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Das trügerische Gedächtnis: Die Geschichte richtig erinnern

Ausgabe 267

Foto: Infrogmation of New Orleans | Lizenz: CC BY-SA 2.0

(iz). Es soll niemand sagen, Geschichte sei tot und wirke nicht im Untergrund weiter. Zum Beweis, dass sie – wenn „unbewältigt“ – untergründig gegenwärtig sein kann, reicht ein Blick in die USA. Inmitten einer Eskalation zwischen dem Präsidenten, der ihm freundlich gesinnten faschistoiden Bewegung und ihren Gegnern platzt sie in die gute Stube hinein. Vergangenes ist beinahe gewalttätig gegenwärtig. Das Unbewusste bahnt sich konvulsierend einen Weg und das kollektive Gedächtnis trügt in mehr als einer Hinsicht.
Für Muslime sollten Vergessen, Erinnerung und Gedächtnis nicht unbekannt sein. Das arabische Wort, für „Mensch“ lautet Insan. Eine seiner möglichen Wurzeln steht in Zusammenhang mit dem Vergessen. Es ist die Natur des Menschen, dass er regelmäßig die Segnungen seines Herrn vergisst.
Weil wir uns als Gattung in diesem Zustand des Vergessens befinden, müssen wir uns dessen bewusst werden. Im Qur’an ermahnt Allah in vielen Versen, dass Muslime sich erinnern sollten, wenn sie vergessen. So heißt es: „Erinnert euch an mich, so erinnere Ich mich an euch.“ (Al-Baqara, 152) Der große ägyptische Gelehrte As-Sujuti sagte in seinem Qur’ankommentar, dass die Erinnerung aus Gebet, bewusstem Gedenken und anderen Formen der Anbetung besteht.
Einer der verschiedenen arabischen Namen des Qur’an ist Dhikr, Erinnerung. Jenen, denen es an Wissen fehlt, wird geraten, sich an „die Leute des Dhikr“ zu wenden. Und in den meisten Freitagspredigten wird am Ende rezitiert, dass das Gedenken an Allah die größte Sache ist.
Gedächtnis kann trügen
Jetzt haben wir das Vergessen und das Erinnern. In diesem Dreiecksverhältnis fehlt das Gedächtnis – oder was wir dafür halten. Dabei ist das individuelle und kollektive Gedächtnis beziehungsweise Erinnerungsvermögen wankelmütig und zweischneidig.
2008 besuchte ich nach 33 Jahren erstmals das von meinem Großvater entworfene und gebaute Haus, in dem ich die ersten fünf Jahre gelebt habe. In meiner Kindheit und Jugend stellte ich mir diesen Ort als groß, wenn nicht gar herrschaftlich, vor. Mein Bild veränderte sich, idealisierte sich. Und doch hatte ich nie den Eindruck, mich aktiv zu belügen oder Fakten zu schönen. Als ich dann bei seiner Witwe zum Kaffee auf dem Sofa saß, war es immer noch ein schöner und praktischer Bau, schrumpfte aber auf ein großes Einfamilienhaus mit extra Räumen. Niemals wäre mir der Gedanke gekommen, ich hätte mir was vorgemacht.
Das Problem des Gedächtnisses ist keine belanglose, konsequenzlose Sache. So spielen Zeugenaussagen in Strafprozessen gerade beim Fehlen handfester Beweise eine wichtige Rolle in der Feststellung des Sachverhalts. Insbesondere im angelsächsischen Geschworenensystem nehmen sie einen bedeutenden Platz ein. Und doch machen Polizisten, Kriminologen und Strafrechtler die Erfahrung, dass der Zeuge und sein Gedächtnis vorsichtig bewertet werden müssen. Denn nicht jedem Zeugen oder Beobachter gelingt es überhaupt, genaue Informationen eines Vorfalls zu liefern. Und selbst jene mit gutem Gedächtnis und Beobachtungsgabe können per Definition nur eine subjektive Sicht der Dinge wiedergeben. Wie ein amerikanischer Kriminologe 2009 schrieb, seien 60 Prozent von 500 untersuchten Fehlurteilen in Strafverfahren auf falsche oder ungenaue Zeugenaussagen zurückzuführen.
