Die Welt im Ganzen

(iz). Irgendwie haben moderne Medien unsere Welt übernommen. Sie präsentieren „Breaking News“, fluten uns mit Informationen, oder takten unsere Empfindungen im „Gefällt mir“ Modus. Das Leben, so wie wir es zu betrachten gewohnt waren, wird zu einer unübersichtlichen Struktur, zersetzt in unzählige kleine Einzelteile.

Die wichtigen Phänomene lassen sich aber nur in größeren Zusammenhängen verstehen. Das Wesen von Reichtum, Gesundheit oder Frieden zu bestimmen bedarf immer der Offenbarung und einer Philosophie. Wissenschaft dagegen denkt nicht, bestimmt aber zunehmend unsere Blickrichtung und die Gier nach neuen Details. Der Modus des „Machens“ macht uns Menschen zu Arbeitern, die selbst noch in der Freizeit arbeiten müssen. Das moderne Lebensgefühl hat so auch etwas mit Entfremdung zu tun: was ist wirklich, was ist gut, was ist wahr? Umso wichtiger ist es für uns Muslime den Überblick zu wahren. „Die Welt ist wunderbar im Ganzen“, heißt es bei Ernst Jünger, gerade auch im Angesicht schrecklicher Kriege und menschlicher Verwirrungen. Über allem thront die Schöpfung, die unheimlichen, perfekten Zusammenhänge.

In der Offenbarung erleben wir das Wunder der Sprache und erhalten gleichzeitig Hinweise, wie wir die Welt im Ganzen erfahren können – ohne uns je an sie zu verlieren. Während der Atheismus in allen Zusammenhängen einen Zufall erkennen will, ist der Gläubige von der Harmonie alles Geschaffenen fasziniert. Er sucht nach einer ganzheitlichen Wissenschaft, die nicht zersetzt, sondern vielmehr zusammenfügt. Er erkennt auch die existentiellen Bedingungen unserer Wirklichkeit an. Am Himmel geht der Mond auf und unter, gibt uns den Takt vor.

Dieser Mond ist ein ganz Anderer, als ihn die Astronauten vorzufinden glauben. Überhaupt ist die Schöpfung nach ganz anderen Zeitmaßstäben erschaffen. Die Erzählung über die Schaffung der Welt in wenigen Tagen ist ein Gleichnis. Unsere Lebenszeit auch. Der Gläubige findet, auch in größter Not, Trost im Glauben an das Schicksal. Er versteht den Satz Hölderlins, dass diejenigen, die auf Erden das Paradies erschaffen wollten, nichts als die Hölle gebracht haben.

Die Schöpfung lehrt uns das Maß, wir sind jenseits von Macht- und Ohnmachtsphantasien unterwegs. Der Schöpfer weiss vom Blatt, dass vom Himmel fällt, weiss von uns. Wir müssen bei allem Spektakel, dass unsere Medien vermitteln, nach den tieferen Bedeutungen suchen. Unsere Aufgabe ist es, das Werk des Schöpfers zu preisen, auch wenn wir es mit keiner Wissenschaft je ganz umfassen können. Ohne Besinnung auf das Wesentliche kann das Leben nicht gelingen.

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Heute schon einen Muslim gebasht?

