Über den Alltag der Muslime: Wie verstehen Muslime Träume?

Ausgabe 221

„Die Menschen schlafen, und wenn sie sterben, erwachen sie.“ (Der Prophet Muhammad)

(iz). Wir leben in einer Zeit, in der Sprache oft dermaßen entleert wurde, dass ihre ursprünglichen Bedeutungen nicht nur langsam verloren gehen, sondern im schlimmsten Fall gar in ihr Gegenteil verkehrt werden. Dieser oft zu beobachtende Sachverhalt ist sicherlich kein abgeschlossener Fait accompli, sondern pflanzt sich in jeder neuen Generation in neuen Mutationen fort oder erhält eine andere Ausprägung.

Ein Beispiel dafür ist der „Traum“. Anfangen vom ikonographisch überhöhten Auftritt bekannter Gestalten wie Martin Luther King („I have a dream…“) oder vom Traum einer politischen Bewegung, der sich irgendwann einmal realisieren soll, ist das Phänomen des Träumens im Schlaf, dem früher ein Element des prophetischen Phänomens zugeschrieben wurde, längst auf eine weltliche Ebene verflacht worden.

Wie oft können wir uns – wenn wir ehrlich sein wollen – dabei beobachten, dass wir materielle Dinge in der Begrifflichkeit des Traumes beschreiben. Und den letzten Todesstoß erhielt eine derartige, ernstzunehmende Sache – wie es nicht selten der Fall ist – von der Werbeindustrie, die uns Verbrau­chern Reisen, Einbauküchen oder den neuesten Kleinwagen als „traumhaft“ anpreist.

Es wäre – sicherlich an anderer Stelle – zu fragen, ob das Abgleiten des Traums ins schnöde Materielle zum Abebben unserer sozialen Visionen führt. Mittlerweile macht sich zurecht der Eindruck breit, dass in unserer beinahe schon gewalttätigen Konsenskultur die Alternativlosigkeit regiert.

Kollektives Trauma?
Wenn unser kollektiver „Traum“ darin besteht, das neueste iPhone oder ein ähnliches Cadget des so genannten „Lifestyle“ (als ob man ein Leben ­stylen könnte!) zu besitzen, ist es dann ein Wunder, wenn viele Träume kaum noch wahre Bedeutungen enthalten?

Ebenso gilt, dass wir mehrheitlich längst ein Leben führen, dessen Struktur unserem Körper, Geist und unserer Seele gar nicht mehr den Raum für Träume mit Bedeutungen lässt. Wie oft träumt man zumeist nur noch entweder von Dingen, die einen in der Wachphase zuvor beschäftigen oder die aber unseren jeweiligen Zustand und unsere Lebensweise reflektieren.

Erschwerend kommt hinzu, dass wir – im Gegensatz zu unseren Vorfahren – ständig von, oft als störend empfundenen Sinneserfahrungen umgeben sind. Manchmal setzen wir uns diesen auch freiwillig aus. Im Zeitalter des Filmschnitts in Sekundenschnelle, dauerhaften Einfluss von Licht- und Geräuschquellen kommen unsere Gehirnzellen und neuronalen Netze wohl kaum zu der notwendigen Ruhe, die beispielsweise ein ruhi­ges Reflektieren im Wachzustand ermöglicht. Eine logische Schlussfolgerung ist, dass unser Gehirn diese notwendige Tätigkeit in die Zeiten der Abwesenheit unseres Bewusstseins verlegen muss, um sich dieser teils störenden, teils schädlichen Einflüsse zu erledigen.

Ebenso erwähnenswert wären auch veränderte Lebensgewohnheiten, die dazu führen, dass viele von uns tendenziell zu spät zu schwer essen, zu wenig Bewegung haben und tagsüber einer Spannung ausgesetzt sind, für die nicht alle im Alltag ein Ventil gefunden haben. Kurz gefasst, es steht derzeit gar nicht gut um die körperlichen Voraussetzungen für einen bedeutungsvollen Traum. Und die wenigsten Stadtbewohner können wohl behaupten, dass ihre Schlafumgebung frei ist von unnötigen Licht- und Lärmquellen.

