
Anmerkungen zur Kieler Islamwoche: Ahmet Aydin beschreibt seine Eindrücke eines Events und findet einen „Moment am Meer“.
„Die Wellen singen mir ihr Lied
Mit dem Wind zur Melodie
Und die Möwen stimmen ein
Zu meiner Symphonie
Das ist mein Moment am Meer
Den ich tief in mir genieß‘
Den ich in mir seh‘ und fühl‘
Wenn ich die Augen schließ’“
(iz). Ich liege mit geschlossenen Augen auf dem Bett. Eine kühle Brise dringt durchs Fenster ein. Das Hotelzimmer ist stadtnah. Bevor es zum Vortrag geht, möchte ich noch eines dieser „besten Fischbrötchen der Welt“ essen.
Der Freund, der mich vom Bahnhof in Kiel abgeholt hat, hat mir die Stadt gezeigt und es endete damit, dass ich unbedingt „das beste Fischbrötchen der Welt“ essen müsse. Er hat mir nicht zu viel versprochen. Das Fischbrötchen ist einen Trip nach Kiel wert.
Ein Wunsch von mir war es, mit der Fähre zu fahren. Auch das taten wir. An einer Anlegestelle war ein Café und den Augenblick ließ ich mir nicht nehmen: Ein Kaffee an der Küste: „Das ist mein Moment am Meer!“
Verse, die lebendig werden! Und nachdem wir mit der Fähre wieder zurückfuhren, habe ich mich zum Ausruhen vor dem Vortrag ins Hotel zurückgezogen. Und nun liege ich hier und höre „Küstenkind“:
„Wohin das Leben mich auch führt
Wo immer ich auch bin
Ich trag‘ den Norden tief in mir
Ich bin ein Küstenkind!“
Ein Küstenkind war ich nicht, denn ich bin in Wolfenbüttel, der Lessingstadt, geboren, aber: Den Norden trage ich tief in mir. Ich liebe es, wenn mich jemand mit Moin grüßt. Das gibt es in Köln, wo ich jetzt lebe, leider nicht. Scherzhaft sage ich immer, wenn ich den Gruß höre: „Endlich ein Mensch, der Zivilisation erfahren hat.“ Manche gucken dann irritiert, andere lachen. Ich habe meine Freude!
Foto: Autor
Wie soll der Vortrag betitelt werden?
Kultur – das wird auch das Thema meines Vortrages an der Uni sein. Islam und Kultur. Über den Titel kam es im Voraus zu einer Meinungsverschiedenheit. Auf dem Flyer stand „Islam vs. Kultur“. Ich bitte meinen Ansprechpartner der Hochschulgruppe, das zu ändern – doch der Titel stehe schon und der Flyer sei bereits geteilt. Ich sage, dass ich nicht für so einen Titel stehe. Mir wird gesagt, wenn Islam und Kultur sich nicht widersprechen, dann sei es ja meine Aufgabe, das im Vortrag deutlich zu machen.
Und tatsächlich werde ich kurz darauf bereits angesprochen auf den Titel: „Ahmet, der Titel war aber nicht deine Wahl, oder?“ Die Menschen wissen, was ich seit Jahren auf Social Media und auf meinem Blog, den ich gerade erneuere, teile und worüber ich referiere.
Ich frage den Freund, der mir das leckerste Fischbrötchen der Welt zeigte, ob die diesjährigen Organisatoren denn wissen, dass ich inhaltlich andere Dinge vortragen werde, als die Redner an den Tagen davor. Er bejaht und sagt, dass er froh ist, dass ich die Abwechslung bringe.
Die Vorträge wirken auf mich wie Predigten in der Moschee – aber wir sind an einer Uni. Das ist ein typischer Trugschluss. Manche Muslime denken islamisch ist etwas nur dann, wenn über Qur’an und Hadithe gesprochen wird. Es müsse sich um Gottesdienste, Fasten und Charakterideale drehen.
Zum richtigen Verständnis meiner Worte: In der Moschee können und sollten wir gerne ausführlich über Gottesdienste sprechen. Problematisch wird es dann, wenn Muslime einzig das für „traditionell-islamisch“ halten und die Universität für eine Moschee halten.
Die Universität ist keine Moschee. Sie ist keine Synagoge. Sie ist keine Kirche. Das gilt nicht nur für Muslime, sondern für alle. Hier gelten andere Normen. Das ist das eine.