(iz). Bashing“ nennt man die wörtliche oder auch körperliche Attacke gegen etwas oder jemanden. Eine öffentliche Schmähung von Muslimen, sei es nun verbal oder physisch, wird als Muslim-bashing bezeichnet. Muslim-bashing scheint in letzter Zeit ein neuer Volkssport oder Freizeitbeschäftigung – teilweise auch unter Muslimen und Türken – geworden zu sein. Wir müssen also nicht nur nach Dresden zu den so genannten Patriotischen Europäern gegen die Islamisierung des Abendlandes“(Pegida) schauen. Auch in der westfälischen Stadt, die es angeblich gar nicht gibt und über die viele kuriose Geschichten im Internet existieren, ist ein Sündenbock gefunden. Dazu gleich mehr.
Transformation und Veränderungen führen bei manchen Menschen zu Angstattacken
Zunächst einige mögliche Gründe des Muslim-bashing: Feindseligkeit, Aggression, Abneigung, Misstrauen, Missgunst, Verleumdung und Neid zeigen vor allem in Krisenzeiten ihr hässliches Gesicht. Nicht nur Verlust- und Veränderungsängste, sondern die Angst an sich, spielt dabei eine wichtige Rolle. Politische, wirtschaftliche und sozio-kulturelle Transformationsprozesse, kurz: ökonomische und strukturelle Veränderungen können Menschen durchaus vor psychologische Herausforderungen stellen. Und: Wenn die Bedeutung bestimmter gesellschaftlicher Gruppen, unter ihnen auch selbsternannter Eliten sowie ihrer Repräsentanten hinfällig werden und diese immer mehr an Wirkung verlieren, können unschöne Situationen entstehen.
So wird derzeit der hoch angesehene deutsch-türkische Soziologe, Journalist, Autor, Glücksspielsuchtberater, Integrationsbeauftragter und Familienberater Cemil Şahinöz, von Teilen der Lokalpresse in Ostwestfalen und einer Gruppe, die zu den „alten Eliten“ der „Alten Türkei“ zählen, angegriffen. Bei einigen Pressevertretern und Medienkonsumenten kommt die „Hau auf den Muslim“-Strategie scheinbar gut an.
Şahinöz ist Ansprechpartner für Politik, Gesellschaft und Wissenschaft
Şahinöz, der sich stets auf seine muslimische Identität beruft, hielt am 19. Januar auf der Kundgebung „Nein zu Rassismus und Islamfeindlichkeit“ vor etwa 10.000 Menschen eine Rede. Organisiert wurde die Aktion vom Bielefelder Bündnis gegen Rechts. Die komplette Rede ist auf dem Videokanal Youtube im Internet nachzuverfolgen. Das Publikum reagiert mit großem Beifall. Vertreter der Parteien und der zivilgesellschaftlichen Organisationen äußern sich durchweg positiv über die Rede.
Auf sozialen Netzwerken wie Facebook wird die Ansprache über 10.000 Mal geteilt. Durch diese Aktion werden einige türkischstämmige Personen, die zum „alten Establishment“ gezählt werden, auf den Plan gerufen. Es gehen anonyme Beschwerden bei Parteien und Verwaltungen ein. Diese stehen jedoch mehrheitlich hinter dem jungen muslimischen Integrationsexperten. Es wird geantwortet, dass Şahinöz Vorsitzender des Dachverandes der Moscheevereine in Bielefeld sei und es selbstverständlich ist, dass er als Repräsentant der 18 Moscheegemeinden spricht. Daraufhin werden türkischsprachige Kolumnen von Şahinöz in Umlauf gebracht. Ihm wird unterstellt, dass er in diesen anders auftritt als in seinen deutschsprachigen Verlautbarungen.
Diesen rufschädigenden Unterstellungen widerspricht der Doktorand und Schriftsteller Şahinöz vehement. Der Autor zahlreicher Bücher und Chefredakteur der Zeitschrift „Ayasofya“, der von den Spitzen der Politik, u.a. durch Bundeskanzlerin Angela Merkel, der Staatsministerin für Migration, Flüchtlinge und Integration, Aydan Özoğuz oder dem Berater Barack Obamas für Islamfragen, Rashad Hussain, empfangen und ausgezeichnet wurde, setzt sich in seinen Kolumnen nachweislich für demokratische Werte, Meinungs- und Pressefreiheit ein. Er ist Gesprächspartner und ein gern gesehener Redner von Politik, Verwaltung, Polizei, Wissenschaft und der Kirche. Seine Popularität lässt sich ebenfalls auf „Wikipedia“ nachlesen.
Allerdings steht der Vater zweier Kinder unter der missgünstigen Beobachtung von Leuten, die in den 1970ern, 1980ern und 1990ern Kontaktpersonen und Ansprechpartner von Teilen der Verwaltung, Justiz, Politik und auch Sicherheitsbehörden waren. In der Türkei verlieren diese Leute derzeit stark an Einfluss. Dennoch sind sie gut vernetzt und straff organisiert. Nicht nur am Bosporus, sondern international.
Radikale Säkularisten waren in der Türkei tonangebend – das wandelt sich nun
Die streng säkulare Türkei war bis vor wenigen Jahren noch religionsdistanziert und kritisch gegenüber jedem Glauben eingestellt, sei es nun Judentum, Christentum, Buddhismus oder Islam. Der Staat sah es gleichsam als seine Pflicht an, Menschen so weit wie möglich ihre religiösen Überzeugungen auszutreiben. Seit etwa fünf bis zehn Jahren hingegen bemüht sich die Türkei ernsthaft um religiöse Toleranz sowie konfessionellen und religiösen Frieden. Das passt dem antireligiösen, laizistischen Establishment ganz und gar nicht. So wurden diese schon in jüngerer Vergangenheit Teil eines Agitationskartells, das gegen christliche Missionare hetzte und jedwede christlich-islamische Dialogbemühungen torpedierte. Sabotiert wurden auch die alevitisch-sunnitische sowie türkisch-kurdische Annäherung.
Die Türkei ist erst seit knapp einem Jahrzehnt auf dem Weg in eine Demokratie nach westlichen Maßstäben. Bis dato hatte das Land viele Bewährungsproben nicht bestanden. Ein Establishment, das die Modernität und seinen originellen Lebensstil für sich pachtete, das sich hinter dem glorreichen Republikgründer Mustafa Kemal versteckte und ihn immer und immer wieder für die eigenen Ziele und Zwecke benutzte, ja missbrauchte, saugte das Land aus, verschaffte sich selbst weitgehende Privilegien und behandelte die Mehrheit der türkischen Bevölkerung wie Menschen zweiter und dritter Klasse.
Diese Minderheit besetzte indessen systematisch die Schaltstellen im Staate: Justiz, Verwaltung, Militär, Staatsbetriebe, Schulverwaltung, Universitäten – alles war in den Händen dieser autoritären Clique. Sie bestimmten durch Verbote, Strafen, Folter und auch Morde, wie und ob die Menschen in der Türkei zu leben hatten. Und jedes Mal, wenn das Volk nach Ende der Einparteiendiktatur 1947 eine Regierung wählte, die dieser antidemokratischen Elite nicht passte, gab es in der Türkei einen Putsch oder Putschversuch.
Tee trinken und weiter für den gesellschaftlichen Frieden, für Gerechtigkeit, Meinungs- und Pressefreiheit streiten
Es sind leider auch Teile dieser destruktiven Kräfte, die derzeit Cemil Şahinöz und andere Autoren mit explizit muslimischer Identität zu verunglimpfen versuchen. Die Antwort von Şahinöz und Kollegen lautet: „Wir setzen Tee auf, trinken diesen und machen da weiter, wo wir aufgehört haben! Wir setzen uns weiter für Demokratie, den gesellschaftlichen Frieden, für Gerechtigkeit, Meinungs- und Pressefreiheit ein.“
Autoreninfo: Yasin Baş ist Politologe, Historiker, Autor und freier Journalist. Zuletzt erschienen seine Bücher: „Islam in Deutschland – Deutscher Islam?” sowie „nach-richten: Muslime in den Medien“.

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Im ungesonderten Netz stößt der Wahn auf fruchtbaren Boden

„Das Wort leitet sich vom griechischen ‘idiotes’ her, das wertfrei bis heute in etwa ‘Privatperson’ bedeutet. Es bezeichnete in der Polis Personen, die sich aus öffentlich-politischen Angelegenheiten heraushielten und keine […]

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Das Übel des Takfirs oder die Gefahr der Ignoranz

(iz). Vor wenigen Monate wurde die Studie eines US-amerikanischen Sicherheitsinstituts [Deadly Vanguards: A Study of al-Qa’ida’s Violence Against Muslims, CTC Publications] veröffentlicht, in der statistisch nachgewiesen wurde, dass die allermeisten Opfer des Terrors seitens extremistischer muslimischer Gruppierungen vor allem Muslime selbst sind.

Aber auch in Deutschland ist diese gefährliche Unsitte leider verbreitet. So erreichen unsere Redaktion manchmal aus diversen Emailverteilern namenlose Emails, die zum Takfir (die Erklärung, dass andere Muslime wegen angeblich falscher Absichten den Islam verlassen hätten) auffordern. Auch wenn solche Fehlgeleiteten keine Grundlage haben, auf der sie argumentieren könnten, verwirren sie gerade unter jüngeren Muslimen die schwächeren Gemüter.

