
Das barbarische Jahrhundert: Manche Muslime sind bei geopolitischen Fragen befangen. Für das volle Bild braucht es mehr intellektuelle Ehrlichkeit.
(iz). Der britische Historiker Eric Hobsbawm, zeitlebens überzeugter Marxist, schrieb in seinem Werk „Das Zeitalter der Extreme“ über die Kriege und Katastrophen des „kurzen 20. Jahrhunderts“. Für ihn war es das „mörderischste“ der Menschheitsgeschichte.
Bewaffnete Konflikte, Bürgerkriege, Diktaturen, staatliche Gewalt und Völkermorde seien demnach für ca. 187 Mio. Tote verantwortlich gewesen. Insbesondere habe sich im Vergleich zur Vorzeit der Anteil von Zivilisten unter den Opfern vervielfacht und liege heute bei 90-95 % aller Getöteten.
Jahrzehntelange, fehlgeleitete und verbrecherische Interventionen der US-Außenpolitik sowie weiterer westlicher Regierungen haben nicht nur unter Muslimen zu Ablehnung „des Westens“ geführt. Die seit über 18 Monaten andauernde Barbarei der israelischen Führung und Armee in Gaza hat vielerorts berechtigte Empörung ausgelöst.
Unabhängig vom aktuellen Anlass hat sich unter Muslimen zuvor eine dichotome Sicht auf Geschichte etabliert. Demnach sei „der Westen“ in den letzten 100 bis 150 Jahren der einzige relevante Akteur gewesen und trage für alle Opfer Verantwortung. Diese Sichtweise hält einer faktischen Überprüfung häufig nur bedingt stand: Eine sachliche Analyse des „kurzen 20. Jahrhunderts“ zeigt, dass andere Akteure zu vergleichbarer Grausamkeit fähig waren.
Das barbarische Jahrhundert: Dialektik führt zu blinden Flecken
Vor allem in aktivistischen Kreisen hat sich eine polarisierte Weltsicht etabliert. Neben der notwendigen Kritik am westlichen Handeln geht diese häufig mit einer unkritischen Haltung gegenüber den strategischen Konkurrenten des Westens – etwa Russland und China – einher. Dabei wird übersehen, dass diese sowie Regionalmächte wie die Türkei, der Iran oder die Golfstaaten vor allem im eigenen Interesse agieren.
Die Chronik des „mörderischen“ Jahrhunderts zeigt, dass rücksichtsloses Handeln staatlicher Akteure weder auf spezifische Regionen oder auf einzelne Herrschaftsideologien beschränkt ist. Ein unverstellter Blick offenbart bspw., dass Staaten in Afrika und Asien gewaltsam und repressiv gegen Muslime vorgehen bzw. vorgingen.
Ob „mörderische“ Gewalt ausgeübt wird, hängt nicht allein von Ideologie oder Herrschaftssystem ab, sondern ebenso von den vorhandenen Möglichkeiten und Fähigkeiten. Der „Gewaltraum“, der sich im Kontext eines Krieges eröffnet, begünstigt weltweit immer wieder Massenmorde und Gewalt gegen Minderheiten.
Die Absicht dieses Textes ist nicht, „Whataboutismus“ zu betreiben. Nichts von dem Gesagten entbindet den Westen – historisch wie gegenwärtig – von seiner Verantwortung. Eine kritische Auseinandersetzung mit (neo)imperialer und (neo)kolonialer Politik bleibt notwendig.
Die Erwähnung menschengemachter Hungerkatastrophen und Vertreibungen unter Lenin oder Stalin, von denen ebenso Muslime betroffen waren, relativiert keineswegs die Rolle Churchills am Hungertod vieler in Westbengalen. Wer zurecht den kolonialen Giftgaseinsatz in Nordafrika anprangert, darf die muslimischen Opfer Stalins oder Maos nicht ignorieren.
Kritiker und Beobachter verweisen begründet auf ökonomische Hintergründe westlicher Interventionen. Wer „das System“ kritisiert, kann nicht übersehen, dass bspw. uigurische Zwangsarbeiter in den Fabriken der Region Xinjiang ausgebeutet werden; ein Umstand, der von internationalen Menschenrechtsorganisationen und den UN als systematische Menschenrechtsverletzung und Verbrechen gegen die Menschlichkeit eingestuft wird.
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Epistemische Gewalt
Kürzlich sah ich einen Clip einer muslimischen Influencerin, in dem es u.a. um die „epistemische Gewalt“ ging, die den Menschen in Gaza widerfährt. Der Begriff wurde 1988 von der postkolonialen Theoretikerin Gayatri Spivak geprägt und beschreibt Prozesse, in denen Wissenssysteme untergeordnet und hierarchisiert werden.