Historiker hegen – trotz Beliebtheit der mündlichen Überlieferung in der Populärkultur – stellenweise Zweifel bezüglich der Zuverlässigkeit von „Augenzeugen“. Das gilt insbesondere in zwei Fällen. Entweder waren die Berichtenden in traumatische Ereignisse verwickelt oder die historische Periode liegt so weit zurück, dass es eine Bestätigung durch anderes Material braucht. Nehmen wir das relativ lang anhaltende Mittelalter. Welchen Stellenwert haben die schriftlichen Zeugnisse, gerade aus seiner ersten Hälfte, für ein authentisches Bild des Alltags, wenn man weiß, dass die absolute Mehrheit der Menschen nichts Geschriebenes hinterließ beziehungsweise Analphabeten waren?
Die lange Zeit viel gelesene US-Historikerin Barbara Tuchmann machte in der Einleitung ihres Buches „Der ferne Spiegel“ klar, dass es über diese historische Periode so viele widersprüchliche Aussagen gibt, dass sich gar nicht sagen lasse, wie „das Mittelalter“ war. Und wie bewertet man eine Epoche, wenn man weiß, dass deren größte Fachleute für schriftliche Hinterlassenschaften, die Kirchenleute, gewohnheitsmäßige Meister in der Dokumentenfälschung waren?
Und wie ist das „Gedächtnis“ einer Zivilisation zu verstehen, die teilweise geschichtslos und nur langsam wandelbar war? Deren Mitglieder nur selten weiter als acht bis 12 Kilometer reisten und die mehrheitlich vom nahenden Kommen der Apokalypse überzeugt waren? Keine Frage, gerade für historische Phasen, in denen es an anderweitigen papiernen oder archäologischen Zeugnissen mangelt, sind persönliche Chroniken oder Erinnerungen wichtig. Ohne aber die Welt zu verstehen, in der ihre AutorInnen lebten, ist diese Form des Gedächtnisses mit Vorbehalt zu benutzen.
Wie kaum ein anderer Film behandelt das Meisterwerk des japanischen Regisseurs Akira Kurosawa „Rashomon“ die Frage nach Erinnern, Gedächtnis und Faktizität. Darin erzählte Kurosawa, anhand des Rückgriffs auf eine japanische Legende, beeindruckend den Versuch, mit Hilfe der Aussage verschiedener Zeugen – eines Banditen, eines Samurais, seiner Frau und eines Holzfällers – ein Verbrechen aufzuklären. Der Versuch scheitert. Zu unterschiedlich sind die Erinnerungen der Beteiligten an den Vorfall. Für jeden Erzähler, der in „Rashomon“ zu Wort kommt, ist seine Geschichte in sich schlüssig.
Schmerzhafte Denkmäler
Wenn sich heute die Lager in den USA unversöhnlich gegenüberstehen, dann geht es nicht nur um die Gegenwart – Populismus, rechtes Gedankengut und politische Gewalt. Der Streit um die Zeugnisse einer schmerzhaften Vergangenheit kreist auch um die Deutungshoheit des kollektiven Gedächtnisses.
Für die Alt-Right-Bewegung sind die Monumente für Lee, Jackson sowie andere Generäle und die Südstaatenarmee bestätigende Zeugnisse einer Zeit, in welcher ihre Identität und ihre Rolle in der Gesellschaft gesichert waren. Die Gegendemonstranten und Angehörige der schwarzen Minderheit lehnen sich nicht nur gegen das Gedenken an Männer auf, die die Sklaverei militärisch verteidigten. Sie wehren sich auch gegen ein Gedächtnis, das ihre Geschichte und die an ihnen begangene Unterdrückung leugnet.
