
IZ-Reiseblog: In Agrigent gelangt man vom platonischen Ideal über Goethe zum Schönheitsbegriff der Muslime.
(iz). Etwa vierzigtausend Kilometer hat Goethe in seinem Leben bewältigt: zu Lande, zu Wasser, zu Fuß und zu Pferd, mit dem Postwagen oder der eigenen Kutsche, mit Kahn und Schiff. Man staunt über diese Energieleistung, zumal die italienische Reise oft ein gefährliches Abenteuer war.
Neben den körperlichen Anstrengungen und den gewagten Ausritten zu Pferde, verzichtet der Schriftsteller auf den gewohnten Komfort. In Agrigent gibt es zu seiner Zeit keine Gasthöfe. Er kommt privat unter. Eine freundliche Familie macht Platz und räumt ihm einen erhöhten Alkoven ein. Ein grüner Vorhang trennt ihn und sein Gepäck von den Hausmitgliedern, welche in dem großen Zimmer Nudeln fabrizieren.
Agrigent – oder Goethe auf den Spuren der Antike
Der Schriftsteller nutzte seine Zeitspanne, die Hinterlassenschaften der Klassik zu besichtigen. Sein Anspruch war – wie er in Rom vermerkt – hoch: „Überhaupt ist dies die entschiedenste Wirkung aller Kunstwerke, dass sie uns in einen Zustand der Zeit und der Individuen versetzen, die sie hervorbrachten.“
In seinem Reisebericht sind einige Sarkophage in der Kirche San Gerlando erwähnt. „Mich dünkt, von halberhabener Arbeit nichts Herrlicheres gesehen zu haben, zugleich vollkommen erhalten. Es soll mir einstweilen als ein Beispiel anmutigster Zeit griechischer Kunst gelten.“
Auf unserem Stadtrundgang wandern wir durch die engen Gassen, sie sind in arabischer Zeit entstanden, hinauf zu dem Dom, um dieser Empfehlung zu folgen. Und wir staunen ebenso über die 2.000 Jahre alten Kunstwerke. Der Blick auf die Stadt – das Bauwerk steht an höchster Stelle – zeigt die urbane Entwicklung, bis hin zu einigen modernen Wohnsilos, die das Bild abrunden.
Es ist ruhig hier, weil die meisten Touristen nicht die Altstadt hinaufsteigen, sondern nur das Tal der Tempelbauten besuchen. Zurück am Hauptplatz sehen wir auf eines der beeindruckenden Bauwerke hinunter. Goethe schrieb: „Der Tempel der Konkordia hat so viele Jahrhunderten widerstanden; seine schlanke Baukunst nähert ihn schon unserem Maßstab des Schönen und Gefälligen (…)“
Was ist das Maß des Schönen
Was ist dieser Maßstab, von dem Goethe hier spricht? Über die Jahrhunderte war eigentlich nicht strittig, was schön und gut ist. Platon unterscheidet zwischen der sichtbaren Domäne der Dinge und der unsichtbaren Welt der Ideen (bzw. Formen). Schönheit, wie wir sie wahrnehmen – etwa in Gesichtern, Kunstwerken oder in der Natur – ist für ihn nur ein Abbild, ein Schatten der Vollkommenheit. Diese Wirklichkeit existiert unabhängig von Zeit und Raum und ist unveränderlich.
Für den Philosophen sind die Ideale eng miteinander verbunden – sie sind verschiedene Aspekte derselben höchsten Idee. Deshalb hat Schönheit für ihn eine ethische und metaphysische Dimension: Sie zieht die Seele an, weil sie eine Ahnung des Göttlichen vermittelt.
Der Platonismus wurde von späteren Denkern, zum Beispiel Nietzsche, kritisiert, da er Gott bzw. das Göttliche in einen abgehobenen, unzugänglichen Raum zu verlagern scheint, wodurch die konkrete Welt an Wert verlieren könnte. Goethe folgt diesen Bedenken grundsätzlich: Er war kein Freund abstrakter Metaphysik. Und er schätzte das unmittelbare Erleben, das sinnliche Erfahren und die Naturbeobachtung höher als spekulative Systeme. In seinen naturwissenschaftlichen Schriften wandte er sich gegen die Abstraktion, wie sie bei Platon typisch ist.
Welchen Schönheitsbegriff haben wir Muslime?
Im Café unterhalten wir uns über den Schönheitsbegriff der Muslime. Der Bau von Moscheen zeigt, dass es unter uns enorme Unterschiede des ästhetischen Empfindens gibt. In Sizilien erleben wir die Faszination, wenn die Architektur zu einer Symbiose, zum Teil einer Landschaft wird und die Gestaltung örtliche Einflüsse übernimmt. Der Zauber dieser Baukunst wirkt bis heute, zeigt sich in einem Staunen, der Menschen aus allen Kontinenten verbindet. Vielleicht sollten wir Muslime mehr miteinander besprechen, was wir für schön halten?
Am Busbahnhof, den wir aufsuchen, um zu unserer Unterkunft zu fahren, herrscht städtebauliche Tristesse. Wir bewegen uns in einer Gegenwelt, in einer Ecke der Stadt, in der es wenig zu bestaunen gibt. Von platonischen Idealen ist hier nichts zu spüren. Der Platz, nur einige hundert Meter weg von der schmucken Innenstadt, ist schmutzig. Zudem ist das System des örtlichen Nahverkehrs für Fremde nur schwer zu durchschauen. Wir sind froh, endlich den Busfahrer zu finden, dessen Bus zu unserer Unterkunft fährt.
