Ein Europäer im Orient

Ausgabe 275

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(iz). Ibn Dschubair, mit vollem Namen Abu’l-Hussain Muhammad ibn Ahmad ibn Dschubair Al-Kinani, wurde im Jahre 1144/1145 in Valencia (dem damaligen Balansijja) in Andalusien geboren. Er entstammte einer alteingesessenen Familie, die bereits um das Jahr 740 aus der Gegend um Mekka nach Andalusien eingewandert war.
Ibn Dschubair erhielt eine Ausbildung in den Glaubensgrundlagen, in islamischem Recht und in Literatur. Auch in der Lyrik soll er sehr begabt gewesen sein. Später trat er als Sekretär in die Dienste des Gouverneurs von Granada, zur Zeit der Almohaden (Al-Muwahhidun). Einer Erzählung nach wurde Ibn Dschubair einmal vom Gouverneur dazu gezwungen, sieben Becher Wein zu trinken. ­Später bereute der Gouverneur dies und bot ihm dafür sieben Beutel mit Goldstücken an. Ibn Dschubair, noch immer betrübt von besagtem Vorfall, entschied sich, mit diesen finanziellen Mitteln die Pilgerfahrt nach Mekka (Hadsch) zu vollziehen. Zusammen mit einem befreundeten Arzt trat er im Jahre 1183 die Reise seines Lebens an.
Im Rahmen dieser Pilgerschaft, in deren Zentrum der Besuch Mekkas und Medinas stand, besuchte der Andalusier unter anderem die Städte Alexandria, Kairo, Damaskus, Bagdad sowie auf der Rückreise das damals noch teils muslimisch geprägte Sizilien. Sein schriftlicher Reisebericht „Ar-Rihla“ zählt zu den bedeutendsten der muslimischen Geschichte. Auch wenn er nicht ganz so populär wurde wie jener des aus Tanger (Tandscha) stammenden maghrebinischen Landsmannes Ibn Battuta, der allerdings erst rund zweihundert Jahre später seine Weltreisen durchführte. Diese sollten ihn bis nach Südostasien und China führen.
Ibn Dschubairs Bericht zeichnet sich vor allem durch eine realistische und ­präzise Schilderung des muslimischen Vorderen Orients aus dem Blickwinkel eines gelehrten Andalusiers aus. Er zog auch immer wieder Vergleiche zwischen dem ihm bekannten Westen und den damals im Einflussbereich des Kalifats der ­‘Abbasiden befindlichen Gebieten des Ostens. Insbesondere seine Beschreibungen von Mekka und Medina gehören zum detailliertesten, was uns an historischen Berichten vorliegt. Sie bieten ein anschauliches Bild der heiligen Stätten zur damaligen Zeit.
Eine der ersten Reisestationen war Alexandria (Al-Iskandarija), wo Ibn Dschubair den berühmten Leuchtturm, der ­damals noch existierte, besuchen konnte. Alexandria war damals ein Zentrum der Gelehrsamkeit, insbesondere der malikitischen Rechtsschule, der auch Ibn Dchubair angehörte. Er war beeindruckt von den zahlreichen Madrassen und den ­Unterkünften für die oft von weit her gekommen Gelehrten und Schüler, welche Sultan Salah Ad-Din Al-Ajjubi („Saladin“) hatte errichten lassen. Sultan Salah Ad-Din, der zuvor die Herrschaft der Schi’itischen Fatimiden beendet hatte, richtete für die Zugereisten auch Bäder und Hospitäler ein und stellte Ärzte für sie bereit. Weiterhin ließ der Sultan in Alexandria täglich über zweitausend Laibe Brot an die Zugereisten und Bedürftigen verteilen. Die Mittel dafür kamen aus dem Anteil der Zakat-Einnahmen in einer eigens dafür eingerichteten Stiftung (arab. waqf).
Auch in Kairo lobt der Reisende aus Andaludisen die wohltätigen Leistungen Salah Ad-Dins, wie das große Hospital, das er als einem Palast gleichend beschreibt. In ihm waren Ärzte beschäftigt, welche die bettlägerigen Patienten regelmäßig untersuchten und ihnen die ihrem jeweiligen Zustand angemessenen Speisen und Arzneien verabreichten. Teil dieser weitläufigen Anlage war auch ein eigener Trakt für geistig Kranke, die dort ebenfalls eine Therapie erhielten. Neben den Moscheen mit ­ihren wohltätigen Einrichtungen, die alle von Salah Ad-Din Unterstützung erhielten, gab es beispielsweise auch eine eigene Schule zur kostenlosen Unterweisung speziell für Kinder von Armen und für Waisen.
