Zur Zukunft der Islamdebatte

Ausgabe 232

„Was die Debatte nicht verdient, sind polarisierende Persönlichkeiten, die bewusst aus der Kritikalität der Debatte schöpfen und gezielt die Gezeiten der gesellschaftliche Teilnahme lenken, um Fluten von Hass und Misstrauen auf beiden Seiten zu erzeugen.“
(iz). Warum führen wir heute eine Debatte über den Islam in Deutschland? Die Antwort, die für Christian Wulff eine ganz einfache war, nämlich, dass der Islam mit fast 5 Millionen Muslimen zu Deutschland gehöre, wurde erstaunlicher Weise von der Regierungsspitze und einem Großteil der hiesigen Gesellschaft scharf kritisiert. Wenn der Islam also nicht zu Deutschland gehört, warum reden wir dann über den Islam in Deutschland oder sogar den „Deutschen Islam“, unterstützen Institute und Fakultäten der Islamischen Theologie, diskutieren über die Zukunft der Islamischen Dachorganisationen in Deutschland und veranstalten Jahr um Jahr eine Islamkonferenz?
Der Grund ist ebenfalls simpel, wenn auch in seiner Natur das größte Hindernis für eine gesunde Willkommenskultur. Wenn über den Islam in Deutschland gesprochen wird, setzt jeder Teilnehmer unterschiedlich an. Während die einen die Zukunft des Islam in Deutschland gänzlich in Frage stellen, versuchen die anderen, die Kompatibilität von Islam und Demokratie zu belegen und ein Modell für das Zusammenleben zu gestalten. Beide Seiten haben eine mehr oder weniger klare Vorstellung oder zumindest Ansätze einer Vision, was die Zukunft des Islam in Deutschland betrifft. Zwischen beiden Seiten beobachten wir jedoch die Mehrheit der Gesellschaft, Muslime und Nichtmuslime, die sich von der so notwendigen Debatte abwenden oder sich wie die Gezeiten manchmal erheben um dann wieder im kollektiven Schweigen unterzutauchen.
Die Debatte über die Zukunft des Islam in Deutschland verdient jedoch mehr als Gleichgültigkeit oder Ignoranz. Sie verdient eine ehrliche und von jeglichen Vorurteilen befreite Politik, die fünf Millionen Muslime als Teil des Landes sieht und sie fest umarmt und den Menschen dadurch die Frage nach Vereinbarkeit von Demokratie und Islam beantwortet. Eine Politik, die den Islam nicht auf ein Integrationshindernis reduziert und als Gefahr für die „christlich-jüdische Abend­landkultur“ sieht, sondern das Potential und die Vielfalt dieser Menschen nutzt, um neue Wege zu gehen, sowohl innen- als auch außenpolitisch. Eine Politik, die sich nicht anmaßt, als Islamexperte zu sprechen oder gar zu agieren, sondern Islamexperten sprechen lässt und über die Zukunft des Islam in Deutschland diskutiert, wenn auch Muslime am Tisch sitzen. Die Debatte verdient ein hohes Maß an Empathie, wenn die Kopftuch tragende Frau wieder und wieder thematisiert.
Auch verdient die Debatte Einigkeit unter den Muslimen; sie verdient ein Umdenken der alteingesessenen muslimischen Dachorganisationen, ein Sich-Selbst-Neu-Erfinden dieser, um wieder zu erfühlen, was die jungen Muslime in Deutschland bewegt, eine selbstkritische Auseinandersetzung, deren Ergebnis das Zusammenleben der Religionen greifbar macht. Die Debatte verdient eine Einbindung von Persönlichkeiten wie Prof. Bülent Uçar, Prof. Abdurrahim Kozali, Dr. Navid Kermani und weiteren Vordenkern, die es geschafft haben, auf differenzierte Weise jungen Muslimen eine Vision zu vermitteln, in der sie gerade, aufgrund ihrer religiösen Identität, einen bedeutenden Mehrwert für die hiesige Gesellschaft stiften. Was die Debatte nicht verdient, sind polarisierende Persönlichkeiten, die bewusst aus dem kritischen Charakter der Debatte schöpfen und gezielt die Gezeiten der gesellschaftlichen Teilnahme lenken, um Fluten von Hass und Misstrauen auf beiden Seiten zu erzeugen.
Sie verdient auch nicht eine bis zum Himmel schreiende Einseitigkeit im Umgang mit Muslimen, denn auch Muslime sind Menschen und fühlen Angst und Verzweiflung, wenn beispielsweise seit 2001 über 302 Moscheen angegriffen oder 10 Menschen aufgrund ihrer Herkunft niedergeschossen werden, ein Staatsapparat scheinbar tatenlos zusieht und milde gesagt – versagt hat.
Wir haben keine andere Wahl, uns der Debatte zu stellen – aufrichtig und ergebnisoffen. Sie muss geführt werden, um einer fortlaufenden Spaltung in unserer Gesellschaft entgegenzuwirken. Die muss in unseren Wohnzimmern geführt werden, in den Schulen und Universitäten, in Kunst und Musik, Literatur und Politik. Bevor die Entfremdung Maße annimmt, bei der sich keine Seite mehr in die Augen schauen kann.