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Muslimfeindlichkeit 2024: „Ein grundsätzlich feindseliges Klima“

Ausgabe 361

Muslimfeindlichkeit
Foto: Dirk Enters/CLAIM

„IZ-Begegnung“ mit Güzin Ceyhan von der CLAIM Allianz zum aktuellen Lagebild Muslimfeindlichkeit 2024. Die Dunkelziffer soll deutlich höher sein.

(iz). Mitte Juni veröffentlichte die CLAIM Allianz ihr Lagebild zur Muslimfeindlichkeit 2024. Der Report beschreibt einen erschreckenden Anstieg. Hierzu sprachen wir mit Güzin Ceyhan. Sie leitet den Bereich Monitoring bei dem Netzwerk

Islamische Zeitung: Die CLAIM Allianz hat am 17. Juni ihren Bericht zur Muslimfeindlichkeit in Deutschland für das Jahr 2024 veröffentlicht. Darin sprechen Sie von einer Zunahme antimuslimischer Straftaten um 60 %. Können Sie diese nach Kategorie und Ziel aufschlüsseln?

Güzin Ceyhan: Lassen Sie mich zunächst erläutern, wie unser Dokumentationssystem zustande gekommen ist. Es basiert auf einheitlichen nationalen und internationalen Standards. Wir haben es in einem mehrmonatigen Prozess mit Experten entwickelt. Es ist partizipativ und fachlich fundiert. Wir verstehen unsere Arbeit auch als lernendes System, das wir regelmäßig überprüfen und weiterentwickeln.

Wir unterscheiden drei Arten von Vorfällen: Erstens handelt es sich um Diskriminierung, wie sie nach dem allgemeinen Gleichbehandlungsgesetz definiert wird.

Zweitens handelt es sich um verbale Angriffe. Das sind z.B. Volksverhetzung, verhetzende Beleidigungen, Bedrohungen, Nötigungen usw.

Und drittens geht es um gewaltbereite Übergriffe wie Körperverletzungen, einfache und schwere Tötungen sowie um Sachbeschädigungen. Hier orientieren wir uns am Strafgesetzbuch.

Islamische Zeitung: In Ihrem Papier wird erkennbar, dass sich 70 % der Übergriffe auf Personen gegen Frauen richten…

Güzin Ceyhan: Genau. Das ist eine sehr hohe Zahl, die sich aber mit Daten aus den letzten beiden Jahren deckt. Im Vergleich zu den letzten Jahren bleibt das Verhältnis von Männern und Frauen ungefähr gleich.

Schlüsselt man es auf – also nach Geschlecht und Lebensbereichen –, sehen wir, dass Frauen überwiegend in allen Bereichen betroffen sind. Dabei stellen wir fest, dass es egal ist, ob es sich um den öffentlichen Raum, das Gesundheitswesen, die Arbeitssuche oder auch das Vereinsleben handelt.

Nur im Themenfeld Polizei stellen wir fest, dass überwiegend Männer betroffen sind. Das liegt an Aspekten wie Männlichkeit, zugeschriebener Gefährlichkeit etc.

Islamische Zeitung: In seinem Bericht macht CLAIM einen Unterschied zwischen gemeldeten Fällen und Dunkelziffern. Können Sie erklären, um was es sich dabei handelt und wie Differenzen entstehen?

Güzin Ceyhan: Zum Glück haben wir die Studien der EU-Grundrechteagentur (FRA). Und diese zeigen deutlich, wie groß das Ausmaß von antimuslimischem Rassismus in Europa ist – nicht nur in Deutschland, sondern in der Europäischen Union.Und wie selten Betroffene Unterstützung suchen.

Und in der letzten Studie „Being Muslim in the EU“ gaben 68 % der Muslime an, in Deutschland Diskriminierung erfahren und erlebt zu haben. Aber es sind nur 4 %, die überhaupt Fälle melden oder eine Beratung aufsuchen.

Das liegt generell unter dem EU-Durchschnitt von 6 %. Wenn fast 70 % angeben, in Deutschland Diskriminierung und antimuslimischen Rassismus erlebt zu haben, aber nur 4 % dies melden, erkennen wir, dass das Dunkelfeld weitaus höher liegt.

Islamische Zeitung: Kann man hier noch Zahlen nachträglich erheben, indem man zum Beispiel gesonderte Befragungen erstellt?

Güzin Ceyhan: Genau. Grundsätzlich wäre es auch in Deutschland empfehlenswert, diese Dunkelfeldstudien (oder „Victims Surveys“) regelmäßig durchzuführen, damit wir genau sehen können, wie hoch das Dunkelfeld ist.