Etwas anderes ist ebenfalls wichtig: Als ich während meines Vortrags Fragen gestellt bekomme, antwortete ich auch: „Die Frage möchte ich nicht beantworten. Ich bin hier als Akademiker. Wenn ihr einen theologischen, innerislamischen Vortrag hören möchtet, dann könnt ihr mich für ein anderes Format anfragen.“
Nur weil ich antworten könnte, heißt es nicht, dass ich antworten muss. Ich muss wissen „wer“ ich bin und „wo“ ich bin. So sagte ich es auch im Vortrag. Das ist es, was Adab ist: die Wissenschaft von schöner Lebensart, das gute Betragen.
Ich war vor kurzem als muslimischer Repräsentant bei der Abschlussfeier einer Grundschule und habe aus dem Qur’an vorgetragen und etwas über einige Verse erzählt. Meine dortige Rolle war klar definiert. Ich sollte dort in der Rolle eines Imams auftreten und wurde deshalb gebeten in Gewand und mit Kopfbedeckung zu erscheinen. Kleidung, die ich privat nicht trage. Aber ich war in einer Schule mit der Bitte, Muslime zu repräsentieren. Also wählte ich das, was in einer Moschee üblich ist. Ort und Anlass erlaubten es.
Ich bin privat eher für meine Weste bekannt, die ich unter dem Gewand auch voller Stolz trug. Dieselbe Weste trug ich auch in Kiel. Und ich leitete meinen Vortrag in Kiel mit einem Bild ein. Auf dem Bild war das Mausoleum Rumis in Konya zu sehen. Damit setzte ich ohne Worte das erste Zeichen dafür, was im Vortrag folgen wird. Damit ließ ich andeuten, welche Gelehrtentradition ich wertschätze.
War ein Referent Salafist?
Der Referent Sertac Odabas bemängelte, als Salafist bezeichnet zu werden und dass keine inhaltliche Auseinandersetzung mit seinem Vortrag stattgefunden habe. Nun, so funktionieren Medien auch nicht. Es kommt nicht nur darauf an, was ein Referent während eines Vortrags sagt, sondern wofür er steht.
Und wer häufiger Ibn Taymiyya zitiert, lässt sich erstmal nichts zu Schulden kommen. Aber Tatsache ist, dass vor allem die Muslime, die Ibn Taymiyya zitieren, einen Rumi und Ibn ‘Arabi als „Kafir“, also Leugner der göttlichen Einheit, bezeichnen. Wer also häufiger Ibn Taymiyya zitiert und keine anderen muslimischen Gelehrten wie Rumi, setzt sich selbst diesem Verdacht aus.
Wer so vorgeht, darf nicht überrascht sein, wenn er in Verbindung mit dieser Ideologie gebracht wird. Die deutsche Öffentlichkeit kann eventuell nicht nachvollziehen, was ich hier von mir gebe. Deshalb möchte ich es verständlicher machen.
Salafisten in Deutschland
Vor kurzem wurde eine Moschee in Braunschweig geschlossen. Diese Entscheidung war absolut richtig. Ich komme aus der Region und habe erlebt, wie junge Muslime, die sie besuchten, sich dahingehend radikalisiert haben, dass sie plötzlich Menschen nur nach ihrem Glauben beurteilt haben:
„Ich Muslim gegen die Welt.“ Das ist das Weltbild von Salafisten. Radikale Abendlandsverteidiger denken ähnlich: „Wir wissen, was Freiheit ist und kämpfen gegen den Rest der Welt.“ Das ist das Anzeichen von Ideologen, von Extremisten.
Einige Muslime aus der inzwischen geschlossenen Einrichtung haben nach gemeinsamen Gesprächen erkannt, wie unsinnig das Islamverständnis war, dem sie folgten. Was ist das erste Anzeichen eines Salafisten? Die jungen Muslime, die dort in die Moschee gingen, bezeichneten auf einmal Rumi als Kafir, das heißt als Leugner; oder „Ungläubiger“, wie es fälschlicherweise aus der christlichen Kirchenterminologie übernommen wurde.
Rumi und Ibn ‘Arabi und teilweise auch Abu Hanifa, die seien abgeirrt. Das wird bei Salafisten zu einer wichtigen Angelegenheit in der Religion. Von Berlin über Braunschweig bis Wuppertal – überall ist dies ein Anzeichen von Salafisten. Und ja, das ist gefährlich!
Die Aufgabe der Menschen in dieser Moschee schien zu sein, gegen bestimmte muslimische Gelehrte zu hetzen und allen klar zu machen, dass sie nicht zum traditionellen Islam gehören.
