11 Jahre 9/11: „IZ-Begegnung“ mit Paul Schreyer über Hintergründe und Erkenntnismethoden

(iz). Jüngst jährte sich zum elften Mal der Jahrestag des 11. September 2001. Zu sehr wurde das offizi­elle Bild und seine Deutung im Bewusstsein der Menschen verankert, als dass eine Akzeptanz von alternativen Sichtweisen noch als möglich erscheint. Jenseits abstrak­ter historischer Rückbetrachtungen wirft das Desinteresse so genannter „Qualitätsmedien“ an einer ernstzunehmen­den Aufklärung der Hintergründe dieser Angriffe nicht nur ein fragwürdiges Licht auf den medialen Betrieb. Ereignisse in Folge von 9/11 und die globalen Folgen machen eine lückenlose Aufklärung nötig, um nicht weiteren Hypothesen Nahrung zu geben.

Über Kritikpunkte an der offiziellen Hypothese zu 9/11, Unstimmigkeiten, mutmaßliche Insidergeschäfte und dem Unterschied zwischen Paranoia und realen Machenschaften sprachen wir mit dem Publizisten Paul Schreyer. Paul Schreyer, geboren 1977, ist freier Journalist für die Magazine „telepolis“, „Hintergrund“ und „Ossietzky“ sowie Autor des Buches „Insider 9/11 – Neue Fakten und Hintergründe zehn Jahre danach“. Er betreibt die Webseite www.911-facts.info.

Islamische Zeitung: Lieber Herr Schreyer, jüngst jährte sich der 11. Jahrestag der Anschläge vom 11. September 2001 in den USA. Sie kritisier­ten in einem Artikel für das online-Magazin „telepolis“ eine „Denkblockade“ bei Journalisten und Autoren. Könnten Sie Ihre Erfahrungen einmal kurz nachzeichnen?

Paul Schreyer: Es ist immer noch vergleichsweise wenig bekannt, dass in den Tagen kurz vor 9/11 an den Börsen mutmaßliche Insidergeschäfte zu beobachten waren. Damals wurde massiv auf ­fallende Kurse von Unternehmen ­ge­wettet, die von den Anschlägen später betroffen waren – ein Indiz für Vorwissen. Kurz nach dem 11. September war das auch für einige Tage ein Thema, das sehr ernsthaft international diskutiert wurde, zum Beispiel auch vom damaligen Chef der Deutschen Bundesbank. Dann verschwand die Story wieder aus den Medien.

Die amerikanische Börsenaufsicht SEC untersuchte die Vorwürfe, veröffentlichte aber nie ihre Ergebnisse. Und die offizielle 9/11-Untersuchungskommission erklärte den mutmaßlichen Insiderhandel später schlicht für Zufall. 2011 nun haben Finanzwissenschaftler der Univer­sität Zürich eine Studie vorgelegt, die anhand der Auswertung der realen Banktransaktionsdaten ganz im Gegenteil einen Insiderhandel nahelegt. Doch bis auf eine französische Finanzzeitung berichtete kein Mainstream-Journalist darüber. Das hat mich stutzig gemacht und ich habe einige meiner Kollegen, etwa vom ZDF und vom SPIEGEL, darauf angesprochen. Doch niemand wollte sich äußern, oder gar Stellung beziehen. Ein ehemaliger Ressortchef einer großen deutschen Tageszeitung sagte mir schlicht, er glaube das nicht. Dieses Verhalten habe ich als „9/11-Denkblockade“ bezeichnet.

Islamische Zeitung: Um einmal polemisch zu fragen, ist es – soweit es die historischen Folgen und die Tiefenwirkung der Anschläge betrifft – von Relevanz, ob die offizielle Hypothese zutrifft oder eine alternative? Die geopolitischen Veränderungen sind eingetroffen und die militärischen Konflikte sind geführt worden…

Paul Schreyer: Das ist richtig. Aber es gibt einen tiefer liegenden Aspekt. Die Nichtaufklärung eines so gravierenden Ereignisses wie 9/11 führt zu einer anhal­tenden Verunsicherung und einem allge­meinen Vertrauensverlust in die Politik.