Gerade bei der deutschen Berichterstattung und dem offiziellen Diskurs ist dieser Aspekt bedeutsam. Hier zeigt sich diese Form der Gewalt ausgeprägter als in anderen westlichen Ländern.
Nimmt man diesen Punkt ernst, stellt sich die Frage, ob die linksmuslimische Blase blind bleibt gegenüber dem Leid ihrer Geschwister auf dem Balkan, im Kaukasus, in Syrien, Ostafrika, Myanmar oder China. Um es klar zu formulieren: Sehen wir nur die Opfer, für die der Westen Verantwortung trägt?
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Häufige Einwände
In der Debatte stößt dieser Hinweis auf die globale Verbreitung von Gewalt und Ungerechtigkeit häufig auf zwei bis drei Einwände: a) Der „Westen“ sei in jenem Zeitraum der Hauptverursacher menschlichen Leids. b) Zunächst müsse sich Kritik an den eigenen (in diesem Fall westlichen) Regierungen richten. c) Anders als andere Staaten beansprucht der „Westen“, wertegeleitet zu sein.
Zieht man grobe Schätzungen der Opfer zwischenstaatlicher Kriege und innerstaatlicher Gewalt heran, die von Hitlerdeutschland, dem imperialen Japan, der Sowjetunion und Maos China ausgingen, lässt sich der erste Einwand nicht vollständig aufrechterhalten.
Es gibt das überzeugende Argument, zuerst das Handeln der eigenen Regierung zu kritisieren. Legt man diesen Maßstab an, stellt sich die Frage, wo Kritik blieb, wenn es um die Zusammenarbeit mit nichtwestlichen Regimen in der Vergangenheit ging. Ich selbst habe an Demonstrationen und Informationsveranstaltungen zu Xinjiang und Tschetschenien teilgenommen. Heutige Aktivisten waren dort selten vertreten; meist handelte es sich um Mitglieder der betroffenen Exilgemeinschaften oder um klassische Menschenrechtsaktivisten.
Ein weiteres Argument betrifft die Doppelmoral des „Wertewestens“. Dieser propagiert „Werte“, die er außen- und militärpolitisch durchzusetzen versucht, sich im eigenen Handeln nicht konsequent daran hält. Nichtwestliche Länder hingegen, so die Begründung, erheben keinen Anspruch auf solche Normen.
Dieser Schluss greift zu kurz. Heutige oder aufstrebende Großmächte wie China, Russland, Indien und andere BRICS-Staaten sind UN-Mitglieder. Sie haben internationale Abkommen unterzeichnet.
Nehmen wir das chinesische Beispiel: Niemand würde ihm unterstellen, sich für Menschenrechte einzusetzen. Seit Jahrzehnten beansprucht die Regierung jedoch Prinzipien wie nationale Souveränität und Nichteinmischung. Wie wenig belastbar diese sind, zeigt sich an seiner materiellen Unterstützung für den russischen Angriffskrieg gegen die Ukraine.
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Die ganze Geschichte
In der langen Reihe der Grausamkeiten der vergangenen 150 Jahre gibt es auffällige blinde Flecken. Besonders bemerkenswert ist, dass viele muslimische Kritiker akademisch gebildet sind – Unwissen kann daher kaum als alleinige Erklärung dienen.
Wie sonst ließe sich verstehen, dass in Analysen zu antimuslimischer Gewalt, Massakern und Deportationen das zaristische Russland (+ Sowjetunion), der Ostblock und China nur selten thematisiert werden?
Beim Kolonialismus wird die Kolonisierung muslimischer Gebiete durch die Zaren vom 16. bis ins 20. Jhd. ausgeblendet. Systematische Vernichtungen und Vertreibungen bleiben in vielen Diskursen unerwähnt. Stimmen, die sich mit der Geschichte antimuslimischer und rassistischer Gewalt in Europa beschäftigen, übersehen die Balkankriege vor 1914.
Dabei waren die Übergriffe auf die Zivilisten derart brutal, dass Leo Trotzki als Beobachter, später Kommissar der Roten Armee, sich für den russischen Bürgerkrieg davon inspirieren ließ. Diese gewaltsame Vertreibung aus dem Balkan während der spätosmanischen Zeit führte zu Mio. Toten und Flüchtlingen.
Es ist den Wenigsten bewusst, welche Gewalt der Zerfall des Osmanischen Reiches und der Zaren im und nach dem Ersten Weltkrieg entfaltete. Hier entstanden „Gewalträume“, in denen unzählige Zivilisten ums Leben kamen.