Heutzutage haben einige Unarten um sich gegriffen, die dem Islam schaden können – zur Freude seiner Gegner. Dazu zählt die Behauptung, bestimme Muslime – die nicht die Positionen der entsprechenden Personen teilen – hätten ihren Glauben aufgegeben. Es gibt Aussagen unseres Propheten, möge Allah ihn segnen und ihm Frieden geben, über die Prüfungen unserer Zeit und ihrer Unordnung (arab. Fitna). Wir finden im Sahih von Imam Muslim und anderen Hadith-Meistern prophetische Aussagen, die vom Blutvergießen unter Muslimen in unserer Zeit sprechen.

Zu Beginn muss darauf hingewiesen werden, dass die Praxis des Takfir aus dem letzten Jahrhundert stammt und wir eine Zunahme beobachten. Diese Denunziation ist zu einem Werkzeug der Unwissenden geworden, Missbrauch und Ermordung von Muslimen zu rechtfertigen.

Im größten Teil der muslimischen Geschichte gibt es nur sehr wenige ernsthafte Fälle von Spaltungen. Wir haben unsere ‚Aqida (Glaubenslehre), das islamische Recht (Fiqh oder Schari’a) und Ihsan (Tariqa, Tasawwuf oder Reinigung des Selbst). Die führenden Rechtsgelehrten hegten Zuneigung für einander. Das gleiche galt für die Imame der ‚Aqida und anderer islamischer Wissenschaften. Sie waren eine große Familie, die sich gegenseitig Respekt zollte.

Diejenigen, die Takfir in der muslimischen Welt einführten, haben sich zwischen die Offenbarung und Muslime gestellt. Sie haben die Leute von den Gelehrten getrennt. Jene beschützten die Religion, indem sie sich an den ersten Generationen des Islam ausrichteten. Die Gelehrten vermieden die Beschuldigung eines Muslims, er oder sie hätte den Glauben verlassen. Wir erfahren aus einem Hadith unseres geliebten Propheten, dass wir jene Dinge meiden sollten, die das Leben oder die Gesundheit eines Muslims schädigen könnten.

In seiner „Tabaqat“ schrieb Imam Asch-Scha’rani: „Einmal wurde Schaikh Al-Islam Taqi Ad-Din As-Subki gefragt, ob es notwendig sei, jene zu Nichtmuslimen zu erklären, die [schädliche] Neuerungen in den Islam einbringen und einige Verse des Qur’ans falsch auslegen? Er entgegnete: ‚Ich solltet wissen, dass es für jene, die Allah fürchten, sehr schwierig ist, jemanden des Unglaubens zu beschuldigen, der sagt, dass es keinen Gott gibt außer Allah und dass Muhammad Sein Gesandter ist.'“

Einen Muslim des Unglaubens zu beschuldigen ist eines sehr gefährliche Sache. Die würde bedeuten, dass man ihm sagt: „Du wirst für immer in der Hölle bleiben.“ Tausende nicht des Unglaubens zu beschuldigen und sich darin zu irren, ist besser als im Falle eines einzigen Muslims einen Fehler zu begehen, indem man diesen irrtümlich angreift. Es gibt das folgende Hadith: „Ich ziehe es vor, wenn ein Imam eine Person fälschlicherweise entschuldigt, als wenn er diese fälschlicherweise beschuldigt.“

Imam As-Subki führte dazu weiterhin aus: „Die Regeln des Takfir sind eine sehr komplexe Angelegenheit – mit wenig Klarheit und vielen Zweifeln behaftet. Es gibt dafür viele Richtlinien und Bedingungen. Zuerst einmal ist eine gute Beherrschung des Arabischen, all seiner Dialekte und Ausdrücke in ihrem wörtlichen und übertragenen Sinne nötig. Man muss alle Feinheiten der Wissenschaft des Tauhids und ihrer komplizierten Punkte kennen. Darüber hinaus muss man auch in vielen anderen Wissenschaften zu Hause sein. Dies ist für die meisten Gelehrten unserer Zeit kaum zu leisten, von einfachen Leuten ganz zu schweigen. Wie können diejenigen, die nicht in der Lage sind, ihre Zunge vor jenen Worten zu hüten, die ihren eigenen Glauben schaden, die Religion anderer vor schädlichen Worten beschützen? Uns bleibt nichts anderes übrig, als das Urteil in Sachen Takfir für jenen zu reservieren, welche die beiden Elemente des Glaubensbekenntnisses leugnen; und als Ergebnis den Islam verlassen haben. Jedoch ist dies nur ein seltener Fall.“

Imam As-Subkis Worten legen den Schluss nahe, dass nur die vollkommen Unwissenden und solche, die Allah nicht fürchten, leichthin Muslime zu Ungläubigen erklären. Wenn Takfir zu einer leichten Sache wird, führt dies zu Unruhe, Gewalt, Chaos und üblen Dingen. Dann gibt es keinen Platz mehr für den Islam. Dies ist genau das, was unser geliebter Prophet sagte, als er die Zeit kurz von dem Jüngsten Gericht beschrieb.

Es gibt ein Hadith des Propheten: „Wenn sich zwei Muslime mit ihren Schwertern bekämpfen, gehen sowohl der Mörder als der Ermordete in das Höllenfeuer.“ Da wurde der Gesandte Allahs gefragt: „O Gesandter Allahs, warum muss der Getötete ins Feuer eintreten?“ Der Prophet entgegnete: „Wäre er nicht getötet worden, dann wäre er der Mörder geworden, denn er hatte eine Tötungsabsicht.“

Gelegentlich kommen einige und rufen Ärger hervor. Diese Leute kennen nichts vom Islam außer wenigen Überlieferungen; als würde das heilige Gesetz nur auf drei oder vier Überlieferungen beruhen! Sie ignorieren die anderen qur’anischen Verse und Überlieferungen, die von den Imamen übermittelt wurden sowie ihre Erläuterungen jener Verse und Überlieferungen. Was geschieht, wenn Leute ihre Religion auf wenigen prophetischen Aussagen – die sie selbst auslegen – aufbauen?