In den USA konnte man das schon einmal nach dem Kennedy-Mord 1963 beobachten. Mit jedem Jahr das verging, ohne dass der Mord am Präsidenten aufgeklärt wurde, verloren mehr Bürger ihr grundlegendes Vertrauen in die Regierung und das Funktionieren des Staates. Darin liegt meiner Überzeugung nach die tiefere Relevanz. Die Alternativen zum Bemühen um Aufklärung sind Resignation und Zynismus.

Islamische Zeitung: Eine der am häufigsten gestellten Fragen in Sachen Konspiration ist „Wem nützt es?“. Wem die Ereignisse „genutzt“ haben, liegt ja eigentlich offen zu Tage. Oder ist das zu simpel gedacht?

Paul Schreyer: Derjenige, dem ein Verbrechen nutzt, muss ­logischerweise nicht automatisch der Täter sein. Aber es wäre auch absurd, ihn aus dem Kreis der Verdächtigen von vornherein ­auszuschließen.

Islamische Zeitung: Jemand meinte einmal, dass Bücher und Untersuchungen, die sich mit den Ursachen von 9/11 befassen – und die zu ­anderen Deutungen als der üblichen gelangen – Jahre zu spät kommen, weil die dominante Erklärung und die sie beglei­tende Bildersprache – Bin Laden und Al Qaida als „Ikonen“ des Bösen ­sowie die Notwendigkeit des „Krieges gegen den Terror“ – längst im kollektiven Unterbewusstsein verankert sind. Wie würden Sie dem als investigativer Autor, der hierzu recherchiert hat, begegnen wollen? 

Paul Schreyer: Mit den Fakten. So einfach und auch so schwer. Denn es ist in der Tat schwer, Menschen zu erreichen, die überzeugt sind, bereits alles über 9/11 zu wissen. Trotzdem geht Aufklärung natürlich nur mit Fakten. Fakten, über deren Richtigkeit in einer öffentlichen Debatte der Konsens gesucht werden sollte.

Islamische Zeitung: Was sind die wichtigsten Entgegnungen des media­len und akademischen Mainstreams auf alternative Erklärungen zu den Anschlägen vom 11. September 2001 und wie würden Sie ihnen antworten?

Paul Schreyer: Sofern ein Mainstream-Journalist sich mit alternativen Theorien zu 9/11 überhaupt auseinandersetzt, was selten genug geschieht, dann meist nicht von einem offenen Standpunkt aus, sondern in der Regel von der Position, dass ein Inside-Job – also die Verwicklung der eigenen Regierung – von vornherein als unvorstellbar und damit unmöglich betrachtet wird.

Darauf antworten kann man mit den leider zahlreichen historischen ­Beispielen für geplanten oder auch ausgeführten Staatsterrorismus – die „Strategie der Spannung“, „Gladio“, „Operation North­woods“ usw. Die Debatte wird oft in den Bereich des Glaubens verlagert. „Das glaube ich nicht“ oder „das kann ich mir einfach nicht vorstellen“ hört man dann. Dabei sollte es bei der Aufklärung eines Verbrechens selbstverständlich nie um persönliche Überzeugungen gehen, denn die sind so beschränkt wie die eigenen Erfahrungen und das eigene Wissen. Es sollte immer nur um überprüfbare ­Fakten gehen.

Islamische Zeitung: Lieber Herr Schreyer, welche Elemente der offiziel­len Hypothese sind für Sie am ehesten angreifbar und in Frage zu stellen?

