Kairo (dpa). Mit mehr als 100 Todesurteilen, ausgesprochen in einer monotonen, zehnminütigen Urteilsverkündung, stellte der ägyptische Richter Schaaban al-Schami am Samstag keineswegs einen neuen Rekord auf. Ein Kollege in der oberägyptischen Stadt Minia hatte im April des vergangenen Jahres gegen 683 Funktionäre und Anhänger der verbotenen Muslimbruderschaft die Höchststrafe verhängt. Doch zum ersten Mal in der Geschichte des modernen Ägyptens soll nun mit Mohammed Mursi ein Ex-Präsident sein Leben am Strang lassen.
Noch sind die Urteile, die international auf deutliche Kritik stießen, nicht rechtskräftig. Der jüngste Monsterprozess basierte auf einer phantastisch anmutenden Anklage. Die Verurteilten sollen sich im Januar 2011 mit der palästinensischen Hamas-Miliz und der pro-iranischen Hisbollah aus dem Libanon zu einem Gefängnisausbruch verschworen haben. Einige von ihnen, darunter Chairat al-Schater, das ehemalige politische Schwergewicht der Bruderschaft, sollen mit der Hamas und der Hisbollah, den Erzfeinden des gegenwärtigen ägyptischen Regimes, konspiriert haben, um das Land zu destabilisieren.
Die Anschuldigungen beziehen sich auf eine reale Episode im sogenannten Arabischen Frühling, als Massenproteste in einem erbitterten 18-tägigen Ringen den Langzeitherrscher Husni Mubarak zum Rücktritt zwangen. Die Muslimbrüder – unter Mubarak illegal, aber geduldet – hatten mit der Revolution der eher linken, liberalen und weltlichen Jugend nichts zu tun. Dennoch ließ das Mubarak-Regime einige ihrer Führer, darunter Mursi und Al-Schater, nach dem Ausbruch der Revolte am 25. Januar ins Hochsicherheitsgefängnis Wadi Natrun verfrachten.
Am 28. Januar kam es zu den schlimmsten Zusammenstößen auf dem Kairoer Tahrir-Platz. Mubaraks Sonderpolizei tötete Hunderte Demonstranten. Doch den Tahrir-Platz gaben die jungen Protestierer nicht auf. Mubaraks Innenminister Habib al-Adli zog daraufhin die Bewachung von etlichen Gefängnissen ab. Zehntausende Kriminelle sollten das Land überfluten, Chaos säen und die Bevölkerung nach Mubarak rufen lassen. Dich die Strategie ging am Ende nicht auf.
Unter den preisgegebenen Haftanstalten war auch das Gefängnis Wadi Natrun in der Wüste zwischen Kairo und Alexandria. Mursi und die anderen inhaftierten Muslimbrüder spazierten ebenso in die Freiheit wie andere politische Gefangene und zahllose abgebrühte Straftäter.
Bald fiel die Wadi-Natrun-Episode als bloße Fußnote zum Umsturz von 2011 der Vergessenheit anheim. Erst als das Militär im Juli 2013 Mursi nach Massenprotesten gegen seine autoritär gewordene Herrschaft entmachtete, begann die Staatsanwaltschaft, daraus eine Anklage zu konstruieren. Demnach sollen Hunderte schwerbewaffnete Hamas- und Hisbollah-Kader über Tunnel aus dem Gazastreifen in Ägypten eingerückt sein, um das Hunderte Kilometer entfernte Gefängnis zu überfallen und die Führer der Muslimbruder zu befreien.
Das Gericht folgte der Anklage in praktisch allen Punkten. Die rund 70 angeblichen Hamas- und Hisbollah-Kader, die in die Verschwörung verstrickt gewesen sein sollen, wurden in Abwesenheit zum Tode verurteilt. Hamas-Sprecher Sami Abu Suhri verwies in seiner Reakion auf den logischen Widerspruch, dass zwei der Hamas-Verurteilten bei Kämpfen mit Israel getötet und andere von den Israelis ins Gefängnis geworfen wurden – allesamt vor 2011.
Bizarr erscheint auch die Verurteilung des international angesehenen ägyptischen Islamwissenschaftlers und Politologen Emad Shahin. Der Herausgeber der „Oxford Encyclopedia of Islam and Politics“ (2012) lebt derzeit in den USA. „Ich wiederhole die völlige Unhaltbarkeit der gegen mich erhobenen Anschuldigungen“, teilte der Professor auf seiner Webseite mit. „Und ich merke an, dass ich kaum das einzige Opfer der Justiz in diesem Fall bin.“
Todesurteile gegen Tote und politikferne Akademiker, Anklagen, die sich wie schlechte Agentenkrimis lesen: Ägyptens Justiz sieht in den Prozessen gegen die Islamisten nicht gut aus. Ihr Vorgehen dürfte aber einer tieferen Logik folgen: der Demonstration der absoluten Macht des Staates über seine Bürger.
Unter dem Präsidenten, vormaligen Militärchef und Mursi-Stürzer Abdel Fattah al-Sisi gehe es der Armee und der Justiz darum, den Menschen einzubläuen, dass die politischen Freiheiten der Revolution von 2011 ein Irrtum, eine Illusion gewesen seien, meint die Sozialforscherin Mona El-Ghobashy in der „New York Times“. „Den Ägyptern wird gesagt: Das Ding mit der Demokratie und der freien Wahl der Führer ist eine Phantasie. So funktioniert die Macht hier nicht.“
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