Wir sollten uns daran erinnern, wer in der Geschichte Muslime getötet hatte. Wer tötete den zweiten, rechtgeleiteten Khalifen ‚Uthman? Und als was bezeichneten sie sich: Muslime oder Nichtmuslime? Sie behaupteten, sie seien Muslime auf der Suche nach einem guten Herrscher. Jedoch vergaßen sie, dass ‚Uthmans zweiter Name „Dhu’l-Nurain“ war – der Besitzer der beiden Lichter. Der Prophet gab ihm zwei seiner Töchter als Ehefrauen. Erinnerte sich keiner seiner Angreifer, dass ‚Uthman ibn ‚Affan zu jenen Prophetengefährten gehörte, denen der Garten versprochen war? Ihr Hass auf die Wahrheit machte sie blind, führte zu Blutvergießen und schließlich zur Ermordung von ‚Uthman, der sein Leben gab, obwohl er sie hätte zu jedem Zeitpunkt ausschalten können. Ihm standen umfangreiche Mittel zur Verfügung, aber er fürchtete sich davor, das Blut der Gläubigen zu vergießen. Hätte er es den Muslimen befohlen, wären ganze Armeen zu ihm geströmt, aber er lehnte das Vergießen vom Blut der Muslime ab.

Wir wissen von den Büchern der islamischen Geschichte, dass es immer durch Leute mit einem schwachen Iman, einem falschen Verständnis ihrer Religion und einem beschränkten Verstand zu Problemen kam. Ibn Battal erläuterte in einem Kommentar auf ein Hadith aus dem Sahih Al-Bukhari, in dem der Prophet sagte: „Sollten ihr auf dem Weg zum Markt oder zur Moschee einen Pfeil mit euch führen, so haltet ihn an der Pfeilspitze fest.“ Der Sinn dessen sei laut Ibn Battal, dass kein Mensch unbeabsichtigt dabei zu Schaden komme. Was würde der Prophet wohl zur heutigen Lage sagen?

Schaikh ‚Alawi Al-Maliki schrieb in seinem Buch „At-Tahzin min Mudschazat bi’l-Takfir“, dass die großen Gelehrten der Praxis des Takfir immer aus dem Weg gingen. Die Menschen brauchen Erziehung. Ziehen wir wirklich Nutzen aus der Fitna [wörtl. „Versuchung“, Unruhe oder Bürgerkrieg im übertragenen Sinne]? Wir sollten die Leute unterweisen, wie sie beten und fasten. Wir sollten sie lehren, den Propheten, seine Gefährten, die Imame und die Rechtschaffenen zu lieben. Stattdessen lernen die Jüngeren, wie man eine Fitna anfängt. Wäre es nicht besser für jene, die dem Islam helfen wollen, die Menschen darin zu unterweisen, die Schahada [das doppelte Glaubensbekenntnis] auszusprechen, zu beten und richtig zu fasten?

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Autor Roger Willemsen: „Differenzierung schadet dem Absatz“

„Niemand streitet noch gegen Guantanamo, und dass US-Geheimdienste sich zur Folter bekennen, nimmt man achselzuckend zur Kenntnis. Die Höherrangigkeit dieser ‘Wertegemeinschaft’ kann der Westen selbst immer dürftiger begründen.“ (iz). Das […]

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Eine Positionsbestimmung der IZ-Redaktion, um die Debatte nach Pegida und Paris sinnvoll zu ordnen

(iz). Der Islam in Deutschland hat in diesen Tagen ein eindrucksvolles Zeichen gesetzt. Unter Verwahrung gegen jede Form der Kollektivschuld, haben führende Repräsentanten des Islam eine klare Linie gegenüber gewaltbereiten […]

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Definitionsmacht: Interview mit Armin Conrad über Terminologie der rechten APO

(iz). „Die deutsche Sprache generiert immer wieder Begriffe, die perfekte, abstrakte Objektivität darstellen sollen“, meint Armin Conrad von der Gesellschaft für deutsche Sprache (GfdS). Ihn befragten wir zum aktuellen Sprachgebrauch […]

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Hochrangig besetzt: Bericht vom Brandenburger Tor über Kundgebung zu den Pariser Anschlägen

(iz). Etwa 10.000 Menschen kamen am Dienstagabend (13. Januar) in Berlin zusammen um ihre Gesichter zu zeigen und zusammenzustehen, wie der gemeinsame Aufruf der Türkischen Gemeinde zu Berlin (TGB) und des Zentralrats der Muslime (ZMD) lautete. Zahlreiche namenhafte Persönlichkeiten aus Politik, Religion und Gesellschaft zierten die große Bühne vor dem, aus Solidarität mit Frankreich, in den Farben der „tricolore“ beleuchteten Brandenburger Tor.

Neben dem angekündigten Redner Bundespräsident Gauck waren unter anderem ebenso Bundeskanzlerin Merkel, Vizekanzler Gabriel, aber auch Bundespräsident a.D. Wulff anwesend. Geistliche der drei monotheistischen Religionsgemeinschaften Berlins standen geschlossen zusammen, als die Kundgebung mit der Rezitation einiger Qur’anverse und der Übersetzung ihrer Bedeutungen begann. Es ist der ruhigste Moment des Abends, die bunte Masse lauscht gebannt.

Aiman Mazyek, Vorsitzender des Zentralrats der Muslime, moderierte den Abend. Seine Anmoderationen sind verlängerte Redebeiträge. Er zeigt sich erfreut über das zahlreiche Erscheinen und die Symbolkraft der vielfältigen Teilnehmer aus der Hauptstadt. Die Muslime in Deutschland ständen unter dem „Schock der brutalen Terroranschläge“ und zeigten ihre Solidarität mit dem französischen Volk, so Mazyek von der Bühne aus, die direkt im Blickfeld der Französischen Botschaft lag. Er rief auf, die Terroristen mit ihrem Fehlverständnis vom Islam nicht siegen zu lassen.

Als Vertreter der der Deutschen Bischofskonferenz appellierte Berlins Weihbischof Matthias Heinrich an die Religionsgemeinschaften, sich nicht gegeneinander aufbringen zu lassen. Der Vizepräsident des Zentralrats der Juden, Abraham Lehrer, prangerte nur kurz nach ihm einen „Antisemitismus unter vor allem jungen Muslimen“ an. Er erwarte von der muslimischen Welt ein strengeres Vorgehen gegen Terrorismus und Antisemitismus. Das „Gefahrempfinden der Juden“ erklärte er zum Alarmsignal für die europäischen Gesellschaften. Nur einige Meter von ihm entfernt wehen die israelische und die palästinensische Flagge nebeneinander. Während seiner Rede hallt es immer wieder Rufe nach der „Freiheit Palästinas“.

