Das Selbst zwischen äußerer Bildung und innerer Anstrengung

Ausgabe 227

(iz). Bildung ist nicht nur in anerkannten Einrichtungen und Schulen zu finden. Dieser Schluss ist zumindest möglich, wenn man darüber reflektiert, wie sich Männer wie Shakespeare, Carlyle, Henry James und Charles Dickens selbst unterrichteten. Viele Giganten aus der Welt des Wissens waren auch Autodidakten. Das gilt für genuines Wissen, das aus dem Westen kam, aber ebenso für die muslimische Welt.

Der Weg des Wissens ist niemals kurz. Er ist voller Faqr (Armut) und benötigt Sabr (bedeutet sowohl Geduld als auch Durchhaltevermögen). Es war niemals einem Konsumgut vergleichbar, bei dem jene mit den nötigen Finanzmitteln oder ausreichender Kreditwürdigkeit in der Lage gewesen waren, es zu bekommen. Wissen kann nicht ausschließlich mit den materiellen Mitteln der bürgerlichen Existenz erlangt werden.

Der Preis für ansehnliches Wissen ist Reisen, Armut, Geduld, Durchhaltevermögen, Einsamkeit und ausgezeichnete Gesellschaft. Das heißt, die Gesellschaft der Doktoren des Wissens, die ihre Kenntnis verkörpern (denn Wissen ist keines, bis es in die Praxis umgesetzt wird) und die ihrerseits diesen Pfad bereits beschritten haben.

Die Reise der Erkenntnis geht vom Bekannten zum Unbekannten. Allah ist Al-‘Alim, der Allwissende. Dieser Weg der Erkenntnis geht von Al-‘Alim zu allem, das nach Wissen sucht. Der erkenntnistheoretische Fehler der modernen Kultur besteht darin, dass sie Allah nicht als Quelle allen Wissens anerkennt. Weil das verweigert wird, hat Erkenntnis keinen heiligen Charakter mehr. Daher wird sie mit einem Preis belegt und schließlich als eine Ware behandelt. Eigentlich ist es Information, als Wissen missverstanden, die einen Marktwert erhält.

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Wissen bleibt genau das, was es immer schon war und es hat den gleichen Preis der Geduld, Ausdauer, Reise, Armut und der Gemeinschaft mit anderen. Es macht für denjenigen, der diesen erkenntnistheoretischen Fehler nicht gemacht hat, keinen Sinn, einen hohen monetären oder kredittechnischen Preis für technische Information sowie Training in kritischem Denken zu erheben, die dann als „Wissen“ bezeichnet werden. Das hieße, kurz gefasst, das Wissen den Armen zu verweigern, die nicht über die finanziellen Mittel verfügen. Mehrheitlich haben sie auch keinen Zugriff auf ihren Zwilling: die Kreditwürdigkeit.

Wie oft schon in der Geschichte begegnen wir einem armen Menschen, der keine andere Bildungseinrichtung als die grundlegende durchlaufen hat. So hat William Shakespeare nur eine Oberschule besucht und keine weiterführende Bildung erhalten. Anders als sein Zeitgenosse Robert Greene, der William, als dieser beim Theater anfing, mit den Worten angriff: „Empörlingshafte Kuh, geschmückt mit unseren Federn.“ Es war aber genau jener Oberschüler Shakespeare, der in der Lage war, Dramen hervorzubringen, die sogar Männer wie den hochgebildeten Goethe zum Erstaunen und zu lebenslanger Bewunderung veranlassten. Er hatte weder Geld, noch Kredit, und doch haben die ganze Welt und Menschen vieler Sprachen jahrhundertelang seine Stücke studiert.

Der Muslim mag nun zu Recht fragen: „Wenn Allah ihm nicht all das Wissen und die dramatischen Fähigkeiten verliehen hätte, die er brillant in seine Kunst übersetzte, wie hätte er dies dann nur mit seinen Oberschul-Fähigkeiten erreichen können?“

Henry James hat keine Universitäten durchlaufen. Er zog sich von der juristischen Fakultät Harvard zurück und zog es vor, sich selbst zu bilden und zur Feder zu greifen. Und doch wird er von der Welt der Literatur als bester englischsprachiger Literat betrachtet.

Hilaire Belloc, der in Oxford seinen Abschluss in Geschichte machte, war unzufrieden und brach ab, was er als strukturelle Bildung bezeichnete, obwohl er gut dafür geeignet gewesen wäre. Er entschied sich für das Schreiben, für Vorträge und rief nach der Schaffung einer gerechten politischen Ordnung. Belloc erkannte ebenfalls, dass die strukturalistische Bildung keine gelehrten Männer hervorbringt, sondern „Rädchen für die kapitalistische Maschine“. Er schuf faszinierende Werke der englischen Literatur.

Auch wenn Thomas Carlyle seinen Abschluss an der Universität Edinburgh machte, und damit begann, Mathematik zu lehren, betrieb er nichtsdestotrotz eine kritische Attacke auf das gleiche strukturelle Erziehungssystem, das Belloc später zutiefst irritieren sollte. Beispiele dafür finden sich in „Sartor Resartus“, seinen unzähligen Essays, Vorlesungen über Helden und Heldenverehrung sowie seine deutschen Begegnungen und Übersetzungen. Carlyles Schriften reflektieren deutlich, dass das, was die englische Welt ihm durch den Posten eines Rektors der Universität Edinburgh hätte anbieten können, niemals durch eine universitäre Leistung auf dem Gebiet der Bildung erreichbar gewesen wäre. Thomas Carlyle machte niemals seinen Doktor, geschweige denn erhielt er eine Professur, sondern bildete sich selbst weiter. Sein Verständnis von Wissen und sein engagierter Zugang dazu sind sehr aufschlussreich für diese Zeit.