Umso wichtiger wird hier Goethes Rat, möglichst nach außen hin schaffend tätig zu sein, um sich von jenen Dingen auf diese Weise zu befreien, die uns andernfalls im Schlaf befallen konnten. Man bedenke, dass er das vor mehr als 200 Jahren gesagt hat!

Eine Wissenschaft und ihre Grundlagen
„Im Gegensatz zur momentanen Gemengelage ist das Wissen von den Träumen ein wichtiger Teil der islami­schen Wissenschaften“, erklärt der Gelehrte Dr. Asadullah Yate. „Das Wissen von ihrer Deutung ging jedoch weitgehend verloren.“

Der bekannte marokkanische Gelehrte und Sufi Ibn Adschiba merkte in seinem Qur’ankommentar „Al-Bahr Al-Madid“ an, dass es zwei Arten von Träumen gibt, auf die er mit zwei unterschiedlichen arabischen Worten verweist: Ru’ja (im Wachzustand) und Rujaa (während des Schlafs).

„Es gibt Träume, die ausschließlich von der Nafs [arab. für Triebseele] oder von Schaitan stammen, vor ­denen man Zuflucht suchen und dann vergessen muss. Und es gibt solche, die himmlischen Ursprungs sind und die man beachten muss“, meint Dr. Yate. Viele Leute jedoch würden ­ihren Träumen mehr Beachtung schenken als dem, was mit ihnen in der wirklichen Welt geschehe. Das sei ein Ungleichgewicht. „Allah unterweist uns durch das, was Er uns in den Zeichen dieser Welt manifestiert.“

„Die Träume der Propheten sind alle – im Vergleich mit anderen – eine Inspiration. Es wurde in einem Hadith von ‘Aischa überliefert, dass die erste Sache der Offenbarung an den Propheten, möge Allah ihn segnen und ihm Frieden geben, eine wahrhaftige Vision war. Alles, was er in ihr sah, sollte eindeutig geschehen, bis Dschibril zu ihm kam und ihm die ersten Verse [des Qur’an] mitteilte“, führt der spanische Muslim Malik Del Pozo, der als Qur’an- und Arabischlehrer arbeitet, in die Materie ein.

Viele Träume des Gesandten Allahs, möge Allah ihn segnen und ihm Frieden geben, wurden in der Muwatta’ überliefert. Und natürlich gibt es den bekannten Traum von Jusuf im Qur’an. Jusuf sei das Wissen von Ta’bir gegeben worden und er war in der Lage, dem König diesen zu interpretieren; was das Leben eines ganzen Volkes beeinflussen solle.

„Die legal Basis für die Gültigkeit von Träumen wurde aus den Vorgän­gen bezüglich Jusuf, seinem Vater, Brüdern und dem Volk von Ägypten abgeleitet“, so Dr. Asadullah Yate.

Im Abschnitt „Vision“ von Imam Maliks Muwatta’ findet sich der Bericht, in dem der Gesandte Allahs, möge Allah ihn segnen und ihm Frieden geben, über den wahren Traum befragt. Er antwortete: „Der wahre Traum des richtig handelten Mannes ist der 46. Teil der Prophezeiung.“ Über dieses Hadith, so Malik Del Pozo, habe der Gelehrte Al-Mahlab gesagt: „Dies meint die meisten der Träume der Männer des guten Verhaltens (Salihin), aber nicht alle. Auch sie können zusammenhanglose Träume haben, aber nur wenige, das Schaitan keinen großen Zugang zu ihnen hat.“ Laut Del Pozo fände sich bei Al-Mahlab noch eine weitergehende Erläuterung zu dieser Aussage: „Die Menschen sind in dieser Sache in mehrere Gruppen unterteilt. Es gibt die Propheten, deren Träume alle wahr sind. Es kann etwas in ihnen sein, dass einer Interpretation bedarf. Dann kommen die Salihin. Die meisten ihrer Träume sind wahr. Die ande­ren können ebenfalls wahre Träume haben, aber auch viele andere, zusam­menhanglose. Diejenigen, die verdor­ben sind, die meisten ihrer Träume sind zusammenhanglos und enthalten nur sehr wenig Wahrheit.“