Paul Schreyer: Zunächst der ungeklärte Einsturz der Türme, besonders der von Gebäude 7, dem dritten Turm, der überhaupt nicht von einem Flugzeug getroffen wurde. Dann die Namen der 19 angeblichen Flugzeugentführer. Nach Auskunft der Ermittler war die Liste dieser Namen ganz schnell da, nur wenige Stunden nach den Anschlägen. Aber mit dieser Liste stimmt so einiges nicht. ­Viele der Identitäten sind unklar. Weiterhin die These, dass diese jungen Araber die Jets auch tatsächlich ins World Trade Center und das Pentagon gelenkt haben. Was man auf den Videos oft nicht wahrnimmt: Die Maschinen waren unglaublich schnell. Die Boeing, die in den Südturm crashte, flog direkt vor dem Aufprall zum Beispiel wahnwitzige 900 km/h, dazu in einer präzisen Kurve, die wenige Sekunden vor dem Einschlag nachjustiert wurde. Wäre nur Sekunden­bruchteile früher oder später nachjustiert worden und hätte sich das Flugzeug ­dabei nur um 5 Grad mehr oder weniger geneigt, hätte es sein Ziel verfehlt, wie Analysen des Flugverlaufs zeigen. Das sind Fähigkeiten, die ans Übermenschliche grenzen. Kaum ein Kampfpilot wäre dazu in der Lage; geschweige denn jemand, der gerade Cessna fliegen gelernt hat. Nicht anders ist es bei der Maschine, die ins Pentagon einschlug. Sie ­wendete exakt in einem Radarloch, flog vor Washington eine enge 330-Grad Kurve bei gleichzeitigem steilen Sinkflug, um sodann mit Höchstgeschwindigkeit zwei Meter über dem Boden in das Gebäude einzuschlagen – übrigens genau in die Seite, deren Wände kurz zuvor bei Reno­vierungsarbeiten verstärkt worden ­waren, um besser einem Terroranschlag standzuhalten. Diese Flugmanöver zeigen eine maschinenhafte Präzision, die an eine Fernsteuerung denken lässt – was technisch im Jahr 2001 zumindest möglich gewesen wäre. Dann das Scheitern der Luftabwehr. Kein Kampfjet erreichte auch nur eines der entführten ­Flugzeuge. Diese letzte Frage ist Kernpunkt ­meiner eigenen Recherchen. Und interessanterweise hat ja auch die amtliche „9/11 Commission“ zugegeben, beim Thema Luftabwehr von den Militärs massiv belo­gen worden zu sein.

Islamische Zeitung: Glauben Sie, dass sich im Laufe der Zeit noch andere Hypothesen zu 9/11 werden durchsetzen können, oder ist die ­dominante Erklärung für lange Zeit festgeschrieben?

Paul Schreyer: Ich denke, dass die Vorherrschaft der offiziellen Theorie von der Glaubwürdigkeit ihrer Vertreter abhängt. Je mehr die Glaubwürdigkeit der US-Regierung und der herrschenden Eliten allgemein leidet – Stichworte: Afgha­nistan, Irakkrieg, aber auch die Finanzkrise –, umso mehr Bereitschaft wird es auch geben, kritisches Denken zu 9/11 zuzulassen. Es hat vielleicht auch etwas mit der Souveränität des Landes zu tun, in dem die Debatte geführt wird. Ich meine zu beobachten, dass zum Beispiel in der Schweiz oder in Kanada offener diskutiert wird, als etwa in Deutschland.

Islamische Zeitung: Das Begehren respektabler technischer Experten und unverdächtiger Politiker und Journalisten, die beispielsweise in den USA eine wirklich unabhängige Untersuchung forderten, wurde oft mit dem knappen Verweis auf eine vermeintliche „Verschwörungstheorie“ zurückgewiesen. Dient die Etikettierung als „Verschwörungstheorie“ dazu, ernsthafte Debatten zu unterbinden?

Paul Schreyer: Das ist sicher richtig. Das Wort ist zu einem Kampfbegriff geworden. Verschwörungstheorien sind ja nichts weiter als Vermutungen über Verschwörungen, die wiederum ein Teil unseres Alltags sind. Es ist daher proble­ma­tisch, dass der Begriff „Verschwörungstheorie“ fast ausschließlich synonym mit „paranoider Unsinn“ verwendet wird. Eine solche Definition ist offensichtlich eine sprachliche Verfälschung. Allerdings eine, die gerne und oft dazu benutzt wird, die Untersuchung von Staatsterrorismus pauschal als absurd zu diskreditieren. So wird eine notwendige Debatte von vornherein abgewürgt. Bislang leider sehr erfolgreich, da viele Menschen den Begriff nicht hinterfragen.