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Der evangelische Bischof Markus Dröge solidarisierte sich offen mit den Muslimen Deutschlands. Es dürfe nicht sein, dass Extremisten mit dem Missbrauch einer Religion Übergriffe auf Moscheen bewirken, mahnte er. Nun sei es besonders wichtig, aufeinander zuzugehen und für gemeinsame Werte einzustehen. Es ist der lauteste Moment des Abends, die bunte Menschenmenge klatscht und jubelt.

Bundespräsident Gauck soll den Abend abschließen. Er zeigt sich angesichts der Pariser Anschläge „schockiert“ und „traurig“. Dennoch dürfe es nicht zu einer Spaltung der Gesellschaft führen. „So, wie wir hier heute zusammenstehen, so wünsche ich mir den Zusammenhalt in der ganzen Gesellschaft“, ermutigt er. „Wir sind alle Deutschland“, fährt er fort. Um gegen die Radikalisierung junger Europäer vorzugehen, sieht er die muslimischen Verbände klar in der Verantwortung. Die drei größten Verbände (DITIB, IGMG und VIKZ) waren zwar nicht die Mitorganisatoren, aber dennoch mit Vertretern anwesend.

In einem symbolischen Ineinanderhaken der Arme durch die Gäste auf der Bühne – um Zusammenhalt zu demonstrieren – wurde der Abend abgeschlossen.

Muslime in Deutschland und Frankreich reagieren mit einhelliger Abscheu und Ablehnung auf den Pariser Anschlag

„Der schreckliche Anschlag von Paris hat uns alle erschüttert. Dieses abscheuliche Verbrechen ist durch nichts zu rechtfertigen. Unser Mitgefühl gilt den Hinterbliebenen der Opfer, den Beteiligten und dem französischen Volk.“ (Ali Kizilkaya)

Paris/Berlin (KNA/iz) Nach dem blutigen Terroranschlag auf das französische Magazin „Charlie Hebdo“ haben Islamvertreter zu Demonstrationen gegen den Terrorismus aufgerufen. Bei einem Krisentreffen zahlreicher Islam-Organisationen am Donnerstag in der großen Moschee von Paris forderten sie alle Muslime Frankreichs auf, beim Freitagsgebet eine Schweigeminute für die Opfer des Terroranschlags abzuhalten. Einer der vier französischen Islamgelehrten, die am Mittwoch zu einer interreligiösen Begegnung mit dem Papst nach Rom gereist waren, rief seine Glaubensbrüder in Frankreich zu Massendemonstrationen auf.

Die unter Federführung des französischen Islamrats CFCM stattfindende Versammlung in Paris erklärte, alle Muslime Frankreichs sollten sich der für Samstag angesetzten nationalen Friedensdemonstration anschließen. Dabei sollten sie ihren Wunsch nach einem friedlichen Zusammenleben und nach Respekt für die Werte des Landes zum Ausdruck bringen.

Mohammed Moussaoui, Vorsitzender der Vereinigungen der Moscheen Frankreichs, betonte laut der französischen Zeitschrift „La Vie“ in Rom, die Ereignisse von Paris verstärkten die Notwendigkeit des Dialogs zwischen den Religionen. Den Terroristen warf er vor, den Islam für ihre Zwecke zu instrumentalisieren.

Trotz mehrfacher Aufrufe von Politikern und Religionsvertretern, Ruhe zu bewahren und keine Racheakte zu verüben, wurden in Frankreich in der Nacht zum Donnerstag mehrere muslimische Einrichtungen angegriffen. Medienberichten zufolge setzte ein Unbekannter am Mittwochabend im südfranzösischen Port-la-Nouvelle mit einer Schrotflinte in einem muslimischen Gebetsraum mehrere Schüsse ab. Da das Gebet bereits beendet und der Saal leer war, wurde niemand verletzt.

Muslime in Deutschland drückten Hinterbliebenen ihr Beileid aus
Binnen 24 Stunden nach dem Anschlag haben die meisten größeren und viele mittlere muslimische Vereinigungen eindeutig auf die Morde in Frankreich reagiert. In einer Pressemitteilung vom Mittwoch, den 7.1.2015, verurteile der amtierende Sprecher des Koordinationsrates der Muslime (KRM), Erol Pürlü vom Verband der Islamischen Kulturzentren (VIKZ), den „feigen Anschlag“ im Namen seines Gremiums. „Terror hat keinen Platz in irgendeiner Religion. Wir verurteilen diesen feigen Akt auf das Schärfste. Unser Beileid und tiefstes Mitgefühl gilt den Hinterbliebenen.“

Auch die einzelnen KRM-Mitglieder gingen am gleichen Tag beziehungsweise am 8.1.2015 an die Öffentlichkeit. Ali Kizilkaya vom Islamrat für die Bundesrepublik Deutschland zeigte sich „erschüttert“. Dieses abscheuliche Verbrechen ist durch nichts zu rechtfertigen. Unser Mitgefühl gilt den Hinterbliebenen der Opfer, den Beteiligten und dem französischen Volk.“ Mit diesem grausamen Akt hätten die Attentäter den Propheten Muhammed und die Religion des Islams verhöhnt und beleidigt.

Der deutsche Moscheen-Dachverband Ditib zeigte sich indes besorgt über eine erhöhte Gefahr für islamische Einrichtungen in Deutschland. Man müsse „damit rechnen, dass Neonazis, Pegida-Aktivisten und Islamhasser diesen schrecklichen Terrorakt zum Anlass nehmen, ihre Angriffe zu vermehren“, sagte der Bundesvorstandssprecher der türkisch-islamischen Organisation, Bekir Alboga, der Katholischen Nachrichten-Agentur (KNA).

Vom größten Islamratsmitgliedsverband, der Islamischen Gemeinschaft Milli Görüs, meldete sich deren Generalsekretär, Mustafa Yeneroğlu, in einer Erklärung zu Wort. Das Ziel solcher Gewalttaten sei ungeachtet deren Quelle „die Zerstörung des gesellschaftlichen Friedens“. Daher sei es wichtig, „dass wir geschlossen auf diese schockierende Tat reagieren, damit die Angreifer ihr Ziel nicht erreichen können“. Dass seine Befürchtungen nicht unbegründet seien, zeigten drei Übergriffe gegen muslimische Einrichtungen in Frankreich seit gestern.

