,

Reiseblog Westbalkan: hinauf in die Altstadt von Gjirokaster

Gjirokastër
Fotos: Autor

IZ-Herausgeber Abu Bakr Rieger auf den Spuren von Evliya Çelebi: Über Gjirokaster und die Frage der albanischen Identität.

(iz). Wir fahren mit einem dynamischen Taxifahrer hinauf in die Altstadt von Gjirokastër. Auf der rasanten Fahrt frage ich ihn, ob an diesem Ort mehr Muslime oder Christen leben. Der junge Mann schaut mich überrascht an: „Das weiß ich nicht genau!“ Man achte hier nur auf das allgemeine Verhalten der Leute, welchem Glauben sie angehören, sei dabei nebensächlich.

Er erzählt, dass in den letzten Jahren viele junge Menschen das Land verlassen haben, dies aber für ihn nicht infrage komme. „Wir haben unseren Spaß hier“, deutet er an und schließt seine Ausführungen mit dem Schlusssatz ab, dass, wenn die Albaner sich ähnlich anstrengen, wie die Deutschen oder Schweizer, das Land eine große Zukunft habe.

Fotos: Autor

Gjirokastër – Stadt der Steine

Wir sind am Rande des alten Basars angekommen und laufen die steilen Gassen, vorbei an kleinen Läden, hinauf zur Zitadelle. Hier bietet sich eine spektakuläre Sicht auf die „Stadt der Steine“ und das Drin-Tal. In den Bergen verbergen sich Klöster und Tekken. In der Abgeschiedenheit fanden Gläubige spirituelle Erfüllung oder – je nach Lage – Sicherheit. 

Anzeige:
Hier könnte Ihre Werbung stehen

Die Burganlage ist längst nicht mehr bewohnt. Im 17. Jahrhundert berichtete, der Reisende Evliya Çelebi, über die Besiedlung mit muslimischen Wohnhäusern hinter den Mauern. In seinem Bericht zählt er zahlreiche Moscheen, Kirchen und Schulen in der ganzen Stadt auf. Wie so oft berühren sich hier das Schöne und das Schreckliche. Über viele Jahrzehnte gab es auf der Burg dunkle Gefängnisse, die, zwischen 1932-1991, von Italienern, Griechen, Deutschen und Kommunisten betrieben worden sind. 

In der Altstadt besuchen wir das Geburtshaus des bekanntesten albanischen Schriftstellers: Ismail Kadare. Das Museum ist dem Buch „Chronik in Stein“, ein Werk über die Geschichte seiner Heimatstadt, gewidmet. Er schreibt: „Es war dies wirklich eine sehr seltsame Stadt. Man konnte auf einer Straße gehen und, wenn man wollte, den Arm ein wenig ausstrecken, um seine Mütze über die Spitze eines Minaretts zu stülpen. Vieles war schwer zu glauben, und vieles war wie ein Traum.“

Die Frage der Zugehörigkeit der Albaner

Kadare wurde mehrfach für den Nobelpreis vorgeschlagen. Seine Rolle in der kommunistischen Zeit des Landes war schwierig. Die Machtverhältnisse erlaubten nur indirekte Kritik an der totalitären Herrschaft. 1981 schrieb er unter anderen den Roman „Der Palast der Träume“, eine Parabel über einen diktatorischen Staat, der die Träume seiner Untertanen überwacht und interpretiert, um so potenzielle Verschwörungen gegen sich aufzudecken. Der Text wurde nach dem Erscheinen verboten. Das internationale Renommee schützte den Denker immer wieder vor Verfolgung. 

Der Autor lebte nach dem Fall des Kommunismus einige Zeit in Frankreich. 2006 veröffentlichte er einen streitbaren Text, in dem der Schriftsteller versucht, die Mentalität der Bevölkerung mit dem Christentum zu verknüpfen. Aus dieser Stellungnahme entwickelte sich eine Debatte um die kulturelle Identität der Albaner und die Frage, an welchem Anknüpfungspunkt der Geschichte die eigentlichen Wurzeln des Landes liegen. 

Jenseits dieser akademischen Diskussion hofft die Mehrheit aller Menschen auf eine Zukunft in der Europäischen Union. Dass es weiterhin verschiedene Konfessionen in Albanien gibt, die respektvoll miteinander umgehen, ist dabei unstrittig.

Gjirokastër

Fotos: Autor

Osmanische Bürgerhäuser

Auf dem Rückweg in die Innenstadt besuchen wir eines der großen Bürgerhäuser, das um 1700 erbaute Skenduli-Haus. Die feine osmanische Architektur und die Konzeption der Wohnräume sowie Bäder schaffen eine einmalige Atmosphäre. Im Hausgang staunen wir bei unserer Besichtigung über ein Bild der Rügenfelsen – eine Kopie von Caspar David Friedrich. 

Der Hauseigentümer wurde 1981 von einem anderen Sohn der Stadt enteignet: Enver Hoxha. Entsprechend seiner Kulturrevolution wurden viele religiöse Gebäude an seinem Geburtsort vernichtet. Der osmanische Charakter von Gjirokastër blieb dennoch bestehen und ist bis heute Teil des Erbes dieses Landes.

Wir genießen zum Abschluss unseres Rundgangs die Atmosphäre auf der Terrasse eines Cafés, das die Herbstsonne in ein eigentümliches Licht taucht. Die moderate Preisgestaltung in dem Lokal unterstützt die soziale Bedeutung dieses Treffpunktes. Hier sitzen alte, fein gekleidete Männer unter den Bäumen und unterhalten sich. Ihre Gesichter sind ähnlich zerfurcht, wie die Felsen der Umgebung. Sie spiegeln die Chronik der Zeit.