Islamische Zeitung: Wie lässt sich für einen Laien eine ernsthafte Hypo­these von einer Verschwörungstheorie unterscheiden?

Paul Schreyer: Verschwörungstheorien und Hypothesen ganz allgemein sind Konstruktionen der Wirklichkeit, die entstehen, wenn es an Transparenz mangelt. Ob sie berechtigt sind oder eher zweifelhaft, ist oft nicht auf den ersten Blick zu erkennen. Generell kann man aber sagen, dass zweifelhafte Verschwörungstheorien die Dinge meist einfacher darstellen als sie sind, dass sie Widersprüche ausblenden und Feindbilder befördern. Bedenkenswerte Verschwörungstheorien geben auf der anderen ­Seite oft keine fertigen Lösungen vor. Und sie sind falsifizierbar – durch reale Ermittlungen.

Islamische Zeitung: Lieber Herr Schreyer, wir danken für das Gespräch.

Nach Assad: Rupert Neudeck berichtet von seinen ersten Eindrücken aus der humanitären Arbeit im syrischen Azaz

„Warum, frage ich mich die ganze Woche in Azaz, macht sich 2012 nicht das junge Europa auf den Weg nach Syrien, wie es das 1936 nach Spanien aus allen Ländern Europas tat, um dort den Faschismus zu bekämpfen?“

Azaz, Sept. 2012 (iz). „Welcome to free Syria“, heißt es enthusiastisch an der türkisch-syrischen Grenze. Und der neue Staat soll so schnell entstehen, dass man keine Zeit hatte, Leute aus der Etappe zu besorgen, die ordentlich Englisch gelernt haben in einem Land, in dem lange Zeit das Französische bevorzugt wurde. Immerhin war Syrien zwischen den Weltkriegen französisches Mandatsgebiet.

So leuchtet uns das große Plakat hinter den langen türkischen Immigrations- und Zollgrenzbefestigungen entgegen, auf dem es heißt: „Free SYRIA REPABLIC“. Und auf dem nächsten riesengroßen Plakat in lateinischen Lettern, die in dem arabischsprachigen Syrien nicht die Regel sind, steht es in ähnlich großen Buchstaben „Welcome in SAFTY“.

Das mindert nicht die bebend freundliche Atmosphäre, die den seltenen Besuchern am ersten Übergang entgegenschlägt, der von der FSA, der Free Syrian Arm (Freie Syrische Armee), erobert wurde. Die Spuren der Kämpfe um dieses weitläufige – und als Übergang zum wohl wichtigsten unmittelbaren Nachbarland Syriens strategisch wichtige Areal – sind noch zu spüren.

Ganz sympathisch hört die neue syrische Widerstands-Bewegung nicht zu stark auf die westlichen Anforderungen, die ja viel Verlegenheit verbergen. Verlegenheit darüber, dass alles in der Syrienpolitik zwischen Washington und Jerusalem abgemacht wurde. Die Rolle von Russland und China ist dabei nicht so groß, wie uns weisgemacht wurde, denn natürlich spielt die israelische Politik auf der Klaviatur der alten Diktatoren-Kumpanei.

Es gibt mittlerweile eine Kommandostruktur der FSA-Einheiten, die von acht Leuten aus dem syrischen Widerstand gebildet wird und jetzt die Operation in und von Aleppo aus leitet. Die Opposition versucht jetzt auch, einen zivilen Widerstand und eine Übergangsverwaltung aufzubauen. Ausdrücklich zivile Personen leiten das politische Büro der FSA in Azaz und den Zoll- und Pass-Übergang nach Kilis in die Türkei. Die Stimmung und Freude in der Stadt Azaz ist einzigartig. Jeder zeigt sich freundlich, jeder ist ein Redner, es herrscht Revolution und Befreiungsstimmung. Jeder von denen, die geblieben sind – nach unserer Schätzung 60 Prozent –, hält sich zu Recht für einen Teilhaber der Gründung des freien Syriens.

