Ausstellung zeigt Jugendstil-Künstler von Nancy und ihre Ideale. Ein Bericht von Alexander Brüggemann

Der Jugendstil: überbordend, ungerade, verkopft. Ende des 19. Jahrhunderts machten sich in Nancy kreative Köpfe auf, eine „Kunst für alle“ zu schaffen. In ihren bürgerlichen Traumreisen steckten auch politische Ideen.

Nancy (KNA) Das ostfranzösische Nancy gehört zu den Metropolen des europäischen Jugendstils. Zu Beginn des 20. Jahrhunderts wurde es zur Bühne eines künstlerischen Abenteuers, das nun mit einer außergewöhnlichen Ausstellung im Musee des Beaux-Arts et musee de l'Ecole de Nancy gewürdigt wird.

Lange Zeit hatte Nancy als konservatives Regionalstädtchen vor sich hingedämmert. Doch mit dem Verlust des größten Teils von Lothringen samt der Hauptstadt Metz an das Deutsche Reich wurde Nancy nach dem Krieg von 1870/71 zur Grenzstadt, zum Rückzugsgebiet französischer Industrieller und Intellektueller. Der Zuzug brachte eine Bevölkerungs- und Kapitalexplosion. Was aber fehlte, waren architektonische Visionen. Junge Künstler wurden beauftragt, moderne Viertel, Warenhäuser und öffentliche Gebäude zu schaffen.

Die neuen Köpfe verließen das bekannte Terrain der historischen Formensprache und gaben sich kurzlebigen Trends hin. „Immer erneuern, niemals nachahmen“, lautete der Leitspruch des Vordenkers der Bewegung von Nancy, Emile Galle (1846-1904). Ihr Aufstand war auch ein Befreiungsschlag gegen die erstarrte Plüschwelt des 19. Jahrhunderts.

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Der Dekorationswut der intellektuellen Jugendstil-Avantgarde lag zugleich ein handfester sozialer Anspruch zugrunde. Angetreten, durch handwerkliche Serienproduktion eine „Kunst für alle“, eine „soziale Kunst“ zu schaffen, sahen einige ihre Tätigkeit gar als Instrument zur Bildung einer klassenlosen Gesellschaft. Die Protagonisten des Jugendstils in Nancy waren untereinander befreundet; Außenseiter, die – wie die Impressionisten – gemeinsam gegen die „alte Kunst“ antraten. 1901 schlossen sie sich zur „Provinzvereinigung der Kunstgewerbeindustrie“ zusammen, der sogenannten Schule von Nancy.

Ihre vier Gründer Emile Galle, Antonin Daum, Louis Majorelle und Eugene Vallin wollten ein Zusammengehen von Kunst und Industrie: seriell produzierte, allumfassende, „totale“ Kunst. Restlos alle Teile eines Hauses, von den Fenstern bis zu den Türgriffen, vom Briefkasten zu den Möbeln und Kaminen, sollten zu einem Gesamtkunstwerk verschmelzen, alle Alltagsgegenstände zu Kunst werden.

Der spielerische, überbordende Jugendstil war aber auch ideal für kommerzielle Zwecke zu nutzen. So entstanden in ganz Europa „verführerische“ Warenhäuser wie die „Galeries Lafayette“ in Paris oder die „Magasins Reunis“ in Nancy. Zudem war durch Bevölkerungswachstum, Industrialisierung und gestiegene Mobilität gerade um die Jahrhundertwende ein sprunghafter Anstieg öffentlicher Bauten zu verzeichnen: Rathäuser, Theater, Schulen, Banken und Bahnhöfe. Auch hier zeigte sich vielfach die eigentümliche innere Gemengelage vieler Jugendstilisten zwischen Bürgertum und Sozialismus.

In ihrem sozialen Engagement bezogen manche Künstler auch deutlich politisch Stellung – was ihnen im konservativen Nancy, der Stadt der Anwälte und Notare, durchaus Ärger einbringen konnte. Galle etwa, begnadeter Glasmaler und Kunstschreiner, schuf 1899 eine Vase mit dem Titel „Die schwarzen Männer“. Mit diesem Zitat des revolutionären Dichters Beranger ergriff Galle offen Partei für den französisch-jüdischen Hauptmann Dreyfus, dessen Prozess wegen angeblicher Spionage die ganze Nation spaltete. Dieses „linke“ Engagement kostete Galle nicht wenige potenzielle Kunden.

Die politische Vase findet sich – wie unzählige Schätze der Epoche – im „Musee de l'Ecole de Nancy“, untergebracht im Haus des Unternehmers Eugene Corbin. Als Besitzer des größten Kaufhauses der Stadt hatte er die Jugendstil-Künstler jahrelang gefördert und in seinen Räumen Ausstellungsflächen zur Verfügung gestellt.

Beeinflusst vom Symbolismus, hatten die Jugendstilisten großes Interesse am Unterbewussten: an der Dämmerung, der Nacht, an Träumen und Albträumen, symbolisiert durch verschiedenste mystische Gestalten. Die „verrerie parlante“, die „sprechende Glaskunst“ der Galle und Daum, trägt über das Dekorative hinaus Botschaften. Galles Vase „Espoir“ (Hoffnung) spiegelt in verschlungener Schrift und in Arabisch den Wunsch nach einer Versöhnung zwischen den Religionen wider.

Sein letztes Werk von 1904, entstanden in Vorahnung des baldigen Todes, ist ein Bett. Als Hochzeitsgeschenk für einen Freund ist es von reichlich düsterer Symbolik: die Morgen- und die Abenddämmerung, dargestellt durch Schmetterling und Nachtfalter; Symbole des Lebens, des Anfangs, aber auch des Vergehens. Denn wer näher tritt, entdeckt in ihren Körpern – Eintagsfliegen.

Wie diesen war auch dem Jugendstil nur ein kurzes, aufregendes Leben beschieden. Die Prediger einer neuen Nüchternheit erhielten mehr und mehr den Zuschlag der modernen Massengesellschaft. So urteilte Adolf Loos 1908 vernichtend: „Ornament ist vergeudete Arbeitskraft … Der Mensch mit den modernen Nerven braucht das Ornament nicht, er verabscheut es.“

Dem kurzen Schwung des jungen Stils folgte ein langer Triumph der geraden Linie. Die Ambivalenz von sozialreformerischem Ansatz und der Verhaftung des Jugendstil-Gedankens in der bürgerlichen Avantgarde aber ist auch nach 100 Jahren in den Werken der „Schule von Nancy“ greifbar.

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