Noch am gleichen Tag verurteilte der Zentralrat der Muslime die Anschläge in Paris. „Es gibt in keiner Religion und keiner Weltanschauung auch nur einen Bruchteil einer Rechtfertigung für solche Taten. Dies ist ein feindlicher und menschenverachtender Akt gegen unsere freie Gesellschaft. Durch diese Tat wurde nicht unser Prophet gerächt, sondern unser Glaube wurde verraten und unsere muslimischen Prinzipien in den Dreck gezogen.“ Es stehe zu befürchten, dass der Anschlag „neues Wasser auf den Mühlen von Extremisten jeglicher Couleur“ sein werde. „Wir rufen alle dazu auf, dem perfiden Plan der Extremisten nicht auf dem Leim zu gehen, die die Gesellschaft spalten.“

Der Kölner Journalist Eren Güvercin zeigt sich schockiert von der Perversität des Anschlags. Für ihn ist es nun umso wichtiger, dass die muslimische Gemeinschaft die Gefahr modernistischer Sekten erkennt und die Frage nach islamischen Inhalten aufarbeitet. Der Münchener Imam Benjamin Idriz verurteilt das Verbrechen scharf und erinnerte an das prophetische Vorbild des Vergebens. Wenn auch mahnte er zum Respekt vor den Gefühlen der Gläubigen aller Religionen. Er stellt fest, dass die Täter weder zu Europa, noch zum Islam gehören.

Über Facebook, Twitter und Instagram initiierte die Islamische Zeitung den Hashtag #VerteidigeDenPropheten, um einem Missbrauch des Propheten Muhammed durch Hass und Gewalt entgegenzuwirken.

Eine IZ-Leserin begrüßte auf Facebook die Haltung der IZ-Redaktion zu den Pariser Vorgängen: „(…) das lässt immer noch hoffen, dass der Nährboden des Extremismus versalzen werden kann, wenn wir mit Vernunft und Besonnenheit auf Eskalationsversuche verirrter Irrer reagieren.“ „Diese Idioten“, beklagte eine Leserin die Taten, „werden jetzt wieder Millionen friedliche Moslems mit tatkräftiger Unterstützung der Medien in den Schmutz ziehen.(…) Hoffe, dass die Vernunft siegt“.

Die IZ-Redaktion wird das Thema im Rahmen ihrer online- und Druckausgabe weiter begleiten. Alle Leser- und AutorInnen sind eingeladen, sich mich konstruktiven Beiträgen und Leserbriefen zu beteiligen. (sw & ak)



Aus gegebenem Anlass – Hintergrund: Antworten auf den zeitgenössischen Nihilismus aus dem muslimischen Denken. Von Abu Bakr Rieger

(iz). Wenn man sich die Frage nach Europa, dem Islam und dem Nihilismus neu stellt, dann ist dies für europäische Muslime nichts anderes als die eigene Frage als Gestalt. Dies gilt natürlich besonders für Europäer, die zum Islam konvertiert sind und heute als europäische Muslime über ihre eigenen Erfahrungen an der denkwürdigen Linie, die den Nihilismus und den Islam trennt, reflektieren.

Ich erinnere mich natürlich auch noch an meine persönliche Situation, die dazu führte, den Nihilismus als meine eigene geistige Haltung zu Gunsten des Islam aufzugeben. Diese „gefährliche Begegnung“ mit europäischen Muslimen geschah zu meiner Studentenzeit in Freiburg.

Ich hatte zu dieser Zeit das Christentum innerlich verlassen. Ich bewunderte Albert Camus; den französischen Schriftsteller mit der Zigarette, und las seinen „Mythos von Sysyphos“. Ich bewunderte damals den Versuch des Existenzialisten, in einer trostlosen und sinnlosen Zeit zumindest „Haltung“ zu bewahren.

Ich war allerdings auch ein wenig irritiert, dass Camus selbst, man könnte sagen „absurderweise“, seinen Tod bei einem merkwürdigen Autounfall fand. Er starb auf einer ewig geraden Landstraße. Sein Reifen war „zufällig“ geplatzt und sein Auto zerschellte an dem einzigen kleinen Bäumchen weit und breit.

Ich erinnere mich an eine Andere, vielsagende „absurde“ Episode in meinen Freiburg Studententagen. Genauer gesagt ging es um einen Vorfall, der die Freiburger Öffentlichkeit empörte und mich doch ein wenig amüsierte. Der prachtvolle Sitz des Freiburger Bischofs wurde mit großem Aufwand frisch gestrichen und erschien in weißem Glanz. Ein unbekannter Anarch schrieb nun an diese weiße Wand „Gott ist tot“. Der Sprayer unterschrieb diesen bösen Satz schlicht mit „Nietzsche“. Die Wand und der grelle Satz wurde natürlich über Nacht eilig weiß überstrichen. In der nächsten Nacht schrieb aber ein anderer Sprayer an gleicher Stelle „Nietzsche ist tot“ und unterschrieb in geschwungener Handschrift mit „Gott“.

Auf die dringliche Frage meines damaligen Gesprächspartners, der mich in langen Gesprächen geduldig in den Islam einführte, woran ich denn selbst glaube, antwortete ich daher wahrheitsgemäß: „An nichts. Ich denke Camus hat Recht. Das Leben ist absurd. Es gibt keinen Gott“.

Die Antwort der europäischen Muslime, mit denen ich zusammensaß, auf diese schienbar provokante Feststellung war souverän! Sie zeigten sich nicht etwa provoziert, lächelten sogar, und klärten mich auf, ich bestätigte ja immerhin bereits den ersten Teil der Schahada. Ich fand so heraus, dass die Feststellung Nietzsches, wonach Gott – im christlichen Sinne – tot sei, philosophisch aus der Sicht dieser Muslime in bestimmter Weise seine Berechtigung habe. Ich staunte! Im Übrigen – so die Muslime weiter – sei die Welt nichts Anderes als eine Art Spiegel, in den man hineinschaue. Was blieb mir übrig, als genauer nachzudenken, wie ich in diesen Spiegel künftig hineinschauen wollte?

