Gespräch mit Hassan Özdogan über die brisanten Demonstrationen der Türkei

„Ich glaube, diese Demonstrationen sind ein guter Anlass dafür, den Stimmen der Menschen auf der Straße mehr Gehör zu verschaffen. Großprojekte sollten im Vorfeld in der Bevölkerung bekannt gegeben und diskutiert werden. Das ist in der Türkei bisher leider versäumt worden.“

(iz). Seit mehreren Tagen dominieren die Demonstrationen und Krawalle in einigen türkischen Großstädten die Schlagzeilen und fesseln die Aufmerksamkeit vieler türkischstämmiger Muslime in Deutschland. Sie sind aber auch dankbarer Rohstoff für die bundesrepublikanischen Medien. Deren Analysen sind von sehr unterschiedlicher Qualität und reichen von intelligenten Analysen bis zu platten Polemiken.

Gerne wird der Konflikt zwischen der Regierung unter Ministerpräsident Recep Tayyip Erdogan und der protestierenden Opposition, die sich in der Vergangenheit als politisch ungeordnet erwies, sowie spontanen Protestierenden als ein Streit zwischen muslimischen und säkularen Ansichten dargestellt. Dabei geht nicht nur unter, dass die früheren Eliten, die den heutigen Kern der Opposition stellen, jahrzehntelang das Land tyrannisch regierten. Und ebenso wird vergessen, dass Erdogans Entscheidungen aufgrund der bestehenden türkischen Verfassung getroffen wurde.

Über Hintergründe und Ursachen des jetzigen Konflikts sprach die IZ mit Hassan Özdogan, der seit geraumer Zeit in türkischen Organisationen in Deutschland aktiv ist und vielfältige Kontakte zur Türkei unterhält. Özdogan erklärt unter anderem, warum die momentanen Krawallen nicht mit der Arabellion zu vergleichen sind. Er sieht aber auch, dass sich die mit einer Mehrheit gewählte Regierung der AK-Partei zu sehr von der Basis der türkischen Bevölkerung entfernt hat.

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Islamische Zeitung: Lieber Herr Hasan Özdogan, Sie sind intimer Kenner der Türkei und Verbindungen in verschiedene Segmente der türkischen Gesellschaft. Wie stellt sich für Sie momentan die Lage in der Türkei dar?

Hassan Özdogan: Das war eine Entwicklung, die man so nicht erwartet hätte. Das Problem ist, dass die Aussagen von Ministerpräsident [Recep Tayyip] Erdogan bei den Regierungsgegnern in der außerparlamentarischen Opposition etwas provokativ angekommen sind. Erdogan hatte in der Absicht, die Türkei zu modernisieren, versucht, einige Großprojekte zu verwirklichen. Diese wurden in der Regel lange Zeit geheim gehalten und dann in einer Art Showakt der Gesellschaft dargeboten. Das wurde in der Opposition von vielen verstanden, dass die Machthaber tun, was sie wollen. Die Regierung fragt niemanden, zudem sehr viel Natur, Originalität und auch traditionelles dabei zerstört wird.

Daneben gibt es aber eine sehr positive wirtschaftliche Entwicklung. Die Leute, die in den 1970er, 1980er und 1990er Jahren geboren sind, haben Wohlstand erlebt, aber sie haben niemals eine fundierte, religiöse Ausbildung erhalten. Sie wurden geistig auf diese Entwicklung nicht gut vorbereitet. Das hört sich dann so an, als ob diese Leute nichts bekommen und immer mehr fordern würden.

Das Alkoholverbot beispielsweise wird in der Türkei ganz anders verstanden, als es durch westliche Medien dargestellt wirde. Wenn in Europa beispielsweise Einschränkungen zum Ausschank des Alkohols erfolgen, dann wird das als Jugendschutz oder als Förderung der Gesundheit und Verhinderung von Alkoholismus verstanden. Bei den Beschlüssen der Türkei wird es so verstanden, als ob die Regierung ihre islamischen Grundsätze durchsetzen möchte.

Lange Zeit war es in der Türkei so, dass die so genannten Laizisten, am Arbeitsplatz und in den Universitäten, die Muslime zu provozieren versuchten indem sie öffentlich und demonstrativ Alkohol getrunken haben. Sie haben das als eine besondere Freiheit dargestellt und es wird jetzt so aufgenommen, als würde man diese Freiheit einschränken.

Islamische Zeitung: Als die Unruhen begann, haben einige Medien relativ schnell den Vergleich zur Arabellion gezogen Ist es so, dass die ganze Türkei in Aufruhr ist oder beschränkt sich das auf einige Großstädte?

