Chancen, Probleme, Herausforderungen – wie könnte eine muslimische Antwort aussehen?

Ausgabe 211

(iz). Nach einem Jahrzehnt des so genannten Kampfes gegen den Terrorismus wird wieder deutlicher, dass wir im Grunde in einem ökonomisch gepräg­ten Zeitalter leben. Die ökonomische Macht hat das Primat der Politik verdrängt. Die Möglichkeit der ­Aufnahme gigantischer Kapitalmengen domi­niert die politische Landschaft. Es sind nicht die Extremisten, so bedauerlich ihre Existenz sein mag, sondern die ökonomischen Verhältnisse, die unse­re Demokratien heute unterhöhlen und gefährden.

Gleichzeitig fallen in Europa zwei große Bildungsmängel immer stärker ins Gewicht. Über lange Jahre hatten die europäischen Eliten den dauernden Innovationsdruck und die verborgenen Gefahren der Ins­trumente moderner Finanztechnik größtenteils nicht bemerkt. „Was“ beispielsweise „ein Derivat ist“, wussten noch bis vor Kurzem in der europäischen Politik nur wenige Fachleute. Sogar Parlamenta­rier beklagen öffentlich, dass sie die Rege­lungen zur Rettung des Euros im ­Grunde nicht verstehen.

Auf der anderen Seite ist der Islam in Europa, von einigen Schlagworten abgesehen, eine nach wie vor zumeist unbekannte Größe. Die Debatte über die Muslime in Europa ist zumeist nur eine Auseinandersetzung mit den Erscheinungsformen des politischen Islam. Das islamische Wirtschaftsrecht dagegen – für das tiefere Verständnis der islamischen Gesellschaften essentiell – ist nur wenigen Insidern ein Begriff. Nur langsam korrigieren die Muslime die zahlreichen Missverständnisse über ihre ­Lebenspraxis.

In dieser krisenhaften Situation in Europa bieten sich für die Muslime historische Chancen. Angeregt durch zahlreiche Berichte ist das Interesse Europas an der Position der Muslime und ihrer Offenbarung gegenüber wirtschaftlichen Fragestellungen gewachsen. Zum ­ersten Mal könnte der Islam in diesem Feld als „Teil einer Lösung“ und nicht nur als „Teil eines Problems“ erscheinen. Seine ökonomischen Grundprinzipen sind bei genauerer Kenntnisnahme schlicht vernünftig.

Die „Anbetung des Kapitalismus“ dagegen, die, nach dem Fall des Kommunismus, seinen Lauf nahm, ist heute in Europa ernsten Zweifeln und der ­Suche nach Alternativen gewichen. Schon der Philosoph Walter Benjamin hatte die quasi-religiöse Seite des Kapitalismus kritisiert und angemerkt, der Kapitalismus diene „der Befriedigung derselben Sorgen, Qualen, Unruhen, auf die die ehemals so genannten Religionen Antwort gaben“. Mit anderen Worten, die Aufklärung hat endlich das westliche Wirtschaftsmodell erreicht.

Die neue, veränderte Lage und die mögliche positive Bezugnahme auf den Islam erkannte vielleicht zuerst die italie­nische Intellektuelle Loretta ­Napoleoni. Nach der Wiedervereinigung Deutschlands schrieb sie in den 1990er Jahren ein Buch mit dem Namen „Schurkenwirtschaft“ und erklärte darin die ver­hee­­renden Wirkungen des endgültig grenzenlosen und entfesselten Kapitalis­mus. Im Islam erkannte die Journalistin eine anregende Form des maßvollen Wirtschaftens.

Einige Jahre später stellte die, eigentlich als Islamkritikerin bekannte, Autorin im „Osservatore Romana“, mit einigem Respekt über das islamische Wirtschaftsrecht sogar fest: „Wir glauben, dass das islamische Finanzwesen zur Etablierung neuer Regeln für das westliche Finanzwesen beitragen kann (…) Scharia-gemäße Investitionsformen verhindern eine künstliche Erzeugung von Geld.“ Sie hat damit einen entscheidenden Punkt getroffen.

