Interview: Dr. Jürgen Micksch zweifelt am Begriff des „Islamismus“

Ausgabe 217

Der Verfassungsschutz spricht von einer wachsenden Mitgliederzahl bei islamistischen Organisationen. ­Damit werden Ängste vieler Deutscher bestärkt, von denen sich 51 Prozent vom Islam bedroht fühlen (Bertelsmann-Religionsmonitor). „Der Verfassungsschutz bedient und festigt damit die antimuslimische Stimmung in Gesellschaft und Medien“, so Dr. Jürgen Micksch, der Moderator des Deutschen Islamforums, in einer Pressemitteilung.

Mit ihm sprachen wir über den Verfassungsschutzbericht und die fraglichen Statistiken über „Islamisten“ in Deutschland.

Im neuen Bericht des Verfassungsschutzes heißt es, dass die Zahl der „Islamisten“ gestiegen sei. Im Bericht wird auf die wachsen­de Zahl der Salafisten hingewiesen, aber auch auf die steigende Mitgliederzahl der Islamischen Gemeinschaft Milli Görüs (IGMG). Was für gesell­schaftliche Auswirkungen haben solche Meldungen?

Dr. Jürgen Jürgen Micksch: Nach empirischen Untersuchungen fühlen sich 51 Prozent der Deutschen vom Islam bedroht. Diese Ängste werden durch solche Berichte gefestigt und bestärkt. Damit wird das insgesamt gute Miteinander mit Muslimen belastet. Darüber hinaus werden die dort genannten Gruppen generell stigmatisiert.

Sie stehen als Moderator des Deutschen Islamforums kritisch zur Beobachtung der IGMG durch den Verfassungsschutz (VS). Für den Verfassungsschutz bedroht diese Organisation die freiheitlich-demokratische Grundordnung. Wieso kommen Sie zu einem anderen Ergebnis?

Jürgen Micksch: Seit Februar 2012 haben wir beim Deutschen Islamforum eine Arbeitsgruppe mit Wissenschaftlern und Experten eingerichtet, in der wir uns mit kommunalen Erfahrungen mit der Islamischen Gemeinschaft Milli Görüs (IGMG) befassen. Wir erhielten keine Berichte darüber, dass durch die IGMG unsere Demokratie bedroht wird. Allerdings bekamen wir ­zahlreiche Informationen über Diskriminierungen von Mitgliedern der IGMG. Unsere Untersuchungen ergeben, dass ­kei­ne Gründe vorliegen, die es rechtfertigen, die IGMG weiterhin in Verfassungsschutzberichten zu nennen. ­Darin wurden wir durch den Leiter des Hamburger Landesamtes für Verfassungsschutz bestätigt, der sich dafür ausgesprochen haben soll, die IGMG aus der Beobachtung des Verfassungsschutzes herauszunehmen.

Was sind die Gründe, dass die IGMG immer noch unter Beobachtung steht? Ein Verfassungsschutzmitarbeiter sagte einmal in einem inoffiziellen Gespräch, dass man sie nicht einfach so aus der Statistik rausnehmen könne, denn dann hätte man nicht mehr genug „Islamisten“, um die Stellen im Verfassungsschutz aufrecht zu erhalten, die sich mit dem „Islamismus“ beschäftigen…

Jürgen Micksch: Die Gründe für eine Beobachtung der IGMG erschließen sich nicht aus dem aktuellen Bericht des Bundesamtes für Verfassungs­schutz, der keine konkreten Anhaltspunkte enthält. Tatsächlich machen Experten aus unterschiedlichen Einrichtungen immer wieder darauf aufmerksam, dass der Verfassungsschutz diese 31.000 Mitglieder der IGMG für die Öffentlichkeitsarbeit benötigt, um seinen Personalbestand zu rechtfertigen. In der Praxis wird die IGMG von den Verfassungsschutzämtern nicht mehr intensiv beobachtet.

