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„Die Stigmatisierung psychischer Störungen ist weiterhin aufzufinden“

Ausgabe 317

Foto: Anita Martins

(iz). Fida Messaoudi hat in Tübingen Psychologie studiert und ist in Ausbildung zur Kinder- und Jugendpsychotherapeutin. Sie ist Mutter zweier Kinder und lebt mit ihrer Familie im Süden Deutschlands. Auf Instagram betreibt sie seit 2020 die Seite „Nafsecke”, auf der sie Beiträge zu psychologischen Themen teilt. Im dazugehörigen Podcast „Aus der Nafsecke” werden einige dieser Themen vertieft.

Mit Fida Messaoudi sprachen wir über das Projekt, ihre Tätigkeiten und ob es spezifische Problemfelder gibt, die ihre muslimischen Klient:innen gezielt betreffen.

Islamische Zeitung: Liebe Fida Messaoudi, Sie sind Psychologin und Mutter. Mit „Nafsecke“ betreiben Sie eine Webseite, bei der es einen Podcast zu psychologischen Fragen rund um Familie und Beziehung gibt sowie eine Anlaufstelle für „psychologische online-Beratung“. Was war der Anlass, eine solche Seite anzubieten?

Fida Messaoudi: Obwohl mentale Gesundheit in den letzten Jahren, besonders in sozialen Netzwerken, immer häufiger zum Thema wird und auch prominente Personen immer offener mit eigenen psychischen Erkrankungen umgehen, scheint im realen Leben gefühlt nicht viel davon anzukommen. Im Alltag lassen sich in allen möglichen Kontexten weiterhin Kommentare über „komische“ Menschen, Vorurteile und Unverständnis gegenüber bestimmten Verhaltensweisen antreffen.

Die Stigmatisierung psychischer Störungen ist weiterhin in der Gesellschaft vorzufinden und hat deutlich negative Auswirkungen auf betroffene Menschen. In meiner Wunschvorstellung einer Gesellschaft werden Menschen nicht mehr „komisch“ genannt, nicht mehr aufgrund einzelner Eigenschaften sozial zurückgewiesen und niemand mehr für seine psychische Störung beschämt. Davon sind wir noch weit entfernt und doch ist das meines Empfindens nach kein Argument fürs Aufgeben – im Gegenteil.

Bei der Gründung der Seite war meine Absicht, diesem Ideal zumindest ein kleines Stückchen näher zu kommen. Dem Algorithmus sei Dank, habe ich im Verlauf der Zeit viele KollegInnen online angetroffen, die dasselbe Ziel verfolgen und sich Entstigmatisierung auf die Fahne geschrieben haben. Den Hauptteil meiner Zeit verbringe ich jedoch in Ausbildung zur Kinder- und Jugendlichenpsychotherapeutin.

Islamische Zeitung: Was können sich InteressentInnen von einer online-Beratung bei Ihnen erhoffen und was nicht?

Fida Messaoudi: Online-Beratungen gibt es in vielen verschiedenen Bereichen. Das, was PsychologInnen und PsychotherapeutInnen online anbieten, fällt in die Rubrik der Psychologischen Online-Beratung. Im Unterschied zu einer Psychotherapie können damit keine psychischen Störungen behandelt werden und auch Heilsversprechen sind tabu. Im Falle von Lebenskrisen, Beziehungsproblemen, familiärer Schwierigkeiten, psychischer Belastung und bei Selbstfindungsthematiken kann eine Online-Beratung durchaus helfen.

Dabei geht es jedoch nicht einfach darum, Ratschläge zu übermitteln, sondern individuell Probleme zu analysieren, auf Ressourcen und Lösungsmöglichkeiten zu schauen, zuzuhören und beim Einordnen von Gefühlen und Wahrnehmungen zu unterstützen. Für viele KlientInnen ist das Vorhandensein von Kultur- und Religionssensibilität besonders wichtig, da ihre Probleme nicht selten damit vernetzt sind.

Islamische Zeitung: Wie funktioniert eine Beratung per Video oder Telefon und was können sich Ihre KlientInnen davon erhoffen?

