
Das Freitagsgebet ist ein wichtiges Element der Woche. Seine Bedeutungen gehen über das Ritual hinaus.
(iz). Werden – Vergehen – Transformation: Diesen Dreiklang können Muslime von Freitag zu Freitag erleben. Der Freitag ist für Muslime nicht das, was der Sonntag für die Christen ist. Er ist nicht der Tag des Herrn, sondern der des Menschen.
Dem Prophetengefährten Abu Huraira zufolge, hat der Prophet symbolisch diesen Tag mit der Urgeschichte Adams verknüpft, wonach der Mensch an einem Freitag erschaffen wurde und der Jüngste Tag sich an einem Freitag vollziehen wird (At-Tirmiḏi Nr. 488). Der Anfang, das Ende und die Verwandlung des Menschen werden somit symbolisch mit diesem Wochentag verbunden.
Das Freitagsgebet und die Schaffung des Menschen
Das Freitagsgebet, das an diesem Tag stattfindet, beginnt mit dem Gebetsruf. Von seinem Aufbau her fängt dieser mit dem Anruf des göttlichen Selbst durch das menschliche Selbst an: „Allahu akbar“.
Hier wird der Gedanke betont, dass durch die Bezeugung des göttlichen Du der Mensch zu seinem eigenen Ich findet. Der Gebetsruf beginnt mit dem Aufstieg des Menschen vom Unbewussten zum Bewussten, was dann konsequenterweise in der Anerkennung des eigenen Selbst mündet: Ich bezeuge…
Das Bezeugen des Glaubens an Gott und Seinen Propheten etabliert sogleich die Dominanzhierarchie innerhalb des Islam, die sogleich die Gleichwertigkeit aller Muslime unterstreicht. Muhammads (s) Lebensweise ist der Weg, der den Muslimen vermittelt, was es nach islamischer Definition bedeutet, Mensch zu sein.
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Ein lebendiger Herr, Der zuhört
„Hayya ʿala’s–Salah“ erklärt den einen und einzigen Gott zu einem Gott, der zuhört, was Ihn von den leblosen Idolen und den Tyrannen dieser Welt unterscheidet. In dieser hier formulierten religiösen Haltung liegt der Erfolg des Menschen: „Hayya ʿala’l-Falah“.
Die nochmalige Anerkennung Gottes mit dem Abschluss „la ilaha illa’Llah“ fordert den Menschen auf, sich von allen materiellen und ideologischen Abhängigkeiten zu lösen, da sie die Entwicklung des menschlichen Selbst beeinträchtigen und sich gänzlich von Ihm abhängig zu machen.
Jeder Gebetsruf erinnert den Gläubigen an seine Entscheidungsfreiheit. Wenn er will, kann er nun aufstehen und die Moschee verlassen, also Nein zu Gott sagen. Oder der Gläubige wird zur Braut, die nochmals Ja zu Sinnhaftigkeit, Werthaftigkeit, Wirklichkeit und damit zu Gott sagt.
Beim Betreten verlassen wir unsere Blasen
Die Teilnahme am gemeinschaftlich verrichteten Freitagsgebet ist für den Muslim verpflichtend, für die Muslimin freiwillig. Letzteres spiegelt die Lebensrealität der Menschen aus der prophetischen Zeit wider, aber auch vieler Menschen heute, wo Frauen, die in der klassischen Rolle als Haushaltsvorsteherin und Mutter eingebunden sind, entlastet werden sollen.
Durch das Betreten der Moschee verlässt ein jeder Muslim seine sozio-ökonomische, kulturelle und Lifestyle-Blase, indem er Unterschiedlichkeit und Verschiedenheit begegnet: Es gibt eben mehr als nur die eigene Welt, in der man sich bewegt. Zugleich spielen der ökonomische Status und Titel wie Professor oder Doktor an diesem Ort keine Rolle mehr.
In der Moschee sind wir trotz äußerlicher Mannigfaltigkeit auf unser eigentliches Sein zurückgeworfen: Kinder Adams. Hier erinnern wir uns wieder daran, dass wir Menschen, Brüder und Schwestern sind, die miteinander in Beziehung stehen. Wenn nach der Predigt der zweite Gebetsruf ertönt, sieht man den Banker im feinen Zwirn neben dem Mann vom Bau Schulter an Schulter, Fuß an Fuß stehen.
