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Muslimische Familien in der Pandemie:
Helfen – wenn nicht jetzt, wann dann?

Ausgabe 320

Foto: Yura Yarema, Adobe

Zweifellos sind Familien und vor allem Kinder die großen Verlierer der aktuellen Corona-Pandemie. Viele neu eingeschulte Kinder kennen kein Schulleben ohne Maske, alltägliche Testungen und jede Menge Einschränkungen. Sport und Freizeitaktivitäten im schulischen Alltag fallen seit 2 Jahren regelmäßig flach. Vor allem alles, was Spaß macht, wie Schwimmen oder Ausflüge, fallen konsequent aus. Abstände und Hygieneregeln bestimmen den Schulalltag der Kinder. Von Ayse Gerner

(iz). Als ob das nicht genug wäre, gehen die Limitierungen auch in allen erdenklichen Freizeitaktivitäten weiter: teilweise waren Spielplätze abgesperrt, an außerschulische Vereinsaktivitäten ist bis heute in großem Umfang nicht zu denken. Doch was machen diese langwierigen, zermürbenden Beschränkungen insbesondere aus den Familien? Welchen Herausforderungen sind vor allem muslimische Familien in der Pandemie ausgesetzt?

Als eine Fachkraft, die hauptberuflich und schwerpunktmäßig muslimische Familien berät und begleitet, kann ich bestätigen, dass muslimische Familien in der Tat Mehrbelastungen ausgesetzt sind. Warum ist das so? Es ist kein Geheimnis, dass muslimische Familien im Durchschnitt kinderreicher sind als in der Mehrheitsgesellschaft üblich. Insbesondere bei den ab 2015 zugewanderten muslimischen Familien betreue ich relativ viele Familien mit einem Durchschnitt von 4-6 minderjährigen Kindern und relativ jungen Eltern, bei denen die Geduldsspanne aus Altersgründen schon nicht besonders hoch ist.  

Die Herausforderungen für kinderreiche Familien sind vielfältig: wenig Wohnraum, mehrere Kinder in einem Kinderzimmer, wenig Privatsphäre und zudem wenig finanzieller Spielraum belasten viele Familien ungemein. Da gerade überproportional hoch viele muslimische Familienväter in der Selbstständigkeit arbeiten, waren diese relativ zügig innerhalb der Pandemie von Arbeitslosigkeit betroffen oder zumindest dieser Gefahr ausgesetzt, was den Stresspegel und die allgemeine Unzufriedenheit zusätzlich anhob. Home-Office, Home-Schooling und zusätzliche Kinderbetreuung parallel nahmen für viele Familien untragbare Zustände an. Aufgrund der Tatsache, dass viele Entertainment- und Freizeitbeschäftigungen weggefallen sind, ist man zudem überfordert, wie man Kinder sinnvoll zu Hause beschäftigen soll. Häufig ist der Medienkonsum die einzige Lösung, Kinder „ruhigzustellen“. 

Erfreulicherweise entdeckten viele Familien in der Pandemie wieder ihre Liebe für das Grüne, versuchten mehr Familienausflüge im Freien zu genießen, sei es mit Wanderungen oder anderweitigen Ausflügen. Nichtsdestotrotz war dieses nur eine kurzweilige Lösung. Viele muslimische Eltern beschweren sich in der Beratung: „Die Initiative, mehr ins Grüne zu fahren, kommt immer von uns Eltern, nie so richtig von den Kindern. Kaum irgendwo angekommen beschweren sich die Kinder, dass sie sofort wieder nach Hause wollen, um Playstation zu spielen. Es ist sehr frustrierend“, erzählt ein junger muslimischer Vater in der Beratung. „Die Kinder heutzutage wollen außerhalb des Medienkonsums kaum irgendetwas machen. Sie haben sich daran gewöhnt zu Hause zu hocken, werden insgesamt träger und dicker und sitzen nur noch vor den Tablets, Handys und der Playstation. Meiner Frau kommt das ganze sehr recht, weil sie ebenso nicht weiß, wie sie sonst vier Kinder ruhigstellen soll. Es ist ein Teufelskreislauf. Man kommt mit dem Kontrollieren der Medien kaum hinterher. Versuchen Sie mal, die Kinder dazu zu animieren, an einem Picknick oder einem Fußballspiel teilzunehmen. Die haben alle kein Bock auf sowas. Playstation oder Tablet – das ist alles, was sie wollen“

