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Der Alltag muss entgiftet werden

Ausgabe 297

Screenshot: ZDF

(iz). Tote in Hanau. Deutschland ist entsetzt und überrascht. Am Donnerstag Abend ein Special zu Hanau. Die Anwesenden sind nicht unbekannt. Hessens Ministerpräsident, die Bundestags-Vizepräsidentin, die Landtags-Fraktionsvorsitzende in Hessen, ein Rechtsextremismus-Forscher und eine Journalistin/Buchautorin. Am Ende der Sendung betont Frau Illner – es klingt wie eine unaufgeforderte Rechtfertigung – dass sie ja häufiger Bürger muslimischen Glaubens einladen würden.

In einem scheinen sich alle Anwesenden einig: Nicht einfach die AfD und ihre polemisierende und gewaltfördernde Rhetorik ist Schuld – und Kübra Gümüşay, die Bürgerin muslimischen Glaubens am Tisch tat in der Sendung etwas, das ich so noch nicht gesehen habe in einer Talkshow. Sie kritisiert im Format, das Format selbst. Sie benennt eben das, was stark dazu beigetragen hat, dass ein, wie unsere Kanzlerin sagt, vergiftetes gesellschaftliches Klima herrscht im Deutschland des 21. Jahrhunderts.

Eine der Fragen, die Illner stellte, richtete sich an Frau Wissler, der Landtags-Fraktionsvorsitzenden in Hessen: „Was haben Muslime und andere Menschen von diesen Sonntagsreden an Werktagen?“ Sie antwortete: „Ja, leider sehr wenig und dass hat sich gestern einmal mehr gezeigt, dass die Gefahr von Rechts viel zu lange nicht ernst genug genommen wurde, dass – ja! Opfer zu Tätern gemacht wurden. […] Wir müssen über das gesellschaftliche Klima, in dem so eine Tat geschehen kann, sprechen. Wir müssen aber auch über institutionellen Rassismus sprechen.“

Opfer wurden zu Tätern gemacht. Damit sprach Wissler das aus, was ich als Teil der sogenannten 3. Generation (mein Opa kam als Arbeiter in den 1960er Jahren nach Deutschland und baute dieses Land mit auf) und viele viele andere immer wieder im Alltag, in der Schule und auf der Arbeit angesprochen haben: Rassismus existiert

Hagen Rether, ein Kabarettist, sagte 2007 bereits: „WEHE UNS, WENN HIER DEMNÄCHST DIE MOSCHEEN BRENNEN.“ Sie brannten. Aber das reichte nicht um ein Special zu bringen, liebe Frau Illner. Es reicht nicht einfach Muslime einzuladen. Wenn Muslime eingeladen werden, die sprachlich nicht besonders versiert sind, die sich nicht über die Wirkung bewusst sind, die sie machen und die anderen Studiogäste, das gnadenlos ausnutzen und weiteres Gift sprühen, dann nützt die süffisante Feststellung, dass sie ja MuslimInnen auch in der Vergangenheit eingeladen hätten, nichts. Einfach gar nichts. Sie sind Teil derer, die das Klima hergestellt haben. Auch Sie, Frau Illner und Ihre Kollegen der anderen Talkshows haben dazu beigetragen, dass solch ein Klima voller Gift im Deutschland des 21. Jahrhunderts herrscht. Und es haben Menschen mit ihrem Leben einmal mehr dafür bezahlt.

Malcolm X, dessen Todestag sich nun zum 55. Mal jährte, sagte: „Die Medien sind die mächtigste Einrichtung auf der Erde. Sie haben die Macht Unschuldige schuldig und Schuldige unschuldig zu machen – und das ist Macht, weil sie den Verstand der Masse kontrollieren.“ Frau Illner und KollegInnen sind ein solches Medium, das solch eine Macht ausübte. Und diese Shows waren in der Vergangenheit oftmals inszeniert mit Zuschauern im Studio, die inszeniert klatschten, um eine Stimmung zu erzeugen.