Ich weiß nicht, ob Sertac Odabas Rumi oder Ibn ‘Arabi zu Leugnern erklärt. Sollte er es tun, dann würde eines der klarsten Anzeichen von Salafisten bei ihm zu finden sein. Ich weiß es aber wirklich nicht, ob er es tut. Ich weiß aber das: Menschen, die es tun, für die sind alle „Sufis“, wie sie es nennen, „Erneuerer“ und nicht Teil des traditionellen Islams.
Sich selbst zu einem Repräsentanten des traditionellen Islams zu erklären, ist sehr, sehr gewagt. So tat es Sertac Odabas in seiner Erklärung. Das ist falsch. Damit erweckt er den Anschein, dass seine verbreiteten Ansichten die Norm seien.
Aber: Zum traditionellen Islam gehört Al-Gazali, der intensiv Philosophie studierte und auch von Schäden und Nutzen der Philosophie spricht. Zum traditionellen Islam gehört Mewlana Jalaluddin Rumi, der große Sufimeister aus Konya/Balchi. Dazu gehören auch Ibn ‘Arabi und Konevi, Imam Nawawi und und und… Wer sagt das? Das sagen zum Beispiel prestigeträchtige Dozenten in der Türkei.
Die echte Herausforderung der Muslime
Im persönlichen Gespräch sagten mir einige Professoren für klassischen Islam, dass es absolut nötig ist, den Islam in Deutschland zu beheimaten. Das sei aber nicht möglich, wenn man bloß aus türkischen oder arabischen Ländern kopiert. Verwiesen wurde ich auf Ustadh Abdalhakim Murad, den mir einer bewundernd als klassischen britischen Muslim bezeichnete.
Was wir benötigen, sind klassische deutsche Muslime. Doch so wie sich Deutsche ständig darüber streiten, was Deutsch ist, fragen sich Muslime in Deutschland das eben auch. Wie typische Deutsche wissen wir, wir Muslime in Deutschland, es doch selbst nicht.
Philisterhaft zu behaupten, man habe die Weisheit mit Löffeln gefressen und etwas Unbedachtes als deutschen Islam zu präsentieren, ist nicht nachhaltig. Wir sind im Prozess es herauszufinden.
Selman Dilek ist eine Person, die aus der Türkei nach Deutschland kam. Er promovierte zu Meister Eckhart. Und nach kurzer Zeit in Deutschland äußerte er folgende Beobachtung: „Eine Erneuerung, die sich auf die eigentlichen Ziele der Religion stützt, ist für Muslime in Europa notwendig geworden. Denn der Islam ist in Europa ein neues Phänomen. Sein Fortbestehen hängt davon ab, dass eine religiöse Kultur aufgebaut wird.“
Neu meint, dass die große Zahl der Muslime eben relativ neu hier ist. Nun seit fast 60 Jahren. Das ist für den Aufbau einer eigenen Kultur wirklich nicht viel. In diesem Lichte schrieb ich meine Gedichtsammlung „Der deutsche Diwan“. Er leistet einen Beitrag dazu, Heimat in Deutschland zu stiften.
Das alleine stellt schon eine beachtliche Leistung dar. Meine Großeltern konnten nicht flüssig Deutsch, ihr Enkel schreibt Gedichte und erfindet Versmaße auf Deutsch – was für eine Erfolgsgeschichte!
Islam ist keine Kultur. Er ist keine Ideologie. Der Islam ist die Erkenntnis, dass nichts anbetungswürdig ist, außer Gott. Den Islam auf Bräuche und Sitten zu reduzieren, wie es Salafisten oder Antimuslime tun (hierin sind sie sich so dermaßen ähnlich), leugnet, dass der Islam universal ist.
Herders Weisheit ist ein verlorenes Gut
Warum liebe ich den Norden so sehr? Weil ich ihn mit Herder verbinde. Er segelte über die Ostsee. Auch wenn er nie in Kiel war, muss ich an ihn denken, wenn ich eine deutsche Küste sehe. Was ist seine Weisheit: Eine Pflanze, die an einem Ort der Welt blühen kann, kann an einem anderen Ort der Welt nicht auf die selbe Weise blühen. Aber die Natur hält für jede Geographie der Welt Pflanzen bereit und wo nicht, dort ist kein Leben auf Dauer möglich.
Der Islam ist eine Pflanze. Die Frage ist, in welcher Gestalt kann er in Deutschland blühen? Das Fortbestehen von Muslimen hängt nun davon ab, ob sie – wie die Muslime, die in Al-Andalus aufgeblüht sind – zur Kultivierung Deutschlands beitragen werden oder nicht. Kultivieren bedeutet, eine Kultur aufbauen. Das geht nicht mit veralteten Diskussionen darüber, welche Religion vernünftiger sei und welche nicht.