Was halten Sie von der neuen Begriffskreation „legalistischer Islamismus”, den der Verfassungsschutz nun präsentiert? Damit ist laut Bundesverfassungsschutzbericht ein Islamverständnis gemeint, das die religiöse und kulturelle Identität der Muslime stärkt sowie sich für ein religionskonformes Leben bemüht und ­dadurch angeblich Desintegration fördere.

Jürgen Micksch: Ein so genannter „legalistischer Islamismus“ hat in einem Verfassungsschutzbericht nichts zu suchen, es sei denn, man kann nachweisen, dass ein nicht gesetzkonformes Verhalten vorliegt und die legalistischen Einstellungen nur vorgetäuscht werden. Das müsste dann konkret belegt werden. Aber auch das wird im Verfassungs­schutzbericht nicht dokumentiert.

Es ist interessant zu sehen, wie Journalisten dem Verfassungsschutz bewusst oder unbewusst „zuarbeiten“ oder unter die Arme greifen, in dem sie entweder unkommentiert Passagen aus den Verfassungsschutzberichten übernehmen, ohne diese kritisch zu hinterfragen, oder aber Wissenschaftler, die als „Islamismusexperten“ unterwegs sind, und wie der Verfassungsschutz sich undifferenziert an dieser Thematik abarbeitet. Wie kann die undifferenzierte und nicht klar definierte Verwendung ­dieses Islamismusbegriffes korrigiert werden?

Jürgen Micksch: Grundsätzlich sollte der Begriff „Islamismus“ vermieden werden. Denn damit wird ein Zusammenhang von Islam und Gewalt nahegelegt. Doch der Islam will eine ­Religion des Friedens sein. Daran muss das Verhalten von Muslimen gemessen werden. Doch für nur wenige Journalisten ist das der Maßstab. Deshalb vertrauen die meisten von ihnen auf den Verfassungs­schutz, wie übrigens auch die ­Politiker, die ihre Aufsichtsfunktion gegenüber dem Verfassungsschutz nur unzureichend wahrnehmen. Denn sonst hätten sie schon längst darauf gedrungen, dass zum Beispiel die Muslimische Jugend in Deutschland e.V. (MJD) aus Verfassungsschutzberichten gestrichen wird, wie das einige Bundesländer bewusst tun. Auch der MJD wird im neuen Bericht des Bundesverfassungsschutzes nichts Konkretes vorgeworfen. Doch durch die Erwähnung in Verfassungsschutzberichten werden sie als Bedrohung dargestellt. Damit wird dann ihre gesellschaftliche Diskriminierung gerechtfertigt. Das ist antimuslimischer Rassismus.

Neulich hat mir ein IGMG-Vertreter erzählt, dass er von einer kirchlichen Einrichtung zu einem Vortrag eingeladen wurde. Diese Tagung wurde unter anderem vom Bundesinnen­ministerium gefördert. Als das BMI davon erfahren hat, hat sie dieser kirchlichen Einrichtung damit gedroht, die Fördergelder zurückzuziehen, wenn der IGMG-Vertreter nicht ausgeladen werde. Wie bewerten Sie diese Form der Beeinflussung und Druck auf gesellschaftliche Akteure seitens der Politik?

Jürgen Micksch: Die Bundesregierung fördert grundsätzlich keine vom Verfassungsschutz beobachteten Einrich­tungen und ihre Vertretungen. Das ist als generelle Regelung verständlich. Wenn aber in Verfassungsschutzberich­ten Einrichtungen und Personen aufge­führt werden, die keine Bedrohung für die freiheitlich demokratische Grundordnung darstellen, dann wird eine solche Regel zum Problem.

Das Interview führte der Publizist Eren Güvercin. Es erschien erstmals auf ­seinem Blog (erenguevercin.wordpress.com) am 17. Juni. Die Veröffentlichung geschieht mit Erlaubnis des Autors.