„Wir islamisieren uns schleichend“ lautet ein Artikel Rainer Haubrichs in der „Welt“ aus dem Jahr 2017. Ein Bild der Kaaba in Mekka ist im Online-Artikel abgebildet, der heute noch abrufbar ist. UND Deutschland fragt sich, wie solch ein Klima entstehen konnte. Das Bürgertum Deutschlands, das ist infiziert mit dem Virus des Rassismus. Nicht erst seit die AfD gegründet wurde. Schon am 26.03.2007 titelte der „Spiegel“: Mekka Deutschland Die stille Islamisierung“. Im Hintergrund des abgebildeten Brandenburger Tores ist ein Stern mit Halbmond.

Durch Titel wie diese wurde der AfD der Weg geebnet. Die AfD ist nicht an Anschlägen Schuld. Die Ideengeber der AfD sind es. Wer sind die Ideengeber? Der Journalismus vor der Gründung der AfD – oder ist es Zufall, dass mehrere Jahre immer zu Weihnachten eine Ausgabe des „Spiegels“ erschien, in denen das Christentum im Kontrast zum Islam dargestellt wurde, wie Gegner. Das Christentum mit buntem Hintergrund, Islam natürlich mit Schwarzem. Hagen Rether hat in zahlreichen Kabaretts darauf aufmerksam gemacht, doch wer hat auf ihn gehört? Man muss also nicht Muslim sein, um wahrzunehmen, dass die deutsche Gesellschaft keine 100 Jahre nach der Entnazifizierung wieder nazifiziert ist.

Wer Antisemit ist, der ist auch Islamfeind. Wer Islamfeind ist, der ist auch Antisemit. Das ist die Gleichung. Es wird immer danach geschrien, dass Muslime sich aufklären sollten. Kant, der Aufklärer, spricht von der überlegenen weißen Rasse. Voltaire, der angebliche Aufklärer, spricht in seinen Briefen mit Friedrich dem Großen, immer wieder von den „barbarischen Türken“, die er „immer hassen werde“. Die überlegene Weiße Rasse. Dieses Geschwätz. Wer klärte diese angeblich überlegene weiße Rasse auf? Gemäß Herder, einem wahren Humanisten, waren dass die Muslime Spaniens. In seinen „Briefen zur Beförderung der Humanität“ sagt der Mentor des bedeutendsten deutschen Dichters, Goethe, Folgendes: „Die Erscheinung selbst, daß an den Grenzen des arabischen Gebiets sowohl in Spanien als in Sizilien für ganz Europa die erste Aufklärung begann, ist merkwürdig und auch für einen großen Teil ihrer Folgen entscheidend.

Unleugbar ist’s nämlich, daß die Araber in ihrem weiten Reiche, das sich von China bis Fez, von Mozambique bis fast an die Pyrenäen erstreckte, Sprache und Wissenschaften, Handel und Künste sehr kultiviert hatten. Wie anders nun, als daß in Spanien, wo ein Hauptsitz dieser Kultur war, wo jahrhundertelang die Christen mit ihnen in Streit oder ihnen unterwürfig gelebt hatten, neben diesem hellen Licht nicht ewig und immer die Dunkelheit verharren konnte? Es mußten sich mit der Zeit die Schatten brechen; man mußte sich seiner schlechten Sprache und Sitten, der ungebildeten Rustica schämen lernen, und da die meisten Spanier Arabisch konnten, auch eine unsägliche Menge arabischer Bücher und Anstalten in Spanien jedermann vor Augen war, so konnte es ja nicht fehlen, daß jeder kleine Schritt zur Vervollkommung auch unvermerkt nach diesem Vorbilde geschah.“

„Der“ Islam muss nich aufgeklärt werden. Die Muslime müssen sich selbst über ihren Glauben aufklären – das ist ein feiner Unterschied. Sich bloß Kant, Voltaire, Hegel oder Fichte zu fügen, hieße rassistische Gedanken aufnehmen. Was lehrt uns Malcolm X über Rassismus: „Amerika [wir können getrost Deutschland sagen] muss den Islam verstehen, weil dies die eine Religion ist, die das Rassenproblem aus seiner Gesellschaft löscht. Während meiner Reisen in die muslimische Welt habe ich Menschen getroffen, mit ihnen gesprochen und sogar mit ihnen gegessen, die in Amerika als ‚weiß‘ galten, aber die ‚weiße‘ Haltung war durch die Religion des Islam aus ihren Gedanken gerissen worden.“