Hassan Özdogan: Man kann das auf keinen Fall mit dem so genannten Arabischen Frühling in Verbindung bringen, weil in der Türkei ganz einfach die Voraussetzungen dafür fehlen. Die Türkei ist eine demokratische Gesellschaft, in der jede Regierung durch eine Mehrheit gewählt oder abgewählt werden kann. Der Arabische Frühling hat deshalb stattgefunden, weil man die jeweiligen Regierungen nicht abwählen konnte. Es waren Marionettenregierungen und Diktaturen. Gaddafi hat über 40 Jahre regiert und in Ägypten waren es Mubarak und zuvor Sadat. Dort regierte eine bestimmte aristokratische Klaße, ausgehend von der Armee, welche die Geschicke des Landes bestimmte. Sie haben die Gesellschaft beschränkt und die Gegner ins Exil geschickt, sodass keine Opposition mehr existierte.

Diese Dinge treffen auf die Türkei nicht zu, hier ist alles offen. Das Problem sind die Gegner der Regierung, die nicht muslimisch orientiert sind. Sie merken, dass sie immer mehr an Macht verlieren, dass ihre politischen Vorstellungen in der Gesellschaft nicht durchgesetzt werden können und dass ihre Gegner immer stärker werden. Wenn sie über längere Zeit die Äußerungen der Regierungsgegner betrachten, wie sie beispielsweise die Militärs zum Putsch aufrufen, dann sieht man die Ausweglosigkeit dieser Leute. Sie haben die Prozesse der Putschisten immer für diese wohlwollend begleitet und ihre Äußerungen waren so radikal und zugespitzt, dass einfach eine blinde Gegnerschaft gegenüber der Regierung und den Entwicklungen in der Türkei vorhanden war.

Diese Menschen haben sich früher immer als Partner des Westens betrachtet. Sie wollten die Türkei in einer westlichen Richtung halten. Nachdem die AKP in der Türkei die Regierung übernahm, hat sich das grundlegend verändert, sodass die Bevölkerung positiver wurde, weil sie gesehen hat, dass die Entwicklung in von vielen Kräften der westlichen Welt positiv beurteilt wurde.

Auf der anderen Seite sind die Jugendlichen, die vor allem in den 1990er Jahren geboren wurden, eigentlich apolitisch. Sie sind jetzt auf die Straße gegangen, weil sie eben auch vieles gesehen haben, das sie gestört hat. Das eigentliche Problem ist meiner Ansicht nach, dass man die Projekte, die man in großen Schritte vorantrieb, nicht gesellschaftlich mit den oppositionellen Kräften ausdiskutierte und auch mit der eigenen Basis kaum gesprochen hat. Ministerpräsident Erdogan hat diese Projekte immer für sich beansprucht, sie in einer kleinen Gruppe entwickelt und dann wurden sie plötzlich mit einer großen Show präsentiert. Es fühlte sich an, als würde den Leuten große Geschenk gemacht.

Viele haben das so verstanden, dass die Türkei eine große Entwicklung durchlebt, ohne dass dazu jemand in der Bevölkerung seine Meinung geäußert hat. Das haben die Leute zum Anlass genommen, um auf die Straße zu gehen und um ihre Frustration an den Tag zu legen. Diese Leute – auch viele Radikale und provozierende Gruppen – haben einige Tage getobt. Einige türkische Journalisten haben das mit Großdemonstrationen von Erbakan verglichen: Dieser habe mit drei Millionen Leuten in der Stadtmitte von Istanbul demonstriert und niemandem ist ein Haar gekrümmt worden, kein Geschäft wurde angegriffen und keine Infrastruktur zerstört.

Islamische Zeitung: Hier wurde oft der Eindruck erzielt, dass es einen Gegensatz zwischen einer säkularen Opposition und dem Muslim Erdogan gäbe. Was er hier konkret als Ministerpräsident unternahm, macht er doch im Rahmen einer säkularen Verfassung. Haben wir es hier nicht eher mit einem Problem der türkischen Verfassung als solches zu tun?

Hassan Özdogan: Mit der Grundlage der Verfassung gibt es keine Probleme. Man versucht jetzt, die Gesetzgebung der Türkei zu ändern, indem man eine bessere, freiheitlichere Verfassung entwickelt, die den Einzelnen mit mehr Rechten ausstattet. Die Opposition hat auch hier blockiert.