Foto: Ekatarina, Adobe Stock
Der Mann trägt eine Sonnenbrille und strömt sizilianische Gelassenheit aus. Er nutzt die Zeit bis zur Abfahrt, um uns zu unterhalten, und ist sichtbar begeistert uns ein paar Tipps zu geben. Dass wir kein Italienisch sprechen, stört ihn nicht.
Er listet Strände, Aussichtspunkte, Lokale und Cafés in der Umgebung auf, deren Namen wir nicht verstehen, aber die seiner Meinung nach etwas gemeinsam haben: Sie sind schön. Die anschließende Fahrt wird zu einer Odyssee, da die Buslinie kreuz und quer verläuft und scheinbar alle Vororte verbindet. Dafür verabschiedet uns der Fahrer am Ziel per Handschlag und wünscht – natürlich – eine schöne Zeit.
Das Tal der Tempel
Am nächsten Morgen brechen wir auf, um die Hauptsehenswürdigkeit der Stadt zu sehen. Das Tal der Tempel gehört zu den bedeutendsten archäologischen Stätten Siziliens – und zu den am besten erhaltenen Zeugnissen der griechischen Antike außerhalb Griechenlands.
Die Anlage ist weitläufig und eine Welt für sich. Sie erstreckt sich entlang eines Hügels mit Blick auf das Mittelmeer und vereint eindrucksvoll monumentale Tempelarchitektur mit mediterraner Pflanzenvielfalt. Zwischen Mandelbäumen, Olivenhainen und Agaven wirkt die Tempellandschaft fast wie ein botanischer Garten mit antiken Kulissen.
Zu den herausragenden Bauwerken zählen das Heiligtum der Concordia, einer der besterhaltenen dorischen Tempelbauten der Welt. Der Schrein des Herakles ist der älteste hier. Der Tempel des Zeus Olympios fällt durch seine gewaltigen Ausmaße auf; selbst wenn er nun nur in Fragmenten erhalten ist. Am östlichen Ende der Anlage befindet sich zudem das Grab des Theron, ein turmartiges Monument aus hellenistischer Zeit, dessen genaue Funktion bis heute nicht eindeutig geklärt ist. Vermutlich war es ein Ehrenmal für Gefallene der Punischen Kriege.
Unser Rundgang durch das Tal ist nicht nur eine Reise in die Vergangenheit, sondern – wie wir finden – ein Naturerlebnis. Wir entdecken im wahrsten Sinne des Wortes einen „goetheanischen“ Ort: Natur, Kunst und die Antike verschmelzen ineinander. Die leicht ansteigende Hauptstraße von zwei Kilometern endet an einem Gedenkplatz, der an die ethischen Verpflichtungen des Menschen erinnert.
Foto: Abu Bakr Rieger (Autor)
Kleine Tafeln erinnern an den Einsatz von Zeitgenossen, an ihren Kampf gegen die Tyrannei, die Diktatur und den Antisemitismus. Erwähnung findet hier der marokkanische König Muhammad V, der die Juden unter den Schutz des Gesetzes stellte und jede Form der Diskriminierung ablehnte. Die Idee, die Besucher, darunter viele Schulklassen, zu einer Aktualisierung der Themen „Ethik und Schönheit“ aufzurufen, gefällt uns.
Neben einer Kunstausstellung, mit zeitgenössischen Werken, erhält ebenso die Poesie ihren Platz. Auf einer Tafel an einer alten Mauer lesen wir das Gedicht, „Ein Garten der Ruinen“, von Carmelo Mezzasalma. Wir fotografieren die Zeilen und setzen uns in das Museumscafé, um den Text zu übersetzen. Er lautet:
Wer wird über diese Steine weinen,
jahrtausendealt, so wartend auf einen Befehl?
Sieh, Du gehst durch eine Luft,
die nach Sandstein riecht, berührt vom Flug der Sonne.
Spähe in die Zeit in dir und miss den Schritt von Generationen,
die hier vielleicht das Antlitz Gottes suchten.
Und wer sind wir nun, da wir in diesen Steinen
auch unser Verlieren und unsere Mühen zurücklassen?
Wer wird über unseren Exodus weinen?
Carmelo Mezzasalma ist ein italienischer Priester, Dichter und Kulturwissenschaftler. Bekannt ist er für sein Engagement im interkulturellen Dialog und seine spirituelle Lyrik. Seine poetischen Werke sind von philosophischen Themen geprägt.
In einem seiner Bücher, „Il silenzio e la memoria“ („Das Schweigen und die Erinnerung“), reflektiert er über die Bedeutung von Stille und dem Gedächtnis in einer konsumorientierten Gesellschaft. Der Dichter betont, dass der Mensch nicht nur konsumieren, sondern sich mit dem Göttlichen verbinden möchte – ein Wunsch nach Transzendenz und Hingabe.
Jedes Kunstwerk der Vergangenheit muss, wie es Mezzasalma versucht, neu gelesen werden. Goethe wusste auf seiner Reise nach Italien, dass es kein Zurück in die griechische Epoche gibt. Er hatte eine Ahnung, dass der Verlust der Einigkeit über das Wahre und Schöne droht und die Erfahrung der Einheit allen Seins schwierig wird. Erhofft hat er sich eine Wiederbelebung der Tugenden und ihre Aktualisierung – in Taten und Werken – nach seiner Rückkehr, in seiner Heimat.