir Wissen über Allah ta’ala und seinen Propheten anzueignen – in jedem von uns. Dieses Etwas wird im Qur’an „Nafs Ammara“ genannt. Wenn wir nicht einmal wissen, dass wir einen solchen Feind in uns haben, wie sollen wir es schaffen, uns vor diesem Feind zu retten? Jemand, der ganz neu in die Moschee kommt und an Aktivitäten und Vorträgen teilnimmt, kann und muss das auch noch nicht wissen.
Doch jemand, der die Vorträge und Aktivitäten organisiert, der muss es wissen. Ein Organisator muss mehr Wissen haben. Jemand, der jahrelang in die Moschee geht, sich aber vom Lifestyle nur dadurch von anderen unterscheidet, dass er statt in der Shisha-Bar im Aufenthaltsraum der Moschee abhängt, der ist ein großer Dummkopf. So jemand hat nicht begriffen, was Islam bedeutet…
Der osmanische Mufti Mevlana Muhammed Hamidi (gest. 1762) definiert Islam wie folgt: „Islam bedeutet mit dem Schwert der Anstrengung das Ich (Nafs) zu erziehen und den Lüsten und Neigungen den Gehorsam zu verweigern.“
Islam bedeutet also, dass ich mich selbst verändere. Der eingangs zitierte Qur’anvers sagt ja eben das aus: Verändere dich und dann veränderst du die Welt. Aber – und das missachten wir Muslime mehrheitlich heute – aber wir müssen vorher die Art und Weise wie wir denken, ändern.
Es finden momentan Aktivitäten und Vorträge in der Moschee statt. Dies wird im Qur’an als ‘Amal (arab. für Handlung, Tat, Aktivität) bezeichnet. Doch eine Handlung alleine reicht nicht aus. Auch ein Heuchler kann aktiv sein und ist es auch. Zikr, das Gedenken Allahs, ist wertvoller als eine Aktivität. Dies sagt Imam Ghazali in seiner Ihya Ulum ad-Din. Warum ist das Gedenken Allahs wertvoller als eine Handlung? Eine Aktivität, die ich halbherzig tue, ohne die Erinnerung an Allah (arab. dhikr), was ist die schon wert?
Nur wenn ich bewusst etwas tue, das heißt, Allah ta’ala bedenke, dann ist meine Handlung etwas wert. Zu wissen, dass ich zum Vortrag gehe, weil Allah es liebt, dass ich mir Wissen aneigne und es meine Pflicht als Muslim ist, dann liebt Allah ta’ala, was ich tue. Wenn ich Fussball oder Paintball spielen gehe, muss ich immer auch an Allah denken. Ich muss daran denken: Wie schön, dass wir Muslime hier heute zusammenkommen, dies stärkt inscha’Allah unser Gemeinschaftsgefühl. Das heißt, dass ich keinen Ärger mache, wenn ich das Gefühl habe ungerecht behandelt zu werden – aber auf angemessene Art und Weise zu Wort bringen kann, warum ich mich ungerecht behandelt fühle.
Was ist eine Aktivität schon wert, wenn ich beim Ausführen nicht an Allah denke? Imam Ghazali sagt: „Die Ehre der Handlungen (arab. ‘amal) beruht auf dhikr (der Erinnerung an Allah).“
Sultan Ahmed I., als Dichter auch Bahtî genannt, schrieb in einem Gedicht:
„Das, was schwer scheint, wird ein Leichtes,
Kummer wird zur Medizin
Und das Herz erfährt ein neues Leben
Mit Geheimnissen des Dhikrullah.“
Und eine Sache, die leider viel, viel zu kurz kommt: Tafakkur. Tafakkur ist das tiefgründige Bedenken. Tafakkur ist eine Form von Dhikr. Aber er ist keine Form des Tafakkurs. Wer Tafakkur macht, macht auch gleichzeitig immer Dhikr, aber nicht jeder, der Allah gedenkt, macht auch gleichzeitig Tafakkur. Der Anfang von allem Guten, so Imam al-Ghazali, ist das Bedenken. Das heißt: Wie kann ich denen, die in die Moschee kommen, Allahs Schönheit und den anmutigen Charakter Muhammeds, Allah segne ihn und schenke ihm Frieden, vermitteln? Wie kann ich nach und nach vermitteln, dass bloße Aktivitäten nicht ausreichen, sondern mehr dazu gehört? Wie kann ich spielerisch Glaubensinhalte rüberbringen?