Aber kommen wir noch einmal auf Friedrich Nietzsche zurück. Nietzsche, der berühmte Deutsche, der bekanntlich mit dem Hammer philosophierte und der einen gewichtigen Teil des europäischen Denkgebäudes zum Einsturz brachte. Natürlich wollte Nietzsche dabei weder ein gefährliches, neues gottloses Menschenwesen schaffen, noch plump alle Glaubensriten an sich abschaffen.

Nietzsche bewegte vielmehr die Not, den Menschen auf eine neue Welt, auf ein neues Denkgebäude – ohne den bisher gewohnten „christlichen Gott“ – vorzubereiten. Mit anderen Worten: Nietzsche dachte über den Nihilismus nach, ohne selbst einfach nihilistisch zu sein.

Dass es zu kurz fasst, Nietzsche als „Ungläubigen“ abzustempeln, zeigt eine andere Episode seines Denkens. Vor seinem Tode erklärte Nietzsche, er verstehe nicht, warum die Deutschen nicht den Islam statt dem Christentum angenommen hätten. Europa, so Nietzsche polternd, habe zwei Probleme: „Alkohol und Christentum.“ Nietzsches Pessimismus über die geistige Lage Europas gipfelte bekannterweise in dem Satz: „Die Wüste wächst, weh dem, der Wüsten birgt.“ Die Frage nach dem Nichts beschäftigte jedenfalls zunehmend die großen Geister. In einem Brief des Dichters von Kleist an seine Verlobte aus dem Jahre 1801 findet sich eine treffende Beschreibung der persönlichen Erfahrung des Nihilismus dieser Tage.

Kleist beschreibt in diesem Brief die radikale Konsequenz des neuen Denkens, die Relativierung der Möglichkeit jeder Wahrheit: „Wir können nicht entscheiden, ob das, was wir Wahrheit nennen, wahrscheinlich Wahrheit ist, oder ob es uns nur so scheint. Ist das letzte, so ist die Wahrheit die wir hier sammeln, nach dem Tode nicht mehr – und alles Bestreben, ein Eigentum sich zu erwerben, das uns auch in das Grab folgt, ist vergeblich-. Mein einziges, mein höchstes Ziel ist gesunken, und ich hab nun keines mehr-.“

Keine Ziele, Keine Wahrheit – was folgt aus den Worten des jungen begabten Dichters? Geradezu Unglaubliches sollte nun gelten. Statt einer allgemein verbindlichen Wahrheit bleibt dem Menschen nur noch eine Art Subjektivität! Politisch blieb einer ganzen Generation von „jungen Dichtern, ohne objektiven Wahrheiten“ nur der aufkommende Nationalismus, eine aufbrausende Gefühlsregung und gefährliche Selbstüberhöhung zugleich, die Millionen Europäern als künftiger Religionsersatz dienen sollte. Aber nicht nur Gott befand sich in Auflösung, auch das eigene „Ich“ – und damit eigentlich alle überkommenen Vorstellungen von der Ordnung dieser Welt.

Dostojewski stellte nun eine weitere radikale Frage, nämlich die, ob in einer Welt ohne Gott nicht auch alles erlaubt sei? Eine Jahrhundertfrage, die einige Brisanz haben sollte. In der neuen gottlosen Welt standen sich ja plötzlich hochgerüstete, vom Nationalismus beseelte, subjektiv denkende Völker gegenüber. Ohne die gewohnte christliche Moral eine gefährliche und brisante Lage. Einige Jahrzehnte später, im Angesicht des anrollenden 1. Weltkrieges, rief der deutsche Dichter Rainer Maria Rilke erschrocken aus: „Die Erde ist endgültig dem Menschen in die Hände gefallen.“

Die verheerenden Weltkriege und ihre furchtbaren Bilder sind es ja auch, die bis heute der verbreiteten nihilistischen Grundhaltung einiges an Argumenten liefern. Man denke nur an die industrielle Vernichtung von Menschen, den Holocaust und die Atombomben. Hannah Arendt kommentierte angesichts Ausschwitz und dessen andauernden Folgen für den Humanismus nur: „Dies hätte nicht passieren dürfen“.

Die Gründe für eine mögliche nihilistische Haltung sind wahrlich nicht ausgegangen, stehen wir doch alle in der Not, nicht zu wissen, was der Mensch angesichts von Leid und Umweltzerstörung überhaupt noch ausrichten kann. Die moderne Technik ist nach Heidegger aber nichts anderes als ein gewaltiges „Herausfordern“ der Schöpfung. Wir erleben dieses „Herausfordern“ – man erinnere sich nur an das Öl-Debakel im Golf von Mexiko – beinahe alltäglich. Alle Katastrophen lehren uns, dass, obwohl wir wissen, wir nicht handeln können! Uns scheinen sprichwörtlich die Hände gebunden!

Gerade die aktuelle Finanzkrise zeigt dabei die fragwürdige Rolle der politischen Souveränität. Weder Nationen noch Parteien scheinen noch die Macht zu haben, wie wir heute sehen, die globale Kraft der Finanzökonomie substanziell zurückzuweisen. Schlimmer noch: Jedem Widerstand – wie der Anti-Globalisierungsbewegung – droht der „Spirit“ auszugehen. Jeder, ob allein oder in Gruppen, der versucht, mit einigem Idealismus sich der „Wüste“ entegenzustellen, droht der „Spirit“, die nötige Geisteskraft auszugehen. Ist das etwa die geheimnisvolle, lähmende Kraft des Nihilismus, die uns jederzeit ergreifen kann? Schon im postmodernen Deutschland stritten sich der Philosoph Martin Heidegger und der Schriftsteller Ernst Jünger über die Folgen des Nihilismus. Sie diskutierten die alten, neuen Fragen unserer Zeit: Kann man noch gegen den Nihilismus handeln; und wenn ja, wo, wer und wie?

Was Jünger als Aktion gegen den Nihilismus vorschlug, war eine Art heldenhafter individueller Widerstand, eine Art extreme Auseinandersetzung mit dem Nichts, das dann, so Jünger, „nach seiner Überwindung jene Schätze freisetzen wird, die es ehemals verborgen hielt“. Jünger sah also durchaus Grund für Optimismus. In seiner berühmten Schrift „Über die Linie“ schrieb Jünger: „Die metaphysische Beunruhigung der Massen, das Auftauchen der Einzelwissenschaften aus dem kopernikanischen Raum und das Auftreten von theologischen Themen in der Weltliteratur, sind Positiva hohen Ranges, die man einer rein pessimistischen oder auf Untergang gerichteten Lagebeurteilung mit Recht entgegenhalten kann“.