Fida Messaoudi: Die Psychologische Online-Beratung bietet KlientInnen die Möglichkeit ortsunabhängig, relativ flexibel und von einem ihnen gewohnten Ort ins Gespräch zu treten, ob mit mir oder mit KollegInnen. Einige möchten bewusst auf die Videooption verzichten. Gerade bei sozialer Ängstlichkeit, Unsicherheiten oder bei gewünschter alleiniger Konzentration auf das gesprochene Wort, ist die Option über Telefon besonders beliebt. Auch wenn das Online-Setting über Videotelefonie nicht ein Treffen von Angesicht zu Angesicht vollkommen ersetzt, ist das Sehen über Video eine gute Alternative. Mimik und Gestik können bis zu einem gewissen Grad übertragen werden und helfen beim Einschätzen der Gefühlslage. 

Dabei ist besonders wichtig zu beachten, dass keine Hierarchie im Gespräch vorhanden ist. Die KlientInnen sind Experten ihres Lebens, PsychologInnen sind dabei Außenstehende, die durch Einfühlungsvermögen und Fachwissen unterstützen.

Islamische Zeitung: Parallel dazu unterhalten Sie einen Podcast zum Thema. An wen richtet sich der und haben Sie ein Ziel damit?

Fida Messaoudi: Als Zielgruppe meines Podcasts habe ich zwar anfangs ein bestimmtes Bild einer Zuhörerschaft im Kopf gehabt, aufgrund der Rückmeldungen jedoch bemerkt, dass sich mehr Leute als gedacht dadurch angesprochen fühlen.

Mein Ziel ist zum einen – nicht ganz uneigennützig – Themen, die mich bewegen in Worte zu fassen, aber auch Menschen anzusprechen, die vielleicht Trost oder Hilfestellungen daraus ziehen können. Gerade Themen rund um Schuld und Familie scheinen einige ZuhörerInnen zu bewegen. Mir schweben noch weitaus mehr Themen vor, die ich versuche, nach und nach umzusetzen.

Islamische Zeitung: Zumindest in der Vergangenheit gab es Zurückhaltung in Teilen der muslimischen Community, wenn es um psychische Probleme geht oder um die Suche nach Beratung. Woran könnte das Ihrer Meinung nach liegen?

Fida Messaoudi: Es zeichnet sich eine Besserung bei dieser Art der Zurückhaltung ab, wir sind jedoch gefühlt noch nicht bei einer Akzeptanz der gesamten muslimischen Community angelangt. Es sind mit Sicherheit mehrere Faktoren im Spiel.

Zum einen scheint ein gewisses Unverständnis bezüglich der Psychologie und mentaler Gesundheit zu herrschen. Vorurteile gegenüber der Psychologie und stark vereinfachte Erklärungsmuster für psychische Störungen sind weit verbreitet. Wenn ich mir beispielsweise vorstelle, dass psychische Störungen durch einzelne Faktoren hervorgerufen werden, neige ich auch zu sehr einfachen Lösungsvorstellungen. Gleichzeitig kommt bei Ereignissen, die uns verunsichern oder ängstigen, oft eine Art des „Victim Blamings“ zum Vorschein.

Wenn ich also glaube, psychische Störungen seien ein Resultat von persönlicher Schwäche oder Zeichen eines Mangels an Glauben, wäre die Lösung „gläubiger“ zu werden, was auch immer das heißen mag. Im Gegenzug würde ich von psychischen Störungen betroffene MuslimInnen als glaubensschwach bezeichnen. Das würde mir selbst die Illusion vermitteln, das Auftreten psychischer Störungen sei kontrollierbar. Diese Denkweise beruhigt auf eine gewisse Art, erhöht aber das Stigma enorm.

In solch einem Kontext würde sich ungern jemand als psychisch erkrankt outen. Die damit verbundenen Vorurteile und Pauschalisierungen sind zu unangenehm. Auch die verbreitete Annahme, Krankheiten seien eine Strafe Gottes, kann für einige betroffene MuslimInnen beschämend wirken. Das Unverständnis gegenüber psychischen Störungen führt auch zu einer Unsicherheit, gegen die pauschale Erklärungen wie „der böse Blick” deutlich angenehmer und kontrollierbarer wirken.

Abgesehen davon haben viele MuslimInnen mit Alltagsrassismus zu kämpfen und sind sehr darauf bedacht, bloß keine Vorurteile zu bestätigen. Das Verstecken von psychischen Belastungen gehört da häufig dazu. Gerade familiäre Schwierigkeiten werden häufig nur ungern mit Menschen außerhalb der Community geteilt. Wer möchte schon als Klischeevorlage dienen?

Islamische Zeitung: Gibt es spezifische Problemfelder, die bei MuslimInnen besonders vorhanden sind oder in denen sie sich vom Bevölkerungsdurchschnitt unterscheiden?