Charles Dickens – ein Mann, dessen Bildungsqualifikation keinen nennenswerten sozialen Rang erreichte – schuf trotzdem Werke, die heute noch in beinahe allen Universitäten gelesen werden. In seinem Buch „Harte Zeiten“ findet sich eine Kritik des Nützlichkeitsdenken und der Strukturalisierung von Wissen. Das Werk reflektiert durch den anschaulichsten seiner Charaktere, Sissy Jupe, eine brillante Darstellung wahrer Bildung. Wir können uns ebenfalls zu Recht fragen, wie Dickens solche Werke schuf, die großartig die Zeiten überlebten, währen er nur eine „arme“ Erziehung erhielt.

Wie viele Universitätsgraduierte begegnen uns heute, die angesichts der ganzen technischen Information und dem Verständnis der Angelegenheiten verzweifeln, die ihnen als Wissen ausgegeben werden? Haben sie sich nicht als genauso wertlos erwiesen wie die Papierstücke, die sie dank der Studiengebühren und Studentendarlehen erwerben konnten, die sich aber im Gegenzug nicht in Arbeitsplätzen „bezahlt“ machten? Wie viele betrachten ihre Bildungskarriere als fruchtlos?

Wie viele gewiefte und gerissene Opportunisten begegnen uns täglich, die keine formelle staatliche Bildung durchlaufen, aber in einer darwinistischen Welt triumphieren, in welcher der am besten Angepasste im Konkurrenzkampf um materielle Vorteile – mit einem angenehm finanzierten Lebensstil – all jene belächelt, die sich durch die Universität kämpfen und ihren Abschluss machen, ohne dass sie Erfolg hätten, einen lukrativen Job zu ergattern?

Wie viele Doktoren der Philosophie und des bedeutungsvollen Lernens hat die Welt seit Sultan Humayun gesehen? Dieser las sein ganzes Leben hindurch und starb als Märtyrer bei der Lektüre. Während er las, hörte er den Ruf zum Gebet. Der Sultan musste zum Gebet gehen und konnte doch sein Buch nicht beiseite legen, so ging er zum Gebet in die Moschee, während seine Augen auf das Buch geheftet blieben. Humayun verlor das Gleichgewicht, stürzte vom zweiten Flur seiner gewaltigen Bibliothek und ging direkt zu Allah in einem Zustand des Lernens. Wahrlich, von Männern solchen Kalibers wurde dem Wissen mehr Wert eingeräumt als bloße materielle Zuwächse.

Es geht nicht um einen totalen Angriff auf die strukturelle Bildung, sondern um die Feststellung, dass der Wert des Wissens unendlich höher ist als materieller Nutzen und um ein Ende des fundamentalen erkenntnistheoretischen Fehlers in der modernen Kultur. Würde Wissen heute der gleiche Wert eingeräumt, wie es in der Geschichte der muslimischen Zivilisationen der Fall war, und wenn es einen engagierten Zugang zu ihm gibt, dann kann man jedes nützliche Lernen überall ergreifen.

Und da beinahe überall ein monetärer oder kreditgestützter Preis auf Wissen erhoben wird, wird man vorbereitet sein, den Preis nach eigenem Ermessen zu bezahlen, wenn man erkennt, dass dieses spezifische Wissen unverzichtbar für das Wachstum des eigenen Selbst ist.

Auch wenn äußere Beobachtung und rationale Untersuchung zu einem Wissen von etwas führen, gibt es doch eine andere, innere Anstrengung zur Aneignung von direktem Wissen von Allah. Während der Ort des ersteren der Verstand ist, sitzt das letztere im Herzen.

Ähnlich verhielten sich die Griechen zur Wahrheit. Für sie war es kein Objekt, dem man sich nähern konnte. Vielmehr erkannten sie die Wahrheit in einem Mann. Allah lehrte dem Menschen die Namen aller Dinge. Aber diese Wahrheit ist verhüllt. Die Griechen sagten, dass die Schleier entfernt werden müssen, in anderen Worten, die Wahrheit muss enthüllt werden. Wird der Vorhang hinweg gezogen, erscheint die Wahrheit.

Die Aneignung von Wissen muss parallel mit der Anbetung Allahs und dem Kampf um seine Barmherzigkeit verlaufen. Dies wird zur Enthüllung von Wahrheit führen, oder „alatheia“, wie es die Griechen nannten. Allah ist Al-‘Alim, der Allwissende. Er ist Al-Haqq – die Wahrheit. Wissen und Wahrheit kommen von Ihm. Im Falle von Aneignung, geschieht diese für Ihn und führt unausweichlich zu Allah.

Inneres und äußeres Wissen sind, so eine Beschreibung von Imam Baidawis Sicht auf die Sura Al-Kahf des Qur’an, „Madschma Al-Bahrain“, das Verschmelzen der beiden Meere. Wenn die Meere des äußeren Wissens, das äußerlich durch Beobachtung und rationale Forschung angeeignet wird, und inneres Wissen, das im Herzen direkt von Allah und nur durch Seine Barmherzigkeit offenbart wird, sich vermischen, dann entsteht ein Mensch, der in seiner Form Al-Khidr entspricht.

Ein solcher Mensch belebt alles, mit dem er in Kontakt tritt. Aber dieser, ausschließlich durch die Gnade Allahs, braucht die Anstrengung gegen das verhüllte Selbst und drei Dinge von großer Wichtigkeit: Dhikr (Erinnerung an Allah und Anbetung), Fikr (innere Einkehr) und Himma (Sehnsucht nach Allah).