Es ist eine Revolution der jungen Leute in einer Gesellschaft, in der immer noch die Alten, die Großväter das Sagen hatten. Erkennbar wird dies in der Klinik in der Stadtmitte von Azaz, die typischerweise von einem Tausendsassa geleitet wird, dem Anästhesie-Krankenpfleger Dr. Anas Hiraki. Akademisch ist Anas natürlich kein Doktor, aber hier ist er mehr als ein Doktor. Er ist nicht nur in Azaz geblieben, er schläft jede Nacht im Krankenhaus. Seine Familie lebt und überlebt in Deraa, der Hauptstadt der Revolution, von der sie am 17. März 2011 ausging. Würde man Dr. Anas als Kandidaten zum ersten Präsidenten der freien arabischen Republik Syrien vorschlagen, er würde gewählt. Gläubig, aber nicht extrem, fastet er am 6. September (Donnerstag) für den Sieg in Aleppo. Und siehe da, der Samstag, der 8. September beginnt mit der Nachricht, die alle ganz glücklich macht: Die FSA hat in Aleppo die größte Kaserne eingenommen mit einem riesigen Arsenal an Waffen.

Eine heftige Stehauf-Mentalität hat Azaz ergriffen. Noch ist hier nichts entschieden, wie in Syrien nichts entschieden ist, aber alle nehmen diese Entscheidung schon vorweg. Geschäftsbesitzer rühren den Zement an, um ihr zerstörtes Geschäftshaus wiederaufzubauen. Photos auf der Strasse von dem strahlenden jungen Bashar al-Assad werden wütend zertrampelt. Es ist noch alles in der Schwebe: Sieben Kilometer von Azaz entfernt hält die Regierung den Hubschrauber-Flugplatz, der aber nur noch aus der Luft versorgt werden kann. Er ist umzingelt von Kämpfern der FSA, die aber den Ring nicht zuschnüren können; dafür fehlen ihnen die schweren Waffen.

Es ist möglich, dass die Assad-Propaganda gleich zwei dicke Nachrichten bis in unsere Medien hinein hat streuen können, die bei uns bereitwillig aufgegriffen wurden, ohne dass sie eine Grundlage in der Realität hätten. Die ausländischen Truppen, die sich hier einfinden sollen, suchen wir vergebens. Wir finden nicht einen. Dagegen verfügt der Kommandeur der FSA-Einheiten kaum über die schweren Waffen, die ihm angeblich aus der Türkei, Saudi Arabien, Qatar oder vom CIA bereitwillig gegeben worden seien. Der FSA-Kommandeur Abu Ibrahim hat mit seinen 1.500 Kämpfern – davon 85 Prozent aus den zivilen Rängen der Bevölkerung – nur jene Waffen, die die Freie Syrische Armee der Regierungsarmee gestohlen oder weggenommen hat.

Man kann mit dem eindrucksvollen Kommandeur Abu Ibrahim über alles reden. Wie viele Soldaten hat er bisher verloren? 41, sagt er ganz traurig, und alle 41 habe er vor seinen Augen fallen gesehen. Bereitwillig sagt er auf die Frage, wie gefährlich für ihn das Leben ist: Auf seinen Kopf sei die Summe von umgerechnet drei Millionen Euro ausgesetzt worden. Ja, räumt er ein, es gäbe Dschihadisten, die seien aber eine kleine Minderheit von fünf Prozent und man würde auf sie einwirken, weil niemand ihre Politik mitmachen wolle.

Mit den Kurden zieht man ebenfalls eine neue Linie: Sie sind beim Befreiungskampf willkommen, aber nur, wenn sie Syrien-zentiert sind, und nicht, wenn sie eine türkische Agenda haben. Mit der PKK hat man nichts am Hut, die wurde von Assad als letzte Reserve des Regimes ausgerüstet. Und sie stört auch die so guten Beziehungen zur Türkei. Deshalb sind die Fragen über das künftige Verhältnis zu den Kurden noch offen. Die Kurden selbst haben elf verschiedene Gruppierungen. Nach Meinung von Kommandeur Abu Ibrahim sollten sie sich selbst erst mal richtig einigen.