Chancen
Die spürbare Präsenz von über 55 Millionen Muslimen in Europa hat es natür­lich mit sich gebracht, dass viele „norma­le“ Europäer auch einige Aspekte der Lebenspraxis des Islam zur Kenntnis nehmen. Die meisten Europäer wissen, dass Muslime kein Schweinefleisch essen oder keinen Alkohol trinken und dies als Teil einer „gottgewollten“ Lebensführung betrachten. Dass Dinge in einer Religion „er­laubt“ und „verboten“ sind, dürfte ebenfalls bekannt sein, aber, dass diese Regeln auch im ökonomischen Alltag eine bestimmende Rolle spielen ­könnten, ist für Andersgläubige oder Ungläubige heute eher ungewohnt. Dies gilt, obwohl im Christentum und Judentum über längere Zeit zum Beispiel die Zinsnahme ebenso verboten war wie im Islam. Das oberste Prinzip, dass es für uns Muslime zu vermitteln gilt, ist nun, dass die „Scharia“ nicht etwa ein sinnloses Zwangssystem ist, sondern, ganz im Gegenteil im menschlichen Interesse „das Abwehren von Schädlichem und das Fördern von Nützlichem“ beabsichtigt. Da der Schöpfer alles auf dieser Erde für den Menschen erschuf, lautet die islamische Grundregel zunächst: „Grundsätzlich sind alle Dinge erlaubt, verboten sind nur Dinge und Handlungen, die als solche nach der Scharia eingestuft werden.“ Der Islam ist damit eine Lebenspraxis, die Erleichterung schaffen will, dabei einen Mittelweg und nicht etwa Extreme etabliert. Deswegen wird im Qur’an auch explizit davor gewarnt, Dinge zu verbie­ten, die erlaubt sind. Oft wird in diesem Kontext auch vergessen, dass neben der Eigenschaft, dass zum Beispiel Lebensmittel „halal“ sein müssen, auch diese Nahrungsmittel gut – also „tajjib“ – sein sollen. Es geht also nicht nur darum, wie man schlachtet, sondern auch darum, dass Lebensmittel und natürlich auch Tiere gut und sinnvoll behandelt werden müssen. Mehr noch, heute erwarten Muslime von ­ihren Produkten, dass sie erlaubt, sind, aber auch, dass mit ihnen gerecht gehandelt wurde und sie gerecht bezahlt worden sind. Das qur’anische Gebot bei Handels­geschäften in „Übereinstimmung zu handeln“ übersetzt sich heute schlicht als „Fair Trade!“.

Auf Grundlage unserer These, dass die islamischen Regeln auch heute sinnvoll sind, müssen wir Muslime selbstbewusst an der Debatte über ein ökonomisch funktionierendes System der Versorgung teilnehmen. Hier liegen große Chancen für eine interessante Positionierung der Muslime in Europa. Weltweit ­verkörpern über 1,7 Milliarden Muslime, die der Halal-Markt potenziell vernetzt, eine enorme Kaufkraft und nicht zuletzt ein enormes wirtschaftliches Potenzial.

Muslimische Konsumenten sind – dies zeigen Umfragen – durch die Begriffe modern oder konservativ nicht vollständig zu fassen. Sie sind vielmehr motiviert und ehrgeizig, global denkend, gebildet und optimistisch, sie sind technischen Innovationen gegenüber aufgeschlossen. Sie sind aber auch verwurzelt in Familien­traditionen, pflegen Gemeinschaft, achten ihre Kultur und – nicht zuletzt – sie praktizieren den Islam mit Freude. Dies gilt in Asien, Amerika, aber auch in Europa gleichermaßen. Es mag sein, dass dabei die Muslime Europas, die die „Technikkritik“ der europäischen Philosophie studiert haben, vielleicht weniger technikgläubig sind als im Rest der Welt.