Der junge Vater ist kein Einzelfall. Der Medienkonsum von Kindern und Jugendlichen ist in der Pandemie deutlich angestiegen. Diverse Untersuchungen belegen, dass sich die Zeit, die Mädchen und Jungen täglich insbesondere mit digitalen Spielen verbringen, stark erhöht hat. Eine Studie zum Medienumgang 12- bis 19-Jähriger zeigt eine Steigerung der täglichen Online-Zeit – von 205 Minuten 2019 auf 258 Minuten 2020 und noch deutlich mehr in 2021 an. Der exorbitante Anstieg des Medienkonsums geht zudem parallel einher mit dem Anstieg des Übergewichts und dem Bewegungsmangel bei Kindern und Jugendlichen. Vorschulkinder hat es hierbei besonders hart getroffen: Deutlich mehr Kinder verzeichneten in der Pandemie Defizite im sprachlichen, motorischen und sozial-emotionalen Bereich. Zudem hat man in der Pandemie häufig auch auf Vorschuluntersuchungen verzichtet – das heißt, dass sich die Defizite vieler Kinder, vor allem den ohnehin stärker benachteiligten Migrantenkindern, noch im Schulalltag herauskristallisieren werden.

Studien belegen ebenso, dass Kinder und Jugendliche in erhöhtem Maße psychisch belastet sind innerhalb der Pandemie. Grund hierfür sind Kita- und Schulschließungen, Zunahme von Quarantäne-Isolationen, Homeschooling und Freizeitbeschränkungen. Insbesondere Kinder und Jugendliche aus sozial benachteiligten Familien und Familien mit Migrationshintergrund, zu denen auch überproportional viele muslimische Familien zählen, hat es hier besonders hart getroffen. Hierbei kam es deutlich häufiger zu innerfamiliären Spannungen und Konflikten. Besonders oft wurden in meinem beraterischen Kontext von Symptomen wie Ängstlichkeit, Panikattacken, Depressivität, Hyperaktivität der Kinder oder allgemeinen Einbußen in der Lebensqualität berichtet.

Es ist nicht davon auszugehen, dass schwerwiegende psychische Störungen entwickelt wurden, jedoch ist es sehr wichtig, das Auftauchen einzelner Symptome ernst zu nehmen und einer Weiterentwicklung der Symptome vorzubeugen und Abhilfe zu verschaffen. Für viele Muslime spielt das innerislamische Gemeindeleben eine große Rolle: Gemeinsames Beten, Fasten, Qur’an-Rezitieren in der Moschee… so ziemlich alles, was ein muslimisches Familienleben ausmacht, ist nicht mehr oder nur noch sehr eingeschränkt möglich.

Viele Kinder, die eine religiöse Unterweisung innerhalb der örtlichen Gemeinde in Anspruch nahmen, andere muslimische Kinder kennenlernen konnten und zeitgleich eine muslimisch geprägte Sozialisation erleben würden, konnten diese Aktivitäten – wenn überhaupt – nur digital verfolgen, was natürlich keineswegs dieselbe Qualität erreicht, wie vor Ort. Die Tatsache, dass innerhalb der Pandemie die religiöse Bildung der Kinder ebenso auf der Strecke bleibt, stresst die Familien noch zusätzlich und sorgt für Konflikte. Etliche Male wurde ich über die Jugendämter kontaktiert, dass in einigen muslimischen Familien rasche Familieninterventionen durchgeführt werden müssen, da eine durch „§ 8a nach SGB VIII Schutzauftrag bei Kindeswohlgefährdung“ vorliegen würde. Hierbei haben die Kinder in der Schule oder in ihrem sozialen Umfeld erwähnt, dass die Eltern sie körperlich züchtigen würden, da sie zum Beispiel  das islamische Gebet nicht verrichtet hätten. Einen Jugendlichen habe ich bei der Polizeiwache nachts abholen und mit der Polizei zusammen nach Hause begleiten müssen. Auf dem Weg erzählte mir dieser, dass sein Vater ihn zum Gebet geschlagen hätte, er sei in einem geeigneten Augenblick weggelaufen und hätte Zuflucht bei der örtlichen Polizei gesucht.

Diese Art Meldungen von Kindeswohlgefährdung haben innerhalb der Pandemie zugenommen – diese ist darauf zurückzuführen, dass die Eltern mit der islamischen Erziehung ihrer Kinder stark überfordert sind und teilweise zu Gewalt greifen. Hierbei erfolgt unsererseits eine zügige Interventionsmaßnahme innerhalb der Familie, um eine Kindesentnahme aus der Familie zu verhindern, was für muslimische Familien ein „Albtraum“ ist. Die Herausforderung hierbei ist es, mit den Eltern zusammen eine gewaltfreie Erziehung und eine gewaltfreie familiäre Kommunikation zu erarbeiten und zu etablieren. 