Die vergleichsweise kluge Politik der Türkei wurde bisher nicht ausreichend gewürdigt. Nicht nur, dass bisher fast alle Flüchtlinge aufgenommen worden sind, es wird auch jetzt die Grenze für humanitäre Transporte geöffnet. Die türkische Hilfsorganisation IHH versorgt die mittlerweile 5.000 Flüchtlinge auf der syrischen Seite der Grenze.

Warum, frage ich mich die ganze Woche in Azaz, macht sich 2012 das junge Europa nicht auf den Weg nach Syrien, wie es das 1936 nach Spanien aus allen Ländern Europas tat, um dort den Faschismus zu bekämpfen? Unter den heutigen Bedingungen der Mobilität, von Facebook und von Flugverkehr müsste das alles viel leichter sein als zu Zeiten George Orwells und Willy Brandts. Sind wir alle Waschlappen geworden? Haben wir keine Phantasie mehr? Was, wenn morgen 200, übermorgen 300, dann die nächste Woche 4.000 junge Europäer mit dem gesamten EU-Parlament, mit jungen Vertretern der Gewerkschaften und der Parteien der Pfadfinder und der Kirchen, der Moschee- und Kirchengemeinden sich aufmachen, nach Syrien gingen, um das Land für die Freiheit und die Zukunft der Menschheit zu retten?

Wenn man heute in Azaz George Orwell und Arthur Koestler liest, wird einem klar, dass daraus nichts wird. Es sind die Versicherungs- und Rückversicherungsregeln, die den jungen Europäern den Weg versperren.

Rechtspopulist Geert Wilders schürt vor Wahl Angst vor der EU. Ein Bericht von Nina Schmedding

Den Haag (KNA). Eingerahmt von Adolf Hitler und dem norwegischen Massenmörder Anders Breivik: So wird der niederländische Rechtspopulist Geert Wilders auf dem Plattencover der kritischen niederländischen Band „Normaal“ abgebildet. Das Album erscheint am Freitag – kurz vor der Wahl einer neuen niederländischen Regierung am 12. September.

Geert Wilders mit der markanten blonden Haartolle und seine islamkritischen Thesen polarisieren und sind seit Jahren Gegenstand von heftigen Debatten in der niederländischen Gesellschaft. Für den aktuellen Wahlkampf hat sich Wilders jetzt einen neuen Zugang zu seinem Lieblingsthema – die Gefahr einer Islamisierung der Niederlande – gesucht: Er schürt bei den Wählern die Angst vor der Europäischen Union. Diese verfolge eine „unniederländische Politik“, die letztlich zum Machtverlust der Niederlande und zu seiner Islamisierung führe.

„Die Niederlande haben kaum noch etwas bei ihrer eigenen Immigrationspolitik mitzureden. Brüssel bestimmt über unsere Grenzen“, heißt es in Wilders Wahlwerbespot. Jeden Tag kämen ganze „Flugzeugladungen chancenloser Ausländer“ in den Niederlanden an. In diesem Zuge nehme auch die Islamisierung der Niederlande immer weiter zu. „Dank der EU, die uns zwingt, die Grenzen offenzuhalten.“ Einzig mögliche Konsequenz für Wilders: Der Austritt aus der EU.

Dass sein Wahlkampf-Video mit rassistischen Bemerkungen gespickt ist, wird in den Niederlanden kaum thematisiert. Vielleicht ist die Abhärtung zu groß: Immerhin leben die Niederländer seit Jahren mit Wilders und seinen islam- und ausländerfeindlichen Bemerkungen, wurden unter anderem im Jahr 2008 mit Wilders Anti-Koran-Film „Fitna“ konfrontiert.

Vielleicht hat es aber auch mit der niederländischen Debattenkultur zu tun. Die Freiheit der Meinungsäußerung – darauf sind viele Niederländer stolz. „Die Mehrheit der Niederländer ist davon überzeugt, dass Religionsfreiheit etwas anderes ist als Respekt vor dem Glauben anderer Bürger. Gott ist keine Rechtsperson im Sinne des Gesetzes und kann deshalb auch nicht beleidigt werden“, erklärt Soziologe Albert Benschop von der Universität Amsterdam die Einstellung vieler Niederländer. Für sie gehe es in jeder Diskussion deshalb auch immer prinzipiell um die Wahrung der Meinungsfreiheit.