Lessing hat doch bereits gesprochen, welche Religion die natürlichere sei. Goethe hat bereits gesprochen, dass er nicht daran glaube, dass ein Mensch Gott sei. Die Frage, die wir uns stellen müssen: „Was bewirkt mein Glaube in mir? Zu welchen Aktivitäten und Handlungen inspiriert mich das, woran ich glaube?“
Das sind die Fragen, die unsere Gesellschaft bereichern. Und das ist eben für alle interessant. Zu meinen, man sei im Besitz der Wahrheit, das macht träge und hochmütig. Was nützt das, wenn man ein unsympathisches Arschloch ist? Allah te’ala liebt umgängliche Menschen.
Die Frage der Geschlechtertrennung
Ein Vorlesungssaal ist weder eine Synagoge noch eine Moschee (beides Gotteshäuser, in denen Geschlechtertrennung üblich ist, Anm.d.Red.). Es wäre falsch, hier Männer und Frauen anzuweisen, dass sie sich getrennt hinsetzen sollen. Die Studentinnen und Studenten müssen die Freiheit haben, sich hinzusetzen, wohin sie möchten.
Weder muss ich auf einem Platz sitzen bleiben, wenn ich warum auch immer nicht neben bestimmten Menschen sitzen möchte. Noch muss irgendwer anderes sitzen bleiben, wenn er oder sie nicht neben mir sitzen möchte.
Was ich in Kiel beobachtet habe, ist, dass Frauen hinten saßen und Männer vorne. Eine ältere, nichtmuslimische deutsche Dame sagte mir im Anschluss des Vortrags, sie habe sich bewusst neben Männer gesetzt, weil sie mit der Sitzordnung so nicht einverstanden sei – und voilà niemand hat sie aufgefordert, sich umzusetzen.
Das heißt, es war in Kiel möglich, sich als Frau neben Männer oder als Mann neben Frauen zu setzen. Was ich nicht weiß, ist, ob die Teilnehmer angewiesen wurden. Wenn das geschehen ist, dann wäre es nicht korrekt. Jeder Mensch soll sich intuitiv hinsetzen, wo er oder sie möchte.
Und ich lache gerade selbst, bei diesen lächerlichen Sätzen. Womit sind wir bitte beschäftigt? Daraus ein Medienspektakel zu machen, weil Lobbyisten das so wünschen und auch das zum Theologikum zu machen seitens von Muslimen… Und dann wundern wir uns, warum Deutschland sich abschafft… Gute Nacht, wenn das eure Zeit in Anspruch nimmt.
Goethes besondere Form des Deismus und Lessings Kampf dafür, sein Ideendrama aufzuführen, diese Dinge interessieren mich einfach mehr. Denn auch ich kämpfe dafür, dass sich mehr Menschen (symbolisch gesprochen) für Rumi und Goethe begeistern. Die Wirtschaft, das Gemeinwesen, die Atmosphäre in Deutschland – alle würden profitieren.
Was Antisemitismus betrifft, kann ich Folgendes sagen: Wenn es Antisemitismus ist, eine Flagge des Staates Palästina als Aufkleber zu haben, dann gab es Antisemitismus. Wenn die Flagge des Staates Palästina keinen Antisemitismus darstellt, dann gab es keinen.
Jeder Mensch, der etwas gegen Juden hat, weil sie Juden sind, kann, darf und soll meinen Auftritten fernbleiben. Jeder Mensch, der etwas gegen Christen hat, weil sie Christen sind, kann, darf und soll meinen Auftritten fernbleiben. Jeder Mensch, der etwas gegen Muslime hat, weil sie Muslime sind, kann, darf und soll meinen Auftritten fernbleiben.
Foto: Autor
Und jetzt wird mir mein eigener Text gerade zu lang. Ich sitze gerade in der Venloer Straße und genieße einen Kaffee. Das ist mein Moment im Café.
Und: Ich plane bereits meinen nächsten Kiel-Besuch. Warum? Weil Kiel eine geile Stadt ist. Eben der „echte Norden“, wie es heißt. Weil dort die Menschen das zivilisierte Moin moin von sich geben. Und weil es dort das beste Fischbrötchen der Welt gibt! Das waren viele und schwere Gedanken. Das benötigt ein bisschen Kopflüften mit dem Lied Küstenkind! Den Moment am Meer lasse ich mir von niemandem nehmen.
„Die Wellen singen mir ihr Lied
Mit dem Wind zur Melodie
Und die Möwen stimmen ein
Zu meiner Symphonie
Das ist mein Moment am Meer
Den ich tief in mir genieß‘
Den ich in mir seh‘ und fühl‘
Wenn ich die Augen schließ’“