Massive Verluste der Zivilbevölkerung gab es in Ostanatolien; insbesondere im Rahmen der Kämpfe mit zaristischen Truppen und der damit verbundenen Gewalt. Unter der russischen Invasion (1914–1918) wurden über 1,6 Mio. offiziell als Flüchtlinge registriert, die nach Westen flohen. Von ihnen starben 701.166 auf ihrer Flucht an Hunger, Krankheiten oder durch Massaker.
Es existieren keine allgemein anerkannten Schätzungen zur Zahl der Muslime, die während der Revolution (1917) und des anschließenden Bürgerkriegs (1917–1922) auf der Krim, in der mittleren Wolga-Region, im Kaukasus und in Zentralasien ums Leben kamen. Die Gesamtzahl der zivilen Opfer wird auf 7 bis 14 Mio. Menschen geschätzt; eine Aufschlüsselung nach Religionszugehörigkeit liegt nicht vor.
Das Wolgabecken, in der bedeutende muslimische Bevölkerungsgruppen wie Tataren und Baschkiren leben, war von massiven Umwälzungen betroffen. Gewaltsamkeit und Hungersnöte wurden sowohl durch die Kämpfe zwischen Roten und Weißen als auch durch lokale nationalistische Bewegungen ausgelöst. Der Kaukasus erlebte im 19. Jahrhundert extreme koloniale Brutalität, Zwangsmigration und ethnische Säuberungen.
Wobei im Jahrhundert vor der Revolution bis zu 1,5 bis 2 Mio. Tscherkessen getötet oder vertrieben wurden. Während des Bürgerkriegs kam es hier erneut zu schweren Kämpfen und Repressalien. In Zentralasien (heute bestehend aus fünf Nationalstaaten) kam es zu antibolschewistischen Aufständen (wie der Basmachi-Bewegung) und harten sowjetischen Repressionen.
Beobachter aus dem linken Spektrum versuchten, einen Teil der Opferzahlen mit dem Handeln der Feinde der Revolution – insbesondere der Weißen – oder mit der ausländischen Intervention durch Großbritannien, Frankreich, die USA und Japan zu erklären.
Für die Opfer, die infolge verfehlter Wirtschaftspolitik, erzwungener Hungersnöte und nachfolgender Repressionen ums Leben kamen, gibt es keine objektiv stichhaltigen Rechtfertigungen.
Unter Lenin (1921–1922) und Stalin (1932–1933) kam es zu verheerenden Ernährungskrisen, denen Mio. Menschen zum Opfer fielen. Während der ersten Katastrophe starben etwa fünf Mio. – vor allem in Regionen entlang der mittleren Wolga und am Ural, wo zahlreiche Muslime lebten. Unter Stalin forderte eine Hungerkatastrophe infolge der desaströsen Wirtschaftspolitik und der Zwangskollektivierung Mio. Todesopfer.
In Deutschland ist vor allem der Holodomor (Hungertod in der Ukraine) bekannt. Unbekannt ist, dass auch im heutigen Kasachstan etwa 1,2 Mio. Menschen – überwiegend Muslime – an Hunger starben. Diese Katastrophe wird in der Forschung als Teil der stalinistischen Repressionspolitik gegen ethnische Minderheiten und als Folge der erzwungenen Seßhaftmachung und Kollektivierung der kasachischen Nomaden betrachtet.
Ein besonders düsteres Kapitel in der Moskauer Politik stellt die Vertreibung verschiedener Volksgruppen zum Kriegsende dar. Im Spätwinter und Frühling 1944 ließ Stalin Tschetschenen und Inguschen, Krimtataren, Balkaren und Karatschaier nach Zentralasien und Sibirien deportieren.
Während der Transporte in Viehwaggons kamen zahlreiche Menschen ums Leben. Allein bei Tschetschenen und Inguschen starben laut konservativen Schätzungen mindestens 13.000 auf dem Transport, insgesamt verloren in den ersten Jahren bis zu 25-30 % der Vertriebenen ihr Leben. Todesursachen waren Hunger, Kälte, Krankheiten und Gewalt.
Tschetschenen wurden darüber hinaus als kollektive Gruppe nicht nur deportiert, sondern auch in das System der Zwangsarbeit und Gulags gepresst. Die Deportationen und ihre Folgen werden heute vielfach als Genozid bewertet, da sie auf die Vernichtung ganzer ethnischer Gruppen abzielten.
Über die Opferzahlen im kommunistischen China (1949 bis heute) lässt sich nur spekulieren. Verschiedene Stimmen sprechen von 40 bis 80 Mio. ziviler Opfer. Diese Zahl umfasst Todesopfer durch vermeidbare Hungersnöte (insbesondere während des „Großen Sprungs nach vorn“), „Säuberungen“, Bestrafungsaktionen, Massenhinrichtungen und weiteren repressiven Maßnahmen.