Wichtig wird hier die Einsicht William Faulkners, dass sich keine Nation auf dem Mord eines Volkes und der Versklavung eines anderen aufbauen lässt. Die Gegendemonstranten repräsentieren die historische Erfahrung, dass die Phase der Sklaverei nicht mit ihrer rechtlichen Abschaffung endete. Vermischt mit einem biologischen Rassismus überlebten viele Elemente im alten Süden. Erst mit der Bürgerrechtsbewegung wurden die widerwärtigen Jim Crow-Gesetze aufgehoben beziehungsweise thematisiert.
Die andere Seite, die mit Klan-Insignien, „Stars and Bars“ (der Südstaatenfahne) und Hakenkreuzflaggen marschierte, beansprucht das gegenteilige Gedächtnis. Eines, in dem edle Männer einen edlen Kampf zu Unrecht verloren und deren Ansehen seit Jahrzehnten beschmutzt werde. Dabei ist ihr historisches Gedächtnis ein konstruiertes. Viele Vorstellungen wurden Jahre oder Jahrzehnte nach der Südstaatenniederlage inszeniert. Dazu gehörte das Narrativ der „verlorenen Sache“ (lost cause), eine massive Kampagne zur Manipulation von Schulbüchern, Archiven und öffentlichen Dokumenten sowie Re-Etablierung der ausschließlich weißen Herrschaft durch Gewalt, Wahlmanipulation und Erpressung. Selbst viele, heute umkämpfte, Denkmäler sind Jahre, wenn nicht Jahrzehnte nach dem Ende des Bürgerkrieges in Auftrag gegeben und errichtet worden.
Eine andere Geschichte ist vergessen. Eine, in der im Rahmen der „reconstruction“ Schwarze ihr eigenes Schicksal in die Hände nahmen. Eine, in der aus ehemaligen Sklaven Bürger wurden. Ihre Gestalten, auch viele ehemalige weiße Südstaatler, gerieten in Vergessenheit. Einer von ihnen war der kompetente General William Mahone. Der Feldkommandeur in Lees Virginia-Armee, ein glühender Sezessionist und Sklavenhalter, wandelte sich nach Kriegsende zu einem anderen. Mahone organisierte unter dem Titel „Readjustment“ eine multi-ethnische, mehrheitlich schwarze Bewegung von schwarzen und weißen Republikanern sowie sympathisierenden Demokraten. Die Partei dominierte die Politik des Bundesstaates Virginia von 1879 bis 1883. Sie stellte den Gouverneur, die beiden Senatoren in Virginia und sechs von zehn Wahlbezirken. Mit seiner mehrheitlich schwarzen Partei setzte sich Mahone für die Gleichstellung der neuen Bürger ein. Unter eigenen Leuten erhielt er den ehrenden Beinamen „Moses“. Anhänger der alten Ordnung setzten Mahone mit dem römischen Verräter Catalina gleich. Große schwarze Gestalten wie Frederick Douglas oder Harriett Tubman überlebten im schwarzen Gedächtnis und werden seit längerer Zeit auch landesweit geehrt. Personen wie General William Mahone oder Captain Newton Knight („Free State of Jones“) sind noch nicht Teil dieses Narrativs.
Der ewige Kreuzzügler?
Als George W. Bush am 16.09.2001 von einem „Kreuzzug gegen den Terror“ sprach, bereuten er und sein Team diesen Lapsus schnell. Zu düster und aggressiv war die Parallele. Die Büchse der Pandora war geöffnet. Danach bezogen sich Massenmörder wie Breivik und Teile der muslimfeindlichen Internationale positiv auf das Gedächtnis der Kreuzzüge.