Das Gebet beginnt mit den Worten: „Allahu akbar“. Mit seiner Anwesenheit hat sich der Gläubige erneut für Gott entschieden. Das Wissen um seine Entscheidungsfreiheit darf aber niemals zur Hybris entarten. Allahs Größe zu bekennen, erinnert den Gläubigen daran, dass er Sein Geschöpf ist, das sich innerhalb des von Ihm vorgegebenen Rahmens bewegt.
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Transzendenz in Gemeinschaft finden
Im Gemeinschaftsgebet spürt der Gläubige die Präsenz seiner Mitmenschen und ihm wird klar, dass er keine Insel ist, dass das Leben sich nicht bloß um ihn dreht, dass er mitnichten das Zentrum dieser Welt ist, sondern in Symbiose mit den anderen Kindern Adams lebt.
Es gilt also, das selbstsüchtige Ich aufzugeben. Dies geschieht durch eine praktische Handlung, die laut „Konvertiten“ zu den schwierigsten Teilen des Gebets gehört: der Verbeugung (arab ruku’). Wohlgemerkt, weil Demut für viele Menschen eine Zumutung ist, gibt es diesen Zwischenschritt, der letztendlich zur Gebetshaltung der Niederwerfung führen soll.
In der Verbeugung bekennt der Gläubige als Diener Gottes seine Stellung in der Schöpfung und verwahrt sich gegen Anhaftung und Hybris.
In der Niederwerfung (arab. sudschud) hat sich der Mensch nun endgültig von jeglichem Stolz und Hochmut abgeschnitten und zugleich eine embryonale Stellung eingenommen, damit Sein Herr ihn gleich einer Mutter mit seiner ganzen Fürsorge umschließt.
Das achtsam verrichtete Gebet, in dem der Gläubige im Moment präsent ist, kann zu einem Ort der Begegnung zwischen dem Liebenden und dem Geliebten werden, ein Tangieren des menschlichen Selbst mit dem göttlichen Selbst, dem Vergänglichen und dem Ewigen.
Im Gemeinschaftsgebet kommt eine weitere Komponente hinzu: Die Versammlung unterschiedlichster Menschen wird zu einem Körper, der Gleichheit und Gleichwertigkeit des Menschengeschlechts vor Gott repräsentiert.
Dieser Körper ist aber kein gleichgeschaltetes Kollektiv, sondern bleibt eine Versammlung von Individuen, die im Glauben an Gott und den Propheten Muhammad (s) verbunden sind.
Sie sind Tropfen, die in das Meer fallen, die aber zugleich Tropfen bleiben. Anschaulich zu beobachten anhand kleiner Variationen in der Verrichtung des Gebets unter den Gläubigen bedingt durch das Befolgen verschiedener Rechtsschulen.
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Das Gebet endet mit dem Friedensgruß
Das Gebet endet mit dem Aussprechen des Friedensgruß, der zugleich ein Gruß an die Welt und die Mitmenschen ist. Es ist diese Botschaft, die wir aus dem Gebet, aus der Begegnung mit Gott, mitbringen.
Es ist die Visitenkarte eines jeden Muslims, der ein Friedensmacher ist. Es ist diese Transformation, die jedem Muslim freitags widerfährt. Friedenmachen ist das Ziel, das er bis zum nächsten Freitag anstrebt.
Eines, das wir im Laufe der Sieben-Tage-Woche im Trubel des Alltags so oft aus den Augen verlieren. Als Muslime erkennen wir, dass wir in Symbiose mit anderen leben. Nicht das individuelle Wohlergehen – meist auf Kosten unserer Mitmenschen – ist unser Ziel, sondern das Streben nach dem kollektiven Wohlergehen, indem wir unser selbstloses Ich und damit Glückseligkeit finden.
Islam war nie eine revolutionäre Religion, sondern Gott ermutigt die Menschen die bestehenden Verhältnisse, in denen sie sich wiederfinden, konstruktiv weiterzuentwickeln, indem Ungerechtigkeiten abgebaut werden.
Statt großen Weltentwürfen und der Hybris anheimzufallen, die komplizierte Maschinerie der Zivilisation einfach mal so umzubauen, gilt es durch regelmäßige Veränderungen im Kleinen eine nachhaltig menschenfreundlichere Welt zu schaffen. Hierzu sind wir Muslime als Friedensmacher jeden Freitag aufgerufen, wenn wir als Gemeinschaft zum Ende des Gebets den Salaam entrichten.
Muhammad Sameer Murtaza ist Islam- und Politikwissenschaftler, islamischer Philosoph und Buchautor. Kürzlich erschien sein Buch „Die Friedensmacher: Ethos und Ethik im Islam“.