Salah Ad-Din ließ unter anderem auch Brücken über den Nil errichten. Schon damals gab es einen festinstallierten ­„Nilometer“, mit dem regelmäßig der Wasserstand des großen Flusses gemessen wurde, welcher für die Landwirtschaft ganz Ägyptens von existentieller Bedeutung war. Nicht zuletzt hatte der Sultan auch die öffentliche Sicherheit erhöht. Selbst in der Dunkelheit sei die Sicherheit auf allen Wegen sehr hoch, schreibt Ibn Dschubair. Auch die durchreisenden ­Pilger in Richtung Mekka erhielten eine entsprechende Unterstützung.
Nilaufwärts, Oberägypten durchquerend, reiste Ibn Dschubair per Schiff über das Rote Meer weiter nach Dschidda, das damals noch eher ein Dorf war, und von dort nach Mekka. Obgleich gegenüber dem Landweg eine Erleichterung, war auch der Seeweg über das Rote Meer aufgrund der zahlreichen Riffe in Küstennähe alles andere als ungefährlich. Die arabische Halbinsel wurde damals von zahlreichen Beduinenstämmen unsicher gemacht, worunter auch die Pilgerzüge zu leiden hatten. Des Weiteren beutete das lokale Establishment die Pilger teilweise auch finanziell aus. Allerdings hatte Salah Ad-Din durch entsprechende ­Maßnahmen bereits eine deutliche Verbesserung der Verhältnisse durchsetzen können.
Ibn Dschubair kann seinen Zorn über eine solche Behandlung der Pilger und die Situation auf der Arabischen Halbinsel nicht verhehlen. Dies gipfelt in der folgenden Aussage: „Wir wollen hier eindeutig klarstellen, dass es keinen wahren Islam gibt außer in den maghribinischen Ländern; nur sie folgen dem rechten Weg ohne Abweichungen. Hier im Osten gibt es Sekten und Ketzer aller Art, abgesehen von denen, die Allah vor dem Irrglauben bewahrte.“
Der Europäer traf vor Beginn des Ramadan in Mekka ein. Er verbrachte den Fastenmonat in der Heiligen Stadt und blieb anschließend bis zur Zeit der Pilgerfahrt (arab. hadsch) dort. Seine genauen Beschreibungen der Stadt, der Haram-Moschee mit der Ka’ba sowie des Ablaufs der Hadsch zeichnen ein sehr anschauliches Bild, sodass sich der Leser fast wie ein Augenzeuge fühlt. Die Moschee (arab. al-haram asch-scharif) und die Ka’aba, die damals übrigens anders als heute nicht von einem schwarzen, sondern von einem grünen Tuch bedeckt war, werden von ihm detailgenau beschrieben. Auch das Haus des Propheten, Allahs Segen und Friede auf ihm, und seiner Frau Khadidscha, Friede auf ihr, sein Geburtsort sowie Häuser der Gefährten waren damals noch existent und wurden sorgfältig in Ehren gehalten. Zur Zeit Ibn Dschubairs hatten die vier sunnitischen Rechtsschulen jeweils eigene Imame in der Moschee. Auch die Atmosphäre, etwa bei den Nachtgebeten im Ramadan, wird von ihm eindringlich beschrieben. Etwas kürzer ist seine Darstellung Medinas und der Moschee des Propheten, wahrscheinlich, weil er hier kürzer verweilte als in Mekka, die sich aber dennoch sehr bewegend liest. Freilich verschweigt der aufmerksame Reisende auch hier einzelne bestehende Unzulänglichkeiten in der Praxis der lokalen Autoritäten nicht.
Anschließend zog er durch die Wüste nach Bagdad, das damals die Metropole des ‘abbasidischen Kalifats war. Ibn Dschubair beschreibt die fruchtbaren, intensiv landwirtschaftlich genutzten Ebenen, die sich zwischen Kufa und Bagdad entlang des Euphrat (atab. al-furat) erstreckten, und die man auf sicheren Straßen angenehm durchqueren konnte. In Bagdad, das übrigens zu jener Zeit über etwa zweitausend öffentliche Bäder verfügte, besichtigte er unter anderem die berühmte Nizamija-Madrassa und traf herausragende Gelehrte der Zeit, deren Vorträge er besuchte.
Er beklagt aber auch Arroganz und übertriebenen Hang zum Luxus als negative Eigenschaften der damaligen Bagdader Bevölkerung. Zu dem Zeitpunkt war die Stadt politisches Zentrum der islamischen Welt, unter dem Abbasiden-Khalifen An-Nasir. Allerdings befand sich die Dynastie in der Endphase ihrer Regierungszeit und wies bereits degenerative Tendenzen auf. Der Andalusier kritisiert beispielsweise auch die Verbreitung wucherischer Praktiken im Handel.