Dabei spielten die „bewaffneten Wallfahrten“ – von kolonialen Bezügen im 19. Jahrhundert abgesehen – sehr lange für die historische Erfahrung von Muslimen und Europäern kaum eine Rolle. Und dieser geografisch eher übersichtliche Kampf um Syrien, Palästina und Jerusalem wurde für die Muslime durch den Mongolensturm an den Rand gedrängt. Von den Kulturstätten Zentralasiens, über die Metropole Bagdad bis nach Anatolien zogen die Steppenreiter eine Spur der Vernichtung und löschten ganze Zivilisationen aus. Keine Frage, es gab Episoden enormer Grausamkeit wie bei der Eroberung Jerusalems, aber im Vergleich zu den Schädelbergen von Dschingis Khan, Kublai sowie Amir Timur verblassen die periodischen Gemetzel in Palästina. Daher ist es auch kein Wunder, dass sich Muslime nach ihnen mehr an den Mamluken Baibars erinnerten als an Sultan Salahuddin oder Emir Nuruddin. Ersterer führte das Mamlukenheer, das bei ‘Ain Dschalut und anderswo die Mongolen schlug und so den Rest des Nahen Ostens, die heiligen Stätten sowie Ägypten rettete.
Es sollte Jahrhunderte dauern, bis sie Muslime wieder bewegen sollten: als Objekt der Feindbilderzeugung und der Mobilisierung durch den arabischen Nationalismus und – nach dessen Scheitern – den politischen Islam. Seit Beginn des Terrors in der modernen muslimischen Welt gibt es kaum eine Stellungnahme bewaffneter Gruppen, die nicht ohne Erwähnung westlicher „Kreuzzügler“ auskommt. Wie kommt es, dass sich hier eine Erinnerung an die Kreuzzüge konstituiert hat, die für frühere Muslime keine oder eine zu vernachlässigende Rolle gespielt hat? Wie kann es sein, dass für Jugendliche, die in Berlin-Moabit oder Köln-Chorweiler zur Welt kamen, Richard II., der Templerorden oder das Königreich Jerusalem eine Bezugsgröße sind?
Identität und Stärke
Kollektive Vergangenheit, die nicht vergehen will, ist kein Vorrecht bestimmter Gruppen. Aus einer deutschen Perspektive betrachtet sollte das nachvollziehbar sein. Und es ist bekannt, dass Erinnerungen in Familien und Gemeinschaften weitergegeben werden. Welche Form unser Gedächtnis in diesem Prozess annimmt, steht auf einem anderen Blatt.
Jüngst wurde das in der Debatte um deutschtürkische Befindlichkeiten klar. Wenn stämmige deutsche Motorradrocker sich positiv auf die Osmanen beziehen oder ein Facebookpseudonym seine nationalistischen Fantasien unter Berufung auf die Geschichte des Herkunftslandes der Großeltern verbreitet, ergeben sich für uns relevante Fragen.
Woher speist sich ihr Gedächtnis? Wie kommen die Betroffenen zu einer vermeintlich authentischen Erinnerung, wenn diese jahrzehntelang durch die Republik unterbrochen wurde und sie selbst existenziell an einem anderen Ort mit anderer Geschichte leben? Und welche Funktion hat das so konstruierte Osmanische für die Menschen?
Ein erster Schritt zur Souveränität ist es, sich der Fallstricke des Gedächtnisses bewusst zu werden. Und genau hinzuschauen, woher und wie wir Elemente auswählen, die wir später zum Bestand unserer Erinnerung werden lassen. Ein wichtiger Ansatz hierzu mag sich in einer Überlieferung vom großen Gelehrten Medinas, Imam Malik, finden. Es wurde berichtet, dass er sagte: „Dieses Wissen ist entscheidend für unsere Lebenspraxis. Also schaut auf diejenigen, von denen ihr nehmt. Ich habe siebzig Leute getroffen, die sagten, ‘der Gesandte Allahs, möge Allah ihn segnen und ihm Frieden geben, sagte …’ und die in dieser Moschee saßen.“ Dabei zeigte er auf die Moschee. „Und ich habe nichts von ihnen genommen. Hätte man jedem einzelnen von ihnen einen Schatz anvertraut, hätten sie sich als vertrauenswürdig erwiesen. Aber sie waren nicht geeignet, diese Angelegenheit zu übernehmen.“
In der kommenden Ausgabe beschäftigt sich der Autor mit Veränderungen, die der muslimische Diskurs durch die Umwälzungen der Geschichte erfuhr.