Viele Demonstranten haben mir selber gesagt, sie seien auf die Straße gegangen, weil die Regierung sie islamisieren möchte. Wenn man allerdings die Frage stellt, welche Religion sie haben, sagten sie, dass sie Muslime seien. Es gibt innerhalb der Türkei bei diesen säkular oder laizistisch ausgerichteten Menschen eine sehr stark ausgeprägte Islamfeindlichkeit. Das ist auch deshalb so, weil diese Leute immer häufiger erkennen, dass die Befürworter der Politik Erdogans zahlreicher werden. Die Opposition ist nicht stark und nicht an objektiven Inhalten orientiert. Es bleibt zumeist Polemik.

Islamische Zeitung: In vielen Medien wird der jetzigen türkischen Regierung Demokratieunterricht gegeben. Jahrzehntelang hat in der Türkei aber ein totalitäres Regime geherrscht, mit Hilfe verschiedener Eliten in Akademien und Militär, bei der das Wort „Demokratie“ ein Fremdwort war. Dieser Zustand wurde vom Westen abgenickt. Ist es nicht seltsam, dass die jetzige Regierung, auch in Zusammenarbeit mit der EU, unter Befolgung der EU-Normen viele änderte und ihr Demokratiedefizite vorgehalten werden, die man zwischen 1960 und 2002 nicht zur Kenntnis genommen hat?

Hassan Özdogan: Natürlich, man bemisst man die Türkei mit zweierlei Mass. Es gibt in Europa und im Westen zwei Hauptrichtungen: Eine Richtung möchte eine starke Türkei sehen, die im Orient und im nahen Osten eine wichtige Rolle spielt. Die meisten Amerikaner zählen dazu. Und dann gibt es die andere Variante, die 1980 die Putschisten unterstützte, welche die Türkei schwach halten wollen und jeden positiven Trend in der Türkei negativ darstellen.

Seit mehr als zehn Tagen gibt es eine erhebliche, negative Berichterstattung über die Geschehnisse in der Türkei. Sie geht soweit, diese Vorfälle mit dem Prozess in den Arabischen Ländern zu vergleichen, obwohl das nicht der Fall ist. Wenn die Menschen eine Regierung nicht haben möchten, sollen sie sich zusammentun und eine bessere Politik machen. Dann können sie durch die Bevölkerung die Regierenden abwählen lassen.

Auf der anderen Seite muss natürlich auch Ministerpräsident Erdogan seine Politik durchaus korrigieren. Das ist ebenfalls die Meinung vieler muslimisch ausgerichteter Türken und auch der Standpunkt Europas. Es gibt eine positive Kritik, eine Kritik der konservativen Muslime. Die Regierung ist durch ihre zehnjährige Arbeit alltagsfern geworden und habt nicht mehr den richtigen Kontakt zur Basis. Sie spürt nicht mehr, was die Basis beschäftigt und was in der Bevölkerung vor sich geht. Deshalb kann sie die Entwicklungen nicht mehr explizit und objektiv betrachten. Ich glaube, diese Demonstrationen sind ein guter Anlass dafür, den Stimmen der Menschen auf der Straße mehr Gehör zu verschaffen. Großprojekte sollten im Vorfeld in der Bevölkerung bekannt gegeben und diskutiert werden. Das ist in der Türkei bisher leider versäumt worden.

Islamische Zeitung: Die Türkei ist natürlich ein spezifischer Fall. Es gibt zwischen den verschiedenen Kategorien – nicht nur zwischen Opposition und Regierung – recht scharfe Gegensätze. Gibt es derzeit Zeit einen Widerspruch zwischen Polizei und Militär?

Hassan Özdogan: Auf jeden Fall. Die Militärs haben in den 1970er und 1980er Jahren eine sehr negative Rolle gespielt. Sie waren dafür verantwortlich, dass die türkische Demokratie nicht vorankommen konnte. Deshalb haben die zivilen Regierungen seit der Özel-Zeit versucht, als Machtfaktor jenseits vom Militär eine starke Polizei zu organisieren. Dieser Gegensatz existiert und wird auch weiterhin bestehen.

Islamische Zeitung: Wir haben einerseits die alten urbanen Eliten, in Istanbul und auch im Westen der Türkei. Es gibt aber auch eine große Landbevölkerung. Findet ein Konflikt auch hier statt?

Hassan Özdogan: Es gab in der Türkei – in den 1970er, 1980er und 1990er Jahren – ein großes Problem mit den Bevölkerungsströmen von den Dörfern in die großen Städte. Die Städte wurden immer größer, die Dörfer entleerten sich beinahe. Darunter haben die Landwirtschaft und auch die Tierhaltung sehr gelitten, die Fleischpreise sind gestiegen und viele Agrarprodukte mussten importiert werden. Man hörte immer wieder, die Landbevölkerung sei über ihre Umsätze sehr unzufrieden.