Die CLAIM Allianz stellt Mitte Juni 2025 ihr aktuelles Lagebild vor. (Foto: Dirk Enters/CLAIM)

Islamische Zeitung: Aus Ihrer Erklärung geht hervor, dass zahlenmäßig die meisten Übergriffe in NRW stattgefunden haben. Liegt das an der demographischen Verteilung des muslimischen Lebens? Oder gibt es andere Faktoren, die es erklären würden?

Güzin Ceyhan Das können wir so direkt nicht beantworten. Wir haben keine Auswertung nach Bundesland vorgenommen. Wir haben in unserem Lagebild gesagt, dass wir Meldungen von 26 Kooperationsstellen in 13 Bundesländern erhalten. Leider ist es so, dass wir nicht flächendeckend in allen Bundesländern viele Kooperationen mit Beratungsstellen oder Meldestellen unterhalten haben. Über Nordrhein-Westfalen können wir sagen, dass NRW gut aufgestellt ist, was Beratungsstellen betrifft – auch spezifisch zu antimuslimischem Rassismus.

Manchmal ist es so wie in Hamburg, dass wir überhaupt keine Meldungen oder Beratungsanfragen bekommen. Das Gleiche gilt für Sachsen-Anhalt, wo es einfach keine Kooperationspartner gibt. Daher ist das Lagebild keine repräsentative Erhebung, sondern bildet nur einen Ausschnitt der Realität antimuslimischer Vorfälle ab.

Islamische Zeitung: Haben Sie in Ihrer Arbeit bestimmte Faktoren ausmachen können, durch die sich der Anstieg muslimfeindlicher Übergriffe erklären ließe?

Güzin Ceyhan: Man sieht auch in Deutschland ein grundsätzliches antimuslimisches oder feindseliges Klima. Wir können aus Studien ableiten: Jeder Zweite hegt antimuslimische Einstellungen. Das ist das Erste.

Das Zweite ist: Den Anstieg sehen wir auch dadurch deutlich, dass sich Debatten im letzten Jahr verschärft haben, nachdem in Mannheim, in Solingen und anderswo Attentate stattgefunden haben. Im Jahr davor gab es den Terrorangriff der Hamas vom 7. Oktober.

Wir erkennen, dass sich auch Debatten und Diskurse gegenüber Muslimen ziemlich verschärften. Das überträgt sich auf die TäterInnen. Man sieht immer wieder, dass diese Botschaften aufgreifen, wenn alle Muslime unter Generalverdacht gestellt werden.

Islamische Zeitung: Das heißt, Sie sehen eine Verbindung von einerseits einer Radikalisierung der Sprache und der Verschärfung des Diskurses und andererseits einen Anstieg bei Angriffen…

Güzin Ceyhan: Es gibt natürlich noch weitere Faktoren. Eine andere Erklärung für den Anstieg unserer Zahlen liegt im Ausbau unserer Kooperationspartner. Wenn wir letztes Jahr  Daten von 17 Beratungsstellen bekamen, hatten wir sie dieses Jahr von 26. Aber selbst, wenn wir von der gleichen Datengrundlage wie im Vorjahr ausgehen, erkennen wir einen deutlichen Anstieg von antimuslimischem Rassismus.

Islamische Zeitung: Um kurz auf die Radikalisierung von Sprache und Diskurs zurückzukommen – es gibt das Konzept des Stochastischen Terrors. Dieser bezeichnet das Phänomen, wonach durch massenhafte Verbreitung von Hass, extremistischen Narrativen oder hetzerischer Sprache – insbesondere über digitale Medien – die Wahrscheinlichkeit für reale Gewalttaten steigt. Dabei ist nicht vorhersehbar, wer sie begehen wird.

Güzin Ceyhan: Wir haben bei unserer Auswertung deutlich gesehen, dass Sprache wirkt. Sie schafft so ein gesellschaftliches Klima, in dem sich einige ermutigt fühlen, diese Grenzen zu überschreiten, zu beleidigen oder sogar Gewalt anzuwenden. Wenn regelmäßig Menschen unter Generalverdacht gestellt werden, schafft das Unsicherheit, begünstigt Diskriminierung oder sogar Übergriffe.

Islamische Zeitng: Sie erwähnen in Ihrer Pressemitteilung Ereignisse wie den Hamas-Terror (Oktober 2023) sowie Anschläge wie in Magdeburg (Dezember 2024). Besteht eine Korrelation zwischen solchen Vorkommnissen und dem Anstieg antimuslimischer Straftaten?