Aber natürlich wusste auch Jünger, dass der Nihilismus nicht einfach mit ein wenig „gutem Willen“ überwunden werden kann. Auch Jünger sah, dass es dazu mehr brauchte als „nur“ eine menschliche Entscheidung oder eine schlichte Ideologie. Den Menschen kann überhaupt nur noch – wie es Heidegger später mysteriös im „Spiegel“-Interview formulierte – ein „Gott“ retten. Ein Gott? Was meint aber das Wort „Gott“ für den Nietzsche-Verehrer Heidegger? Nur so viel ist gewiss: Heidegger, insofern radikaler denkend als Jünger, setzte den vollendeten Nihilismus, die vollkommene Seinsvergessenheit mit der vollständigen Entmachtung der Subjektivität gleich!

Heidegger fasste dieses Dilemma in einem Briefwechsel mit Kästner so: „Kein menschliches Rechnen und Machen kann von sich aus und durch sich allein eine Wende des gegenwärtigen Weltzustandes bringen; schon deshalb nicht, weil die menschliche Machenschaft von diesem Weltzustand geprägt und ihm verfallen ist. Wie soll sie dann je noch seiner Herr werden?“

Die Werke Jüngers und Heideggers fassten aber immerhin einige wesentlichen Voraussetzungen für einen neuen Anfang und ein neues Denken. Man könnte diese so zusammenfassen: Ein neues Denken kann nicht im alten Subjekt-Objekt-Verhältnis denken. Nötig ist kein blinder Aktionismus, sondern das Überdenken der europäischen Geistesgeschichte – und, als eine Komponente jenseits des menschlichen Willens: Es braucht hierzu natürlich ein gutes Schicksal.

Hier nun taucht auch der Islam am Denkhorizont auf. Weist der Islam den Europäern etwa einen Weg aus dem Nihilismus und wenn ja, mit welcher denkerischen Berechtigung?

Zweifellos ist es die islamische Lebenspraxis selbst, die das Dasein zu ganz neuen, fundamentalen Wahrnehmungen führt. Im Kern dieser Wahrnehmung, jenseits von Subjekt und Objekt, jenseits von Ich und Gott, steht ein denkwürdiger Satz Ibn Al-Arabis: „Allah regiert die Schöpfung aus sich selbst heraus.“

Wie kommen wir an diesen Ort, der jenseits von „Innen“ und „Außen“ liegt und sich nicht finden lässt, wenn man sich als ein Gegenüber eines Gottes versteht? Imam Al-Dschunaid sagte über diesen denkwürdigen geistigen Vorgang, der so schwer in Sprache zu fassen ist: „Tasawwuf ist, dass du mit Allah bist ohne Verbindung, und dass Seine Wahrheit dein Ich verschwinden lässt und dann dich mit Ihm zurück zum Leben bringt“.

Bedenken wir aus dieser neuen Sicht heraus nochmals die Lebenspraxis des Islam. Die aufregende Frage ist dabei: Steht diese Praxis tatsächlich im Widerspruch zu den Einsichten der europäischen Philosophie? Hier muss man sich nochmals die Fünf Säulen des Islam vergegenwärtigen.

Da ist zunächst die Schahada, die, wie ich bereits erwähnt hatte, in ihrem ersten Teil die Verneinung der christlichen Metaphysik umschließt. Das Glaubensbekenntnis bestätigt die absolute Einheit und verneint – im Gegensatz zum Christentum – die Möglichkeit der Trinität.

Aus ihr folgt, das Gebet, das eine völlig neue Wahrnehmungsebene eröffnet. Das Gebet beginnt mit Feststellung, dass Allah nicht nur groß, sondern größer ist! Uns eröffnet sich eine dynamische, nie ganz zu fassende Wirklichkeit.

Wir erfahren auf der Hadsch die Subs­tanz der menschlichen Existenz, herausgelöst aus den Gegensätzen von Raum und Zeit, Vergangenheit und Zukunft, ein Kreisen, die Auflösung der Gegensätze, das Ende der Dialektik von Raum und Zeit. Die Zahlung der Zakat, zu der wir verpflichtet sind, nötigt uns auf, „Dinare“ beziehungsweise echtes Geld zu drucken, um dieser Verpflichtung nachzukommen. Das Verbot der Zinsnahme, das uns Allah befiehlt, eröffnet uns die Möglichkeit einer neuen gerechten Wirtschaft! Und schlussendlich: Das offenbarte Konzept einer funktionierenden ökonomischen Ordnung eröffnet die Möglichkeit eines neuen Nomos.

Im Monat des Ramadan, dem wir mit Freude entgegensehen, erleben wir die Möglichkeit der Freiheit und das Zutrauen in die versprochene Versorgung.

Ist es also diese Lebenspraxis des Islam, die den Nihilismus überwindet? Das wird natürlich nicht heißen können, dass die alltägliche Auseinandersetzung mit dem Nihilismus für uns Muslime nicht mehr zu spüren wäre und dass man vor nihilistischen Zuständen als Muslim immer sicher wäre. Der Nihilismus ist tatsächlich ein so mächtiger Gegner, dass man ihm nicht alleine und ohne Hilfsmittel gegenübertreten kann. Im Islam und der Sunna des Propheten finden sich die Grundlagen für ein Miteinandersein, für die Erfahrung der Einheit und eine Sammlung von Handlungsanweisungen, die im Zusammenspiel an den Ort jenseits des Nihilismus führt.

In der Offenbarung des Qur’ans ist diese Botschaft einstimmig und eindeutig zusammengefasst. Sie steht der Offenbarungsform der Technologie, also der Vieldeutigkeit und Vielstimmigkeit des Internet gegenüber. In der Rezitation des Qur’ans, in der Feier der Sprache, wurzelt auch das Gegengift gegen die Stimmung der Langeweile und Lähmung, die sich im Nihilismus notwendigerweise breit macht.

Rainer Maria Rilke – der bis sehr nahe an das Tor des Islam rückte, dichtete unter dem Eindruck des europäischen Nihilismus: „Wer jetzt kein Haus hat, baut sich keines mehr. Wer jetzt allein ist, wird es lange bleiben“.