In den letzten Jahren, seit dem Ende des PKK-Terrors, hat sich diese Entwicklung grundlegend umgewandelt, sodass viele Menschen aus der Stadt wieder auf das Land zurückkehrten und wieder Tier- und Landwirtschaft betrieben wird. Ein klarer Gegensatz zwischen Land- und Stadtbevölkerung, wie in den frühen 1940er bis in die 1960er Jahre hinein, ist nicht mehr zu erkennen.

Islamische Zeitung: Wie ist es mit der Kluft zwischen zwischen Jung und Alt? Eine Stimme meinte vor einigen Tagen, dass ihn die politischen Proteste in Istanbul eigentlich weniger an politische Debatten erinnern, sondern mehr an Unruhen wie in Schweden. Haben wir es da auch mit einer Problemjugend zu tun?

Hassan Özdogan: Das sagt man auch in der Türkei. Es gibt diese, früher apolitische Jugend aus den 1990er Jahren, die jetzt politisch geworden ist. Sie ist auf die Straße gegangen, weil sie mit der Entwicklung nicht zufrieden ist. Alles fokussierts sich auf diese paar Bäumen im Gezi Park. Anders herum gab es in der Türkei Projekte, in deren Verlauf hunderttausende Bäume gefällt wurden und keiner etwas gesagt hat. Ich glaube, der Gezi Park war ein Symbol, anhand dessen sich der jahrelange Frust der Menschen auf der Straße entladen hat. Das Ausmaß der Zerstörung zeigt, dass sie nicht mit einer positiven Stimmung kamen; nicht um zu demonstrieren, sondern nur um zu zerstören.

Es gilt jetzt festzustellen, was in den Köpfen dieser Leute vorgeht. Wie viele waren Provokateure, Linksradikale, marxistische Gruppen oder andere radikale Kräfte, die in der Türkei einen Putsch verursachen wollen? Wie viele davon sind auch der PKK zugehörig? Wie viele Jugendliche waren apolitisch und wie viele haben wirklich friedlich demonstriert? Die Regierung sollte das auf jeden Fall ernstnehmen. Ich glaube, Tayyip Erdogan ist in den letzten Jahren falsch beraten und gelenkt worden. Es scheint, als wolle er sich einiger Personen in seinem direkten Umfeld entledigen.

Islamische Zeitung: Wie sieht es mit Differenzen zwischen dem Präsidenten [Abdullah Gül] und dem Ministerpräsident Erdogan aus? Gelegentlich wird angedeutet, dass Abdullah Gül nicht ganz die Meinung von Erdogan teilt?

Hassan Özdogan: Natürlich gibt es Unterschiede. Obwohl sie aus dem gleichen politischen Lager kommen und lange Zeit befreundet sind, gibt es auf jeden Fall verschiedene Ansichten. Man sieht das beispielsweise an der Entwicklung des Alkoholgesetzes, welches von Herrn Gül nochmals überarbeitet wird. Ich sehe keine großen Differenzen zwischen beiden. Unterschiedlicher Meinung sind sie in einigen Bereichen bestimmt, das ist aber ganz normal.

Islamische Zeitung: Zeitgleich zu den Protesten in der Türkei findet vor ihrer Haustür ein blutiger Bürgerkrieg statt. Verständlicherweise ist die Aufmerksamkeit von Syrien wegen dieser gravierenden innenpolitischen Probleme abgelenkt. Einige Oppositionelle haben das Vorgehen der Türkei in der Syrienfrage stark kritisiert. Gibt es einen Zusammenhang zwischen dem Syrienkrieg und den Protesten in der Türkei?

Hassan Özdogan: Ein Einfluss des Syrienkonfliktes ist bestimmt da, in Bezug zu den Demonstrationen würde ich ihn eher als gering bewerten.

Man sollte einen Punktekatalog über die Motivation der Menschen erstellen, die auf die Straße zu gehen. Der Syrienkonflikt wird einer dieser Punkte sein. Die Türkei hat mehrere hunderttausend Syrer aufgenommen und versorgt sie nahezu ohne Hilfe des Westens. Man hat für die Flüchtlinge keine Pufferzone errichtet, sondern sie direkt innerhalb der Türkei aufgenommen. Manche glauben, dass die syrische Regierung versuchte, durch Provokateure bei den Demonstrationen für Unruhe zu sorgen.