Die Debatte über die ökonomische ­Position des Islam, der wachsende Markt der „Halal“-Produkte und Dienstleistungen sind dabei in Europa erst seit eini­gen Jahren ein an Bedeutung gewinnen­des Thema. Das überrascht ein wenig, befassen sich doch die meisten großen Rechtsbücher auf hunderten Seiten mit Verträgen, Marktgesetzen und ökonomi­schen Grundregeln. Dutzende Male ist im Qur’an nicht nur das Gebet, sondern auch die Zakatnahme erwähnt, also eine verpflichtende, wenn auch moderate „Reichensteuer“. Im Zusammenhang zeigt sich hier ohne Zweifel eine faszinierende Seite des Islam.

Als Phänomen verdient das Thema ­„Islam und Ökonomie“ so gleich aus mehreren Gesichtspunkten eine noch größere Aufmerksamkeit. Die Millionen der Muslime in Europa, also die ­Massen konvertierter, heimischer und eingewan­derter muslimischer Konsumenten stehen für eine wachsende ökonomische Macht. In der Europäischen Union leben 14 Millionen Muslime, in den wirtschaftlich stärksten Nationen Deutschland und Frankreich leben 4,3 beziehungsweise 5,4 Millionen Muslime. Alle diese Menschen investieren, kaufen und sparen und – hier erscheint schon der nächste Gesichtspunkt – sie tun dies bewusst unter der Beachtung von bestimmten wirtschaftlichen Regeln.

Das islamische Wirtschaftsrecht, zu dem die Bestimmungen des Halal-Marktes ja gehören, ist ein Geflecht von Regeln, Normen und Verboten, das in seiner Gesamtheit auch als eine alternative Ökonomie Beachtung verdient. De facto geht es dabei um mehr als nur Vorschriften bei der Produktion von Lebens­mitteln. Im Kern allen Wirtschaftens müssen dabei der „freie Markt“, der ­„faire“ Handel und die „freien“ Handels­wege gesehen werden. Ohne diesen Kontext machen viele Vorschriften des Islam keinen wirklichen Sinn.

Die Kombination von Wirtschafts- und Wissensmacht, über die alle Muslime verfügen, manifestiert damit ungeheure Möglichkeiten, können sie doch mit einiger Intelligenz hier ganz neue Wege aufzeigen und wichtige Alternativen vorschlagen und so in Europa durchaus auch als Pioniere einer ganzheitlichen und alternativen Ökonomie angese­hen werden. Man sollte das Grundprinzip „die Hand die gibt, ist besser als die Hand die nimmt“ dabei nicht vergessen. Nur als Unternehmer und Produzenten, nur als fair Handelnde und als korrekte Anbieter wird die Präsenz von Muslimen in Europa auch durch die Mehrheitsgesellschaften positiv aufgenommen. ­Damit wäre auch ein dringend nötiger Imagewandel der Muslime verbunden.

Der globale Markt für Halal-Lebensmittel wird heute auf etwa 650 Milliarden US-Dollar beziffert. „Die globale Nachfrage steigt und soll bis 2025 jedes Jahr um mindestens 20 Prozent steigen“, meint dazu Hamid Badawi, ­Vizedirektor of UAE AL Islami Foods über die Aussichten einer ganzen Industrie. Auch die Bedeutung des europäischen Marktes wächst stetig. Der europäische Lebensmittelmarkt für Halal-Produkte hat heute ein Volumen von etwa 66 Milliarden US-Dollar. Insbesondere der deutsche und französische Markt noch ein ­großes unentdecktes Potenzial. Der Kanadische Global Pathfinder Report über Halal Food Trends berichtete im Jahr 2009-2010 alleine in Deutschland und Frankreich von weit über vierzig Neueinführungen von Halal-Produkten.

Die Frage ist nun, wie man diese günstigen Fakten für die Muslime positiv umsetzt und wer am Ende von den ökonomischen Möglichkeiten dieses Marktes wirklich profitiert. Hier müssen wir eini­ge aktuelle Probleme zur Kenntnis nehmen und den Mut haben, sie auch offen ansprechen.