Fida Messaoudi: Diese Frage ist leider nicht einfach zu beantworten. Mir ist auch keine Untersuchung bekannt, die deutsche BürgerInnen religionsspezifisch hinsichtlich psychischer Gesundheit untersucht hat. Zu den Auswirkungen von Migration ist jedoch mehr bekannt.

Wenn wir also BürgerInnen mit Migrationshintergrund betrachten, lassen sich beispielsweise häufiger psychische Störungen feststellen als bei BürgerInnen ohne Migrationshintergrund. Die Gruppe der MuslimInnen ist bekannterweise aber nicht deckungsgleich mit der Gruppe der BürgerInnen mit Migrationshintergrund, weshalb keine klaren Angaben gemacht werden können. Hierbei sollte ebenfalls nicht vergessen werden, mit welchen sozialen Faktoren Migration einhergeht, die bei der Entstehung von psychischen Störungen von großer Relevanz sind.

Grundsätzlich unterscheiden sich psychische Störungen zwischen MuslimInnen und Nicht-MuslimInnen nicht. Es gibt jedoch kulturelle Unterschiede in der Art und Weise, wie sich Symptome äußern können. So sind Zwangsgedanken und Zwangshandlungen nicht selten religiös geprägt. Betroffene Muslime könnten beispielsweise die rituelle Gebetswaschung und das Gebet zwanghaft wiederholen. Oder Depressionen könnten sich vermehrt durch körperliche Symptome äußern. Religiosität an sich kann auf der einen Seite resilienter machen, d.h. widerstandsfähiger und auf der anderen Seite als Risikofaktor für psychische Störungen fungieren. Hier spielt sowohl die religiöse Erziehung als auch der Umgang mit Religion innerhalb von Gemeinden eine Rolle.

Es ist Vorsicht beim Interpretieren von Unterschieden geboten. Religiöse Menschen jeglichen Glaubens ähneln sich häufig in der Art der Besonderheiten. Unterschiede lassen sich häufig auch eher mit dem Konzept der individualistischen vs. der kollektivistischen Kulturen besser erklären als durch die Religion. Soziale Faktoren spielen dabei auch eine große Rolle. Wenn wir beispielsweise an geflüchtete MuslimInnen denken, so scheint es logisch, unter ihnen häufiger posttraumatische Belastungsstörungen zu finden, die jedoch nichts mit ihrer Religion zu tun haben. So ist jeder Mensch vielschichtig und facettenreich.

Die Religion, Kultur und der soziale Status sind einige der Faktoren, die von außen auf uns wirken. Was ich persönlich als besonders schwierig ansehe, ist, wie Religion von manchen Menschen instrumentalisiert wird, um innerhalb der Community Druck auszuüben. Das kann für MuslimInnen, die von psychischen Störungen betroffen sind, zu einer weiteren Belastung werden.

Islamische Zeitung: Liebe Fida, was wären praktische Tipps für den Alltag, um das geistig-seelische Wohlbefinden und die eigene Widerstandsfähigkeit zu erhalten bzw. zu stärken?

Fida Messaoudi: Ich glaube, dass kaum jemand dem Trend-Wort „Selfcare“ bzw. „Selbstfürsorge“ entkommen kann. Das klingt neumodisch und entlockt dem ein oder anderen ein Augenrollen. Dennoch ist es von großer Wichtigkeit, eigene Bedürfnisse im Blick zu behalten, Ressourcen zu schonen und frühzeitig Hilfen in Anspruch zu nehmen.

Das Leben ist meist von viel Stress und vielen Verpflichtungen geprägt. Unsere Ansprüche an uns selbst sind häufig ein weiterer Stressfaktor, an dem man gut ansetzen kann. Sich also selbst in regelmäßigen Abständen zu fragen, „Was will ich?“, „Warum will ich das?“, „Kann ich das auch?“ und „Wer kann mich dabei unterstützen?“, kann hilfreich sein. Für sich selbst Mittel und Wege zu finden, einen Ausgleich im Alltag zu schaffen, ist unheimlich wertvoll. Wer mitfühlend mit sich selbst ist, hat gute Chancen, Ansprüche realistisch zu halten, sich selbst Pausen einzugestehen und ehrlich mit sich selbst zu sein, wenn etwas nicht mehr allein gestemmt werden kann. Dazu gehört für den ein oder anderen natürlich auch eine Psychotherapie.

Islamische Zeitung: Liebe Fida Messaoudi, wir bedanken uns für das Gespräch.