Bosnien: Wie ein Staat verunglückt. Bericht von Thomas Brey

In Bosnien-Herzegowina streitet jeder mit jedem. Blockade, Stillstand, Sackgasse lautet das Motto überall. Das Heer ausländischer Diplomaten und Experten ist hilflos.

Sarajevo (dpa). Auch an diesem Dienstag protestieren die Bürger wieder vor dem bosnischen Parlament in Sarajevo gegen ihre zerstrittenen Politiker. In der vorigen Woche hatten sie aus dem gleichen Grund 800 Menschen in dem Gebäude für einen Tag gefangen gehalten: Parlamentsangestellte, Abgeordnete und 250 Ausländer, die dort an einer Konferenz teilnahmen. Der Wirbel in der Hauptstadt von Bosnien-Herzegowina ist nur ein mattes Abbild der Lage im ganzen Land: Überall regieren Stillstand und Blockade. Allein vom Verfassungsgericht des Landes sind sage und schreibe 35 Urteile aufgelaufen, um die sich aber niemand schert.

In einer einzigartigen öffentlichen Erklärung haben die Strafverfolgungsbehörden den Präsidenten des muslimischen Landesteils, Zivko Budimir, beschuldigt, er untergrabe das gesamte Rechtssystem. Hintergrund: Budimir habe 50 Mörder und 43 weitere Schwerkriminelle begnadigt und sich dafür «entschädigen» lassen. Nach einem Monat hob das Verfassungsgericht die U-Haft mit der zweifelhaften Begründung auf, sie schränke das durch die Verfassung garantierte Freiheitsrecht des Beschuldigten ein. Seit dieser Woche ist Budimir wegen des illegalen Besitzes einer Ceska-Pistole mit einer Kugel im Lauf angeklagt.

Die Regierung in dieser Landeshälfte rangelt vor dem Verfassungsgericht um ihre Kompetenzen und ist arbeitsunfähig. Die harte Reaktion des zweiten, serbischen Landesteils ließ nicht lange auf sich warten. «Bosnien ist ein Teufelsstaat», an dessen «Fortbestand ich nicht glaube», schimpfte deren Präsident, Milorad Dodik: «Bosnien ist offensichtlich ein unmöglicher Staat», den die Serben besser früher als später verlassen sollten. Schon vorher hatte Dodik von einer «Missgeburt» gesprochen und: «Bosnien beweist tagtäglich seine chronische Unfähigkeit zu existieren».

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Ein Heer von Experten und Diplomaten sieht hilflos zu, wie ein europäischer Staat abgewirtschaftet wird. Die EU, die USA, die OSZE, die UN samt ihren Unterorganisationen, dazu die üppig mit Personal und Budget ausgestatteten bilateralen Botschaften haben bis heute nichts ausrichten können. Auch die weit über drei Milliarden Euro an Hilfen, von denen Hunderte Millionen in dunklen Kanälen versickerten, änderten nichts. Allein die EU hat den Balkanstaat seit 2007 mit deutlich mehr als 600 Millionen Euro unterstützt.

Das kleine Land mit nur vier Millionen Einwohnern ist praktisch unregierbar. Das liegt vor allem daran, dass die nach dem Bürgerkrieg (1992-1995) vom Westen erzwungene Verfassung nicht anwendbar ist. Die beiden fast unbegrenzt selbstständigen Landeshälften arbeiten nach Kräften gegeneinander. Zehn autonome Kantone, fünf Präsidenten, 14 Regierungen und 140 Minister verschlingen mehr als die Hälfte des Staatshaushaltes. Sie tun alles, damit das Chaos anhält. So ist die überall herrschende Korruption weder zu entdecken und noch weniger zu ahnden.

Die Muslime stellen die Hälfte der Bürger, die Serben ein Drittel und rund 15 Prozent die Kroaten. Wie alle drei Völker gegeneinander arbeiten, sieht man am Beispiel der Touristenstadt Mostar mit ihrer weltbekannten Brücke. Wegen der Blockade von Muslimen und Kroaten, die jeweils die Hälfte der Einwohner ausmachen, gibt es alles doppelt: Zwei Lernpläne in den Schulen, zwei Universitäten, zwei TV-Stationen, zwei Fußballvereine, zwei Müllabfuhren und zwei Kommunalverwaltungen. Ein Alptraum, dem die ausländischen Diplomaten achselzuckend gegenüberstehen.

Eine besonders originelle Erklärung für die Anwesenheit tausender ausländischer Ratgeber hatte im letzten Monat Dodik parat: «Ich behaupte, dass es in den internationalen Organisationen in dieser Region Kreise gibt, die toll verdienen und denen es hier wirklich klasse geht, denn hier herrscht ja dauerhafter Friede. Wenn diese Krisenspezialisten jetzt zugeben würden, dass es bei uns keine Probleme mehr gibt, dann müssten sie nach Afghanistan oder sonstwo hingehen, wo es sehr risikoreich ist. Daher denken sie sich die Probleme hier aus.»