Sich diese Frage zu stellen, ist eine Form von Reflexion, das heißt des Bedenkens. Tafakkur, so al-Ghazali, ist noch wertvoller als das bloße Denken an Allah. Tafakkur ist das Nachdenken darüber, wie ich etwas tun kann, womit Allah ta’ala zufrieden ist. Der Schöne, Der die Schönheit liebt – womit wäre Er zufrieden?
Tafakkur bringt Wissen hervor. Wir benötigen Wissen. Dies gilt sowohl für Aktivitäten in der Moschee als auch für jeden Einzelnen im Leben. Ich nehme mir etwas vor, doch bedenke ich, was ich da tue? Oder folge ich lediglich meinen Neigungen und Lüsten? Die Menschen sagen immer: „Höre auf dein Herz“, aber was ist, wenn dieses Herz gerostet ist? Wie viel Sinn macht es da, auf das Herz zu hören? „Qur’an zu lesen und den Tod zu bedenken befreit das Herz vom Rost“, sagt die Krone der Herzlichkeit: Muhammed, Allah segne ihn und schenke ihm Frieden.
Wir handeln in der Regel ohne Wissen. Das ist das Problem. Wer ohne Wissen handelt, der handelt, ohne gebührend an Allah zu denken. Allah ist al-‚Alim, der Allwissende. Der Prophet sagt: „Allah ist gelehrt und Er liebt die gelehrte Person.“ Wenn also das Bedenken oder auch Nachdenken der Anfang vom Wissen ist, wieso bedenken wir nicht? Wenn wir nie bedenken, können wir auch unser Herz nicht reinigen und vom Rost befreien, damit wir ruhigen Gewissens diesem Herzen mal folgen können… auch dann, wenn es völlig närrisch erscheint! Einem vom Rost befreiten Herzen kann ruhigen Gewissens gefolgt werden.
Vom Tafakkur kommen wir zu Fikr, der Idee. Vom Bedenken kommen wir zur Idee. Um aber angemessen nachdenken zu können, benötigen wir Informationen. Informationen darüber, was im Qur’an steht, was die Sunna ist, Informationen über die Geschichte – wir benötigen Fachinformationen. Ich bezeichne es bewusst als Information, denn was die Menschen heute als Wissen bezeichnen, ist nichts weiter als Information. Sie glauben, wenn sie Hadithe kennen, dann würden sie Wissen haben. Nein, sie haben Informationen über verschiedene Aussagen des Propheten, aber erst wenn ich diese Informationen durch Tafakkur, durch Bedenken, auswerte, dann komme ich zum Wissen. Und zum Auswerten wiederum benötige ich noch ganz andere Informationen als die bloße Aussage. Auf diese Weise erlangen wir Wissen und Weisheit.
Dann und nur dann, wenn sich dieses Wissen im Herzen manifestiert, das heißt zu einem festen Bestandteil des Herzens wird, ändert sich der Mensch dauerhaft. Wo sich das Wissen nicht durch Nachdenken (arab. tafakkur) im Herzen einnistet, wird keine dauerhafte Veränderung möglich sein. Es wird beim Vorsatz bleiben. Doch wie ein Neujahrsvorsatz wird davon bald nicht mehr viel zu sehen sein.
Veränderung ist nur möglich, wenn wir auf Wissen basierende Ideen entwickeln. Wenn einer Idee das Wissen fehlt, ist sie schädlich; wenn dem Wissen die Idee fehlt, ist es fruchtlos. Fruchtlos heißt, dass wir unseren inneren Zustand nicht ändern können und damit die von Allah geforderte Bedingung nicht erfüllt wurde. Allah möchte, dass wir unser Inneres verändern.
Wenn wir also das nächste Mal in der Moschee zusammensitzen, dann ist der Ort erst einmal leer. Das, worüber wir sprechen, das, was wir miteinander austauschen, das verleiht dem Ort seinen Wert. Informationen auszutauschen, gemeinsam nachzudenken und zu bedenken, Wissen aufkommen lassen und Ideen zu entwickeln, um unser eigenes Leben und das der anderen zu bereichern – das würde dem Aufenthaltsraum der Moschee Seele einhauchen.
Möge Allah uns nicht bloß Informationen, sondern auch Wissen verleihen. Möge Er uns die hohe Kunst des Tafakkurs lehren. Möge Er Wissen in unseren Herzen manifestieren. Möge Allah teala uns Ideen entwickeln lassen, die uns, die Gesellschaft und die gesamte Welt bereichern…