Und er, möge Allah ihn segnen und ihm Frieden geben, sagte auch: „Der gute Traum ist von Allah und der schlechte von Schaitan.“

Der Gesandte Allahs, möge Allah ihn segnen und ihm Frieden geben, sagte auch: „Es ist nichts vom Prophetentum geblieben als die frohe Botschaft (Mubaschirat).“ Seine Gefährten fragten ihn: „War sind die Mubarschirat?“ Er entgegnete: „Der gute Traum.“

Der Imam Ibn Al-Baqillani sagte hierzu: „Allah erschuf den guten Traum in Anwesenheit der Engel und den schlechten in Gegenwart von Schaitan. Daher wird jenem dieser zugeschrieben.“

Was tun?
Malik Del Pozo wies im Gespräch daraufhin, was uns der Gesandte Allahs hinterließ, wie wir mit einem wahren Traum umgehen sollten. Der Prophet sagte: „Wenn einer von euch etwas sieht, das er liebt, dann sollte er darüber sprechen; aber nur gegenüber dem, den er liebt.“ In anderen Aussagen wird diese Gruppe noch ausgeweitet: Diejenigen, die der Träumen­de liebt, den Gelehrten, denjenigen, der die Träume kennt, und den Berater. Qadi Abu Bakr ibn Al-’Arabi, so der junge Spanier, habe dies noch weiter erklärt: „Der Gelehrte deutet den guten Traum. Der Beratende führt ihn zu dem, was ihm nützt und hilft. Der Experte für Träume lehrt ihn, was er darüber weiß. Er schweigt über Dinge, von denen er keine Kenntnis hat. Und demjenigen, den man liebt, erzählt man von der guten Sache in einem wahren Traum und schweigt über den Rest.“

Der Prophet, möge Allah ihn segnen und ihm Frieden geben, sagte uns auch, wie wir mit schlechten Träumen umgehen sollten: „Wenn einer von euch etwas sieht, dass er nicht mag, dann sollte er drei Mal über seine linke Seite spucken und Allah um Zuflucht vor ihrem Schaden bitten, sodass ihn das Schlechte darin nicht treffen wird.“

In einem Hadith von Abu Sa’id Al-Khudri findet sich, dass dieser hörte, wie der Gesandte Allahs sagte: „Wenn jemand von euch einen Traum hat, der ihm gefällt, dann ist dieser von Allah und er sollte Ihm dafür danken und darüber sprechen. Und wenn jemand etwas anderes sieht, das ihm missfällt, dann ist das von Schaitan. Man sollte Zuflucht vor seinem Üblen suchen und niemandem darüber erzählen, sodass es ihm nicht schaden wird.“

„Die Gelehrten haben über die Weisheit jener Dinge gesprochen, die man im Falle eines schlechten Traums tun soll“, berichtet der junge Spanier. „1. Zuflucht vor dem Schlechten darin erflehen. Dies ist klar und gilt in der Scharia für jede unbeliebte Sache. 2. Zuflucht suchen vor Schaitan, denn es wird in den Hadithen gesagt, dass dieser Traum von jenem kommt.“ Seine Absicht sei, die Gläubigen zu betrüben und sie einzuschüchtern. Und schließlich der dritte Punkt: Über die linke Schulter zu spucken. Darüber sagte Qadi ‘Ijad: „Dies dient der Vertreibung des Schaitan, der den Traum begleitet. (…) Über die linke Seite, weil es die unreine Seite ist.“