Eine spezifische, gesicherte Zahl bei Muslimen unter Maos Politik ist in verfügbaren Quellen nicht zu finden. Es ist bekannt, dass in der „Kulturrevolution“ und anderen Kampagnen Minderheiten wie sie (vor allem Hui und Uiguren) gezielt verfolgt wurden.
In Regionen mit einer solchen Bevölkerung kam es zu Massakern, Zerstörung von Moscheen und religiösen Stätten sowie zu Zwangsassimilationen. Der Menschenrechtler Aziz Isa Elkun spricht davon, dass die Unterwerfung und Kollektivierung der uigurischen Gebiete nach 1949 zum Tode von mehreren hunderttausenden Menschen geführt habe.
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Blinde Flecken auch in der neueren Zeit
Die Betrachtung des 20. Jahrhunderts ist meist ebenso wenig „objektiv“ wie die der letzten Jahrzehnte. Je nachdem, wo Kritiker vor und nach 1989 politisch standen, galt staatliche Repression entweder als „Tyrannei“ oder „politische Notwendigkeit“.
Ein anschauliches Beispiel hierfür ist die Perspektive außereuropäischer Muslime auf die Kriege und Massaker auf dem Balkan (1992–1999). Ein weiteres ist die sowjetische Invasion in Afghanistan, der zwischen 600.000 und bis zu zwei Mio. Menschen zum Opfer fielen.
Bis heute haben lediglich 35 von 57 Mitgliedstaaten der Organisation für Islamische Zusammenarbeit (OIC) die Unabhängigkeit des Kosovo anerkannt. Unter linken und muslimischen Aktivisten hält sich weiterhin hartnäckig die Legende einer grundlosen NATO-Aggression – als hätten die Četniks nicht kurz davor gestanden, ihre Brutalität von Bosnien im Kosovo zu wiederholen.
Verkörpert wurde diese Haltung durch die Figur des libyschen Machthabers Gaddafi. Heute gilt er manchen als Held, der – ohne die als perfide empfundene Intervention des Westens – Afrika geeint und dem Kontinent dauerhaften Wohlstand gebracht hätte. Bis zu seinem Sturz blieb er Serbien und dem Schlächter Milošević loyal verbunden.
Wo sind Alternativen für einen gescheiterten Westen?
Der globale Krieg gegen den Terror hat unermessliches Leid und enorme Zerstörungen verursacht – das steht außer Zweifel. Oft übersehen wird, dass die wichtigsten Akteure außerhalb des Westens diesem Kurs nicht aktiv entgegentraten. Das gilt übrigens auch für die gegenwärtige Vernichtung des Gazastreifens.
So ermöglichten sie etwa die Militäreinsätze am Hindukusch durch die Gewährung von Überflugrechten und logistische Unterstützung. China bspw. hätte als größter Gläubiger der USA jederzeit durch den massiven Verkauf von Dollarreserven und US-Staatsanleihen erheblichen Druck ausüben können, verzichtete jedoch darauf.
Moskau und Peking haben vielmehr von der Erosion des Völkerrechts profitiert. Es spricht einiges dafür, dass der Begriff „Krieg gegen den Terror“ ursprünglich von Russland im Kontext des Tschetschenienkriegs geprägt und popularisiert wurde.
Bis heute hat sich daran wenig geändert: Mit Ausnahme Südafrikas hat keine bedeutende BRICS-Regierung konkrete Maßnahmen ergriffen, um die Kriegsverbrechen im Gazastreifen zu unterbinden. Stattdessen nutzen diese Groß- und Regionalmächte den globalen Bedeutungsverlust des Westens gezielt, um ihre eigenen Interessen durchzusetzen.
Weit vor dem Ausbruch der jüngsten Barbarei in Gaza wurde von einem moralischen Versagen des zunehmend dysfunktionalen und ins Faschistische abgleitenden „Westens“ gesprochen. Dafür gibt es seit Beginn des 1945 von den USA dominierten liberal-westlichen Projekts zahlreiche Argumente.
Aus diesem Scheitern lässt sich bedauerlicherweise keine dialektische Alternative ableiten. Ein unvoreingenommener Blick auf das Verhalten der Staaten, die den USA und dem Westen ablehnend gegenüberstehen, zeigt, dass auch sie in passenden Momenten ebenso grausam und repressiv agieren können.
Nebenbei bemerkt: Es gibt aus offensichtlichen Gründen niemanden, der freiwillig in diese Länder auswandern möchte.