Er berichtet über einen Vortrag des damals führenden schafi’itischen Gelehrten von der Nizamija-Universität in Bagdad, Schaikh Radi Ad-Din Al-Qazwini, der er beiwohnte. Auch an dem Unterricht des damals führenden Hanbali-Gelehrten Al-Dschauzi nahm der andalusische Reisende teil. Beeindruckt schildert er die Erläuterungen des Qur’an dieses großen Gelehrten, bekennt jedoch schließlich die Unmöglichkeit, dieses Erlebnis in Worte zu fassen: „Doch bleibt meine Schilderung weit entfernt von der Wirklichkeit.“ Und: „Wären wir über hohes Meer gefahren oder durch die wasserlose Wüste gereist, nur um der Predigt dieses Mannes beizuwohnen, wäre es ein gewinnendes Unterfangen und eine erfolgreiche, glückliche Reise gewesen. Dank sei Allah, dass wir ihn treffen konnten!“
Über Mossul und Aleppo ging es weiter nach Damaskus. In den Gebieten des nordöstlichen Syriens, nahe der Kurdengebiete und im sogenannten „fruchtbaren Halbmond“, fühlt Ibn Dschubair sich in der gartenähnlichen Landschaft des Öfteren an seine Heimat Andalusien erinnert. In der Region Harran begegnet er einigen zurückgezogen lebenden Schaikhs und Sufis, ehe er seine Reise über Aleppo und Homs nach Damaskus fortsetzt. Seine im Vergleich zu Bagdad noch ausführlichere Beschreibung der Stadt Damaskus gehört zu den häufig zitierten historischen Quellen über die Stadt. Dort schildert er ausführlich die Umaijjaden-Moschee sowie die berühmten Orte der Stadt, darunter zahlreiche Gräber berühmter Muslime.
Auch nach Damaskus kamen viele junge Studierende der Wissenschaften aus allen Gegenden der muslimischen Welt, auch aus dem Maghreb, die sich um ihren Lebensunterhalt nicht kümmern mussten. Unterkunft und Verpflegung wurden von Stiftungen übernommen. Einige Gewohnheiten der Bevölkerung wie die Begrüßungsrituale erscheinen dem Andalusier befremdlich und ungewohnt. Das Gebiet des heutigen Syrien war damals noch stellenweise von den Kreuzfahrern besetzt. Über die ebenfalls von ihnen besetzte Hafenstadt Akka machte sich der Andalusier schließlich per Schiff wieder auf den Rückweg.
Auf dem Rückweg seiner Reise ging Ibn Dschubair auch nach Palermo und Sizilien, das damals noch erkennbar muslimisch geprägt war. Da aufgrund der Witterungsverhältnisse das Schiff einen Umweg genommen hatte, war dieser Zwischenhalt dringend notwendig. Ibn Dschubair berichtet unter anderem, dass die christlichen Frauen sich in Kleidung und Verhalten die muslimischen Frauen zum Vorbild nahmen, und dass der damalige König Wilhelm die Muslime teilweise relativ gut behandelte. Doch werden auch zahlreiche widersprüchliche Beispiele von Unterdrückung und Zwang gegenüber den Muslimen angeführt. Ein Vater möchte seine Tochter einem andalusischen Mitreisenden Ibn Dschubairs zur Frau geben, auch wenn sie dann von der Familie getrennt wäre. Wenn sie doch nur in ein muslimisches Land käme, um ihren Glauben besser bewahren zu können. Dies war auch der Wunsch des Mädchens: „Wenn Du mich zurückhältst, wird die Verantwortung (vor Allah) bei Dir liegen,“ sagte sie zu ihrem Vater.
Von Sizilien aus beobachtet Ibn Dschubair einen Ausbruch des entfernt liegenden Inselvulkans Stromboli; etwas, das er noch nie gesehen hatte. Nach mehr als zwei Jahren kehrte der bekannte europäische Reisende im Frühjahr 1185 nach Granada zurück. Er trat nach dieser noch zwei weitere Reisen an, über die er jedoch keinen Bericht schrieb. Die zweite dieser Reisen führte ihn nach Alexandria, wo er als Lehrer arbeitete. Dort starb er im Jahre 1217.
Der Reisebericht Ibn Dschubairs (engl. meist Ibn Jubayr geschrieben) ist unter anderem in englischer und in leicht gekürzter und bearbeiteter deutscher Übersetzung erschienen: Ibn Dschubair, Verlagshaus Römerweg, gebunden, 287 Seiten, ISBN 978-3865030122, Preis: EUR 24,99