Güzin Ceyhan: Sie sprechen jetzt von Korrelation. Von einer direkten können wir so nicht ausgehen – in statistischer Hinsicht. Das müsste empirisch untersucht werden. Aber wir sehen, dass solche Ereignisse einen Einfluss auf antimuslimische Übergriffe haben. Das können wir auf jeden Fall beobachten und auch als Trend aufnehmen.

Islamische Zeitng: Antimuslimische Diskurse in Deutschland sind auch von kurz- und langfristiger Aktualität abhängig. Auch sie variieren. Schwanken die Straftaten mit ihnen?

Güzin Ceyhan: Für letztes Jahr kann ich nur sagen, dass wir einen konstanten Verlauf – bis auf die Peaks – durch das gesamte Jahr hinweg erkannt haben. Auch die Debatten und Diskurse beschränken sich nicht auf einen kurzen Zeitraum – sie entfalten ihre Wirkung oft über Wochen hinweg und tragen zu einem feindlichen Klima bei.

Islamische Zeitung: Es wird in der Behandlung des Themas selten über „best practices“ oder über Beispiele gesprochen, wie man von Seiten der Politik, der Behörden oder der Zivilgesellschaft erfolgreich mit antimuslimischem Rassismus umgehen kann. Können Sie was über diesen Aspekt sagen?

Güzin Ceyhan: Wir sehen in der Politik durchaus den Willen, antimuslimischen Rassismus als drängendes Thema anzugehen, bspw. bei der Integrationsbeauftragten der Bundesregierung, die zugleich auch Antirassismusbeauftragte ist. Auch auf ministerialer Ebene erfahren wir Unterstützung vom Bundesministerium des Innern und für Heimat (BMI) und vom Bundesministerium für Bildung, Familie, Senioren, Frauen und Jugend (BMBFSFJ).

Politischer Wille ist seit Jahren vorhanden. Und man sieht auch, dass man sich mit diesem Thema beschäftigt. Allerdings gibt es immer Verbesserungsvorschläge und viel Luft nach oben. Alles kann besser werden.

Was wir uns zum Beispiel sehr wünschen würden, ist die institutionelle Förderung und nicht ausschließlich eine auf Projektbasis. Damit haben viele Beratungsstellen und Meldestellen zu kämpfen. Wenn diese Stellen besser ausgestattet wären – personell, finanziell und strukturell –, könnten sie noch verlässlicher für Betroffene da sein. Und sie könnten mehr Menschen erreichen, die Unterstützung dringend brauchen. 

Islamische Zeitung: In ihren Berichten dokumentiert die CLAIM Allianz seit Längerem nicht nur das Problem, sondern formuliert auch Handlungsempfehlungen und Ratschläge für zuständige Stellen und verschiedene Akteure auf dem Gebiet. Zu welchen praktischen Schritten raten Sie Staat und Politik?

Güzin Ceyhan: Für uns ist es sehr wichtig, dass antimuslimische Vorfälle erstens auf allen Ebenen besser erfasst werden – online und offline. Das sollte einerseits durch die Polizei und andererseits durch die Zivilgesellschaft geschehen. Das Dunkelfeld ist eben sehr hoch. Dafür müssen die Voraussetzungen noch geschaffen werden.

Wir brauchen eine einheitliche Arbeitsdefinition von Rassismus und antimuslimischen Rassismus – auch auf Verwaltungsebene. Wir benötigen verpflichtende Schulungen für Polizei und Justiz und sowie, wie bereits erwähnt, eine dauerhafte Finanzierung zivilgesellschaftlicher Monitoringstellen. Mehr Menschen brauchen Unterstützung durch unabhängige  Beratungsstellen – flächendeckend in ganz Deutschland. Es dürfen in diesem Fall keine Strukturen wegbrechen.

Wir brauchen des Weiteren eine klare politische Haltung und ein unmissverständliches Bekenntnis gegen antimuslimischen Rassismus. Der nationale Aktionsplan gegen Rassismus muss endlich und zügig überarbeitet werden. Es braucht verbindliche Maßnahmen gegen antimuslimischen Rassismus – mit messbaren Zielen und einem festen Zeitrahmen.

Ein wichtiger Aspekt dabei ist das Empowerment von Betroffenen. Damit meine ich Aufklärung, Sensibilisierung sowie Bildungsarbeit.

Diese gesamte Arbeit muss auf Bundes- und Länderebene ausgebaut und finanziell abgesichert werden.

Islamische Zeitung: Liebe Güzin Ceyhan, wir bedanken uns recht herzlich für das Gespräch.

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