Bosnien: Gewaltsame Entladung aufgestauter Spannungen rüttelt das Krisenland wach

Sarajevo (dpa). Nach den sozialen Unruhen in ganz Bosnien-Herzegowina, die als „Hungeraufstände“ und „Tsunami der bestohlenen Bürger“ charakterisiert wurden, stellen vor allem Bürger politische Forderungen. Und es gibt auch schon erste Ergebnisse: Drei von elf regionalen Regierungschefs sind zurückgetreten, einer ist ins benachbarte Kroatien „geflohen“. Einer der drei Staatspräsidenten, der Muslimführer Bakir Izetbegovic, hat rasche Neuwahlen verlang, um die aufgebrachten Massen zu beruhigen.

Aber die Forderungen Zehntausenden Demonstranten gehen viel weiter. Sie wollen erreichen, dass praktisch alle Berufspolitiker abdanken, die mit ihrer Unfähigkeit und ihrem Nationalismus an der zwei Jahrzehnte langen Misere schuld sein sollen. Die von diesen Politikern durchgedrückten „kriminellen Privatisierungen“ sollen rückgängig gemacht. Die „Wirtschaftskriminellen“ müssen danach enteignet werden. Schließlich wird eine „minimale soziale Sicherung“ der Menschen gefordert.

„In den letzten 20 Jahren haben sich Wut und Aufruhr sowie eine große soziale Unzufriedenheit angehäuft“, sagt Philosophieprofessor Salih Foco in Sarajevo und nennt gleich einen der vielen Gründe: „Das war keine Privatisierung (der Staatsbetriebe), sondern ein Diebstahl von Eigentum des Staates, der Gesellschaft und der Arbeiter“. „Die Existenz der Bevölkerungsmehrheit ist so bedroht, dass die Menschen um ihr biologisches Überleben kämpfen“, stößt der Dekan der Fakultät für Politische Wissenschaften, Sacir Filandra, ins gleiche Horn.

Erst in der vergangenen Woche hatte das EU-Parlament in Straßburg wieder auf die Übel der bosnischen Misere hingewiesen. Es forderte die heillos zerstrittenen Politiker der muslimischen Bosniaken, der orthodoxen Serben und der katholischen Kroaten auf, endlich für ein halbwegs funktionierendes Gemeinwesen zu sorgen. Die EU-Kommission strich aus Verärgerung über mangelnden Reformwillen sogar 45 Millionen Euro an Zuschüssen – immerhin die Hälfte der bitter benötigten Brüsseler Finanzhilfen.

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Doch die beiden Landesteile, die von Serben auf der einen und Bosniaken sowie Kroaten auf der anderen Seite kontrolliert werden, behindern sich nach Kräften. Dazu kommen noch elf fast autonome Kantone. Der Bundesstaat hat nichts, die regionalen und lokalen Politikfürsten alles zu sagen. Die bis ins Mark korrupte Verwaltung verschlingt fast das gesamte Staatsbudget. Durch kriminelle Privatisierung ist die Industrie zerstört, die Infrastruktur liegt am Boden. Je nachdem wie man rechnet, sind ein Drittel oder sogar noch mehr Menschen ohne Arbeit.

Und was das Schlimmste ist: Politische Alternativen gibt es nicht, weil ausnahmslos alle Parteien auf den Nationalismus als Herrschaftsinstrument setzen. Ein sozialer Aufruhr könnte diesen Teufelskreis durchbrechen. Und welche Rolle könnte das Ausland spielen, das in den letzten 20 Jahre Milliarden Euro als Krisenhilfe investiert hat, von denen viel in privaten Taschen versickert ist? Der internationale Bosnienbeauftragte Valentin Inzko droht bereits mit „EU-Truppen, wenn die Lage eskaliert“.