Muslime können diese Gesellschaft bereichern. Sie können auf Probleme aufmerksam machen, die solche, die festgefahren sind in den Strukturen, nicht in der Lage sind zu erkennen. Terry Eagleton beschreibt dieses Phänomen in seinem Buch „Kultur“ im Kapitel über Oscar Wilde: „Für Außenseiter ist es immer leichter, die konstruierte Natur der gesellschaftlichen Wirklichkeit zu erkennen, um dann zu denaturalisieren, was die einheimischen Denker spontan als gegeben hinnehmen.“

Wie kann also das gesellschaftliche Klima entgiftend harmonisiert werden? Indem positive Beispiele von jungen Muslimen und Juden in den Massenmedien abgebildet werden. Indem Muslimen und Juden der Raum, ja die öffentliche Aufmerksamkeit gegeben wird, um über Diskriminierung im Alltag zu sprechen. Auf der Arbeit wurde ich beispielsweise als krank bezeichnet, weil ich fasten würde – so denkt vermutlich auch die breite Öffentlichkeit über mich. Mein Dozent für Philosophie sieht das anders: „Sie schaffen es von morgens bis abends ihren Körper zu beherrschen und erheben sich über die Materie.“ Faszinierende Ansicht! Genau darüber muss gesprochen werden und nicht darüber, dass zu fasten ungesund sei. – Dies ist ein Beispiel. Mehr könnten mit Leichtigkeit genannt werden.

Die Bevölkerung Deutschlands fürchtet und dämonisiert Muslime und Juden nicht, weil die AfD im Bundestag sitzt. Weil die ganzen Jahre über giftige Stimmung versprüht wurde, bildet die AfD nun die Gedanken ab, die antisemitische und islamfeindliche Journalisten gesät haben, indem sie immer nur Halbwahrheiten abbildeten. Ja, es gibt Muslime, die sich daneben benehmen, aber: stellt doch neben jeden, einen der sich anständig benimmt. Stellt neben jeden sich daneben benehmenden Christen einen, der sich anständig benimmt. So wäre es nicht zu solch einem giftigen Klima gekommen. Das sind meine Beobachtungen als Außenstehender.

Die Sendung war ein guter Anfang. Es wurden Dinge benannt, die vorher nicht benannt wurden: Der Alltag muss entgiftet werden. Dies wird uns nur dann glücken, wenn wir begreifen: Hanau ist kein Zufall. Hanau ist das Produkt des gesäten Hasses. Die „Mutter aller Probleme“, wie sie der Innenminister Seehofer nannte, wurde von Tobias R. In Angriff genommen. Auch Seehofer trägt Schuld an diesen. Toten! Doch es bringt auch Muslimen nichts zu sagen: „Wir haben es doch gesagt. Aber leider haben sich die Befürchtungen bestätigt.“ Rassismus und Diskrimierungen werden und müssen im Alltag bekämpft werden. Nicht bloß auf irgendwelchen Vorzeigeveranstaltungen. Dann, wenn die Menschen nicht mehr als krank bezeichnet werden, wenn sie fasten oder beten oder eine Kippa oder ein Kopftuch tragen, dann gibt es sichtbaren Fortschritt. Dann, wenn Politik nicht auf dem Rücken von Kindern, die bloß ihre Eltern nachahmen, ausgetragen wird, dann erst gibt es sichtbaren Fortschritt. Bis dahin ist alles leeres Gerede.

Wir enden mit dem deutschen Meister des guten Benehmens, dessen Geist völlig ausgestorben zu sein scheint in deutschen Landen, Knigge: „Man vermeidet heutzutage oft zu vorsätzlich alle Gelegenheiten, über Religion zu reden. Einige Leute schämen sich, Wärme für Gottesverehrung zu zeigen, aus Furcht, für nicht aufgeklärt genug gehalten zu werden.“

Lasst uns öffentlich auch über Gottesverehrung sprechen. Dies würde aufklären und Ängste auslöschen. Der wahre Knigge und nicht das, was in seinem Namen in den Regalen liegt, ist uns hier ein Vorbild!