Innerhalb meiner psychologischen Familienarbeit stelle ich immer wieder fest, dass Gewalt gegen Kinder in der Mehrheit der muslimischen Familien als „absolut normal“ gesehen wird. Insbesondere bei den eher neu nach Deutschland zugewanderten muslimischen Familien ist dies der Fall.  Dieses stellen nicht nur muslimische Psychologen, sondern auch viele Lehrer an Brennpunktschulen und Mitarbeiter:innen des Jugendamtes fest.

Auch wird bestätigt, dass die Gewalt gegen Kinder in muslimischen Familien innerhalb der Pandemie deutlich zugenommen hat. „Wir kommen mit dem Melden an das Jugendamt kaum hinterher“, berichtete mir eine Lehrerin an einer Brennpunktschule mit relativ hohem Migrationsanteil. „Wenn wir es schaffen würden, alle Gewalttaten gegen Kinder zu melden, kann das Jugendamt gleich bei uns einziehen“, gesteht die Lehrerin frustriert.

Wie oben bereits erwähnt, zeichnen sich muslimische Familien dadurch aus, dass eine höhere Kinderanzahl pro Familie zu verzeichnen ist. Dies führt automatisch zu mehr Überforderung und anschließend auch zu mehr Gewaltpraxis. Häufig zeigen die Familien auch kein besonderes Verständnis für eine gewaltfreie Erziehung: „Was ist denn dabei, wenn man sein Kind hin und wieder schlägt?“ entgegnet mir ein muslimischer Vater unverständnisvoll grinsend. „Wir sind alle mit Schlägen groß geworden in unserer Heimat, das war normal für uns. Haben wir unseren Eltern nicht gehorcht, gab es eins auf den Deckel. Na und? Sind wir jetzt deswegen alle psychisch krank geworden oder was? Schläge zu bekommen bei Ungehorsam ist normal bei uns. Wie soll man denn mehrere Kinder gleichzeitig sonst zum Einhalten von Regeln bringen, Frau Psychologin? Sagen Sie mir das mal?“

Genau mit solchen Einstellungen bin ich sehr häufig konfrontiert innerhalb meines Arbeitsalltags. Ich werde sogar ausgelacht, wenn ich von gewaltfreier Erziehung rede. Ich versuche, den Eltern hierbei klipp und klar zu erläutern, dass es nun einmal Kinderschutzgesetze in Deutschland gibt und das sich jeder an diese Gesetze halten muss. Vielmehr lenken die Eltern dann ein, wenn ich ihnen die Konsequenzen ihres Handelns und die weiteren Handlungsoptionen des Jugendamtes aufzeige.

Die Erziehung der Kinder ist nicht die einzige Herausforderung in der Pandemie: Eheprobleme, Femizide, häusliche Gewalt gegen Frauen und Scheidungen haben ebenfalls einen traurigen Peak Point erreicht. Ca. 150.000 Fälle von Partnerschaftsgewalt wurden 2020 von Behörden bundesweit registriert. Dies ist ein Anstieg von 5 Prozent im Gegensatz zum Vorjahr ohne Pandemie. Für circa 140 Frauen endetet die Gewalt tödlich. Die allermeisten Taten werden von Männern begangen, denen „patriarchale Strukturen“ nachgesagt werden, hierunter sind natürlich auch so einige muslimische Männer zu vermuten, auch wenn es keine separate Statistik darüber gibt.

Innerhalb meiner Arbeit in der Familienberatung musste ich in der Pandemie deutlich mehr Frauen helfen in den ohnehin schon sehr überfüllten Frauenhäusern Schutz aufzusuchen, egal ob mit oder ohne Kinder. Zudem zeigten vielmehr Frauen die Initiative für eine Scheidung aufgrund von häuslicher Gewalt, indem sie zum Beispiel zuerst den Ehemann mit Hilfe der Polizei aus der gemeinsamen Wohnung ausquartierten und anschließend eine einstweilige Verfügung zum Schutz vor Gewalt in Wohnungen bei Gericht beantragt haben. 

Es wäre sehr zu begrüßen, wenn auch muslimische Verbände und andere Initiativen langsam Bezug zu den innerfamiliären Konflikten und Herausforderungen von muslimischen Familien in der Pandemie Stellung beziehen würden, damit man Hand in Hand gemeinsam Abhilfe schaffen kann. Dinge totzuschweigen war noch nie eine Lösung. Gerade jetzt ist innermuslimische Initiative gefragt, da viele Muslime sich scheuen, eine nichtmuslimische Beratungsstelle aufzusuchen und ihre familiären Probleme zu offenbaren. Wenn nicht jetzt, wann wollen wir dann helfen?

Die Autorin hat Psychologie und Betriebswirtschaft studiert, arbeitet als Referentin und in der Psychologischen Familien- und Paarberatung von Muslimen.