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Die Psychologie der falschen Tat

Ausgabe 365

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Psychologische Einblicke: Warum wir das Falsche tun, obwohl wir es besser wissen müssten.

(iz). Wenn der Mensch auf sein Herz und sein Gewissen hört, weiß er oft, was richtig und was falsch ist. So sagte eins der Prophet Muhammed, Allah segne ihn und schenke ihm Frieden: „Höre auf dein Herz. Das Gute ist das, was dir unbeschreibliche Erleichterung und Glücksgefühle verschafft, wenn du es tust. Das Böse hingegen ist etwas, das etwas in dir zerstört und ruiniert, auch wenn die Leute hierfür eine Fatwa geben (und sagen, es sei das Richtige).“ (Darimi)

Trotzdem entscheidet sich der Mensch manchmal bewusst für das Falsche. Diese Spannung zwischen Erkenntnis und Handlung ist alt. Sie zieht sich durch alle Religionen, Philosophien und psychologischen Modelle. Besonders im Glaubensleben wiegt sie aber schwer.

Hier stellt sich nämlich die Frage, warum ein Gläubiger bewusst sündigt, obwohl er an eine jenseitige Strafe glaubt und das Paradies ersehnt? Warum entscheidet er sich also für etwas, das ihm langfristig schadet?

Um diese Fragen zu verstehen, müssen wir uns mit der Psychologie des Menschen selbst beschäftigen. Mit seinen Widersprüchen, seiner Schwäche, seinen Trieben und seinem Verstand. Und mit der Tatsache, dass der Mensch nicht immer ein rationales Wesen ist.

Die Trägheit der Seele

Said Nursi, ein islamischer Gelehrter des 20. Jahrhunderts, bringt es auf den Punkt. In einem seiner zentralen Werke beschreibt er das menschliche Innenleben so:

„Da die menschliche Triebseele einen winzigen Augenblick des Vergnügens dem vielfachen Lohn eines zukünftigen Vergnügens vorzieht, so fürchtet sie sich auch vor einem unmittelbar drohenden Schlag mehr als vor einem Jahr einer künftigen Strafe. Und wenn zudem den Menschen seine Gefühle überwältigen, hört er nicht mehr auf die Erwägungen seines Verstandes. Seine Begierden und Illusionen beherrschen ihn und so zieht er das kleinste und bedeutungsloseste gegenwärtige Vergnügen selbst noch einer außerordentlich großen Belohnung in der Zukunft vor. Und er flieht vor einer geringen gegenwärtigen Unbequemlichkeit mehr als vor einer fürchterlichen künftig drohenden Qual. Denn Begierden, Illusionen und Emotionen kennen keine Zukunft, vielmehr leugnen sie diese. Und wenn die Triebseele sie auch noch unterstützt, schweigen das Herz als Sitz des Glaubenslebens und auch der Verstand und erklären sich für besiegt.“ (Nursi, k.A., S. 148)

Er beschreibt hier ein psychologisches Phänomen, das heute als „Belohnungsaufschub“ bekannt ist. Es meint die Fähigkeit, eine sofortige kleine Belohnung aufzuschieben, um später eine größere zu bekommen. Genau diese Fähigkeit fehlt oft in Momenten der Schwäche. Das erklärt, warum Menschen sich für das Falsche entscheiden, auch wenn sie wissen, dass es ihnen langfristig schadet.

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Studien belegen die Schwäche der sofortigen Belohnung

Die berühmteste Studie zum Thema ist das „Marshmallow-Experiment“ an der Stanford University aus den 1970er-Jahren. Kinder bekamen die Wahl: einen Marshmallow jetzt oder zwei, wenn sie etwas warten.

Viele konnten nicht warten. Sie aßen sofort. Nur rund 30 % der Kinder schafften es, zu warten (Mischel, Ebbesen, 1970). Spätere Studien zeigten, dass diejenigen, die warten konnten, als Erwachsene erfolgreicher und stabiler waren. (Shoda, Mischel, Peake, 1990)

Auch in der Neuropsychologie ist bekannt, dass das limbische System, zuständig für Emotionen und kurzfristige Reize, sofort aktiviert wird, wenn eine Versuchung auftritt. Der präfrontale Kortex, der für langfristige Planung zuständig ist, braucht länger. In der Zeit, in der das Gehirn noch abwägt, hat der Mensch sich oft schon entschieden.

Daher erscheinen die Bestrafung im Jenseits und die Belohnung im Paradies dem Menschen zu fern. Sie sind wie Zukunftsversprechen, die keine Wirkung mehr entfalten, wenn die Versuchung direkt vor ihm steht. Ein Klick, ein Blick, ein Wort, das reicht, um Vernunft und Glauben zu übertönen.

Es ist leichter zu zerstören, als zu bauen

Eine zweite Komponente bei der Wahl des Falschen ist, dass dies immer leichter ist, als das Gute zu tun. Hierzu schreibt Nursi, „dass der Weg allen Übels und aller Leidenschaften, da er die Zerstörung ist, auch besonders einfach ist. […] (Versuchungen) leiten die Menschen rasch auf diesen Weg.“ (Nursi, k.A., S. 148)

Es ist in der Tat viel einfacher das Falsche zu tun, als das Gute zu tun. Das Böse braucht keine Anstrengung. Es fließt aus dem Menschen, wenn er loslässt. Gutes hingegen verlangt Disziplin, Bewusstsein, Opferbereitschaft. Eine gute Tat braucht Planung, Kraft, Geduld. Eine Sünde passiert beiläufig.

Dazu kommt die zerstörerische Rolle der Gesellschaft, wenn schlechte oder kriminelle Taten verharmlost oder normalisiert werden. Dadurch wird der Mensch ständig in Versuchung geführt. Wenn er nicht wachsam ist, driftet er ab, ohne es zu merken.

Sprache Urteilskraft islam Neuerscheinung

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Die Niederlage des Verstandes

Wichtig ist hier jedoch auch, dass „Sünden nicht aus einem Mangel an Glauben, sondern infolge einer Niederlage von Herz und Verstand, weil die Gefühle, Begierden und Illusionen die Oberhand gewonnen haben“, entstehen. (Nursi, k.A., S. 148)

Der Glaube ist also da, aber er schweigt. Die Gefühle haben gesiegt. Diese Erkenntnis ist wichtig. Sie zeigt, dass Sünde nicht immer ein Ausdruck von Leugnung ist. Oft ist sie Ausdruck von menschlicher Schwäche, von einem kurzen Moment der Überforderung.

Wer das versteht, kann barmherziger mit sich selbst und anderen sein. Aber auch entschlossener in der Bekämpfung der eigenen Neigungen. Denn die Triebseele will nicht warten. Sie will jetzt.

Fazit

Ein Gläubiger sündigt, obwohl er glaubt. Das liegt nicht an fehlender Überzeugung, sondern an der Natur seiner Psyche. Der Mensch zieht das Jetzt dem Später vor. Er fürchtet sich mehr vor dem Schmerz im Moment als vor der Strafe in ferner Zukunft. Er lässt sich überwältigen von Trieben, die keinen Morgen kennen. Daher zieht er das augenblickliche und vergängliche Vergnügen dem ewigen und unendlichen Vergnügen in der Zukunft vor.

Die Religion zeigt diesen Mechanismus. Sie warnt nicht nur vor der Sünde, sondern erklärt auch, warum wir zu ihr neigen. Wer dies versteht, kann bewusster leben. Und vielleicht beim nächsten Mal standhalten.

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