Seine Meinung sagt auch Geert Wilders klar und deutlich. Nach dem Mord an dem Filmemacher Theo van Gogh im Jahr 2004, der für seine Islamkritik bekannt war, wurde auch Wilders unter Polizeischutz gestellt, weil er wegen seiner anti-islamischen Reden immer wieder Morddrohungen erhält.

Im aktuellen Wahlprogramm seiner Partei für die Freiheit (PVV) erklärt er unter anderem: „Die Niederlande sind kein islamisches Land und das sollen sie auch nicht werden.“ Deshalb müssten sie nicht nur aus der EU austreten, sondern auch die Beitragszahlungen an die Vereinten Nationen einstellen: Schließlich seien dort auch Länder vertreten, die islamische Gesetze als Ausgangspunkt für Menschenrechte nähmen.

Außerdem solle das rituelle Schlachten in den Niederlanden verboten werden. Eine Forderung, die Wilders nicht nur von muslimischer, sondern auch von jüdischer Seite Ärger einbrachte: So schrieb ihm der israelische Oberrabbiner Jona Metzger einen wütenden Brief, in dem er Wilders aufforderte, diesen Punk aus seinem Wahlprogramm zu entfernen: Sonst wären die Niederlande für Juden kein lebenswertes Land mehr. Eine Kritik, die sich Wilders vermutlich mehr zu Herzen nehmen wird als die Empörung von muslimischer Seite: Denn so sehr sich der ehemalige Katholik Wilders gegen den Islam engagiert, so sehr bekundet er immer wieder öffentlich seine Sympathien für Israel.

Ob Wilders, der am Donnerstag 49 Jahre alt wird, seinen Wahlerfolg von 2010, als die PVV drittstärkste Kraft in der Zweiten Kammer wurde, wiederholen kann, ist offen. In den letzten Umfragen schnitt er nicht allzu gut ab. Bei einer Fernsehdebatte vergangene Woche wählten ihn die Zuschauer aber immerhin auf Platz drei – noch vor den zur Zeit gehypten Sozialisten Emile Roemer, der auf Platz fünf landete.

Dokumentation: Fatwa der Liga libyscher Gelehrter gegen den salafistisch-wahhabitischen Zerstörungswahn

(Übersetzung: iz). In einer Fatwa („Zum Angriff auf ­Moscheen und Mausoleen“) vom 28. August diesen Jahres hat sich die Liga der Libyschen ‘Ulama (islamischen Gelehrten) vehement gegen die Zerstörung von Moscheen und Mausoleen durch gewaltbereite Salafisten/Wahhabiten zur Wehr gesetzt. Im Folgenden dokumentieren wir den Wortlaut der Erklärung in ihrer deutschen Übersetzung:

„Gepriesen sei Allah, der Herr der Welten und Frieden und Segen auf dem Propheten Muhammad, seiner Familie und seinen Gefährten.

Die libysche Revolution, die am 17. Februar des letzten Jahres begann, wurde ursprünglich mit friedlichen Mitteln zur Erlangung rechtmäßiger Ziele betrieben. Trotz der Tatsache, dass die Regierung schamlos libysche Männer ermordete, während sie sexuelle Angriffe auf libysche Frauen durchführte, blieben viele junge Männer zu Haus. [Sie standen] unter dem Einfluss von Gelehrten, die behaupteten, dass die Regierung rechtmäßig sei, und daher sei der Aufstand ein Akt der Rebel­lion gewesen.

Nur, nachdem der Herr den Revolutionären Sieg gewährte, schlossen sich diese Jugendlichen der Auseinandersetzung an und versuchten, sich als ihre Füh­rer in Szene zu setzen. Trotz der Tatsache, dass sie sich bis zu diesem Augenblick (und sogar danach) mit Saadi Gaddafi verbündeten, der die Gründung einer puritanischen Schule für sie in einer der Moscheen von Tripolis finanzierte.

Diese Gruppe hat wiederholt versucht, die Stabilität unseres Landes zu untergraben, um ihre feindlichen Ziele zu errei­chen. Zu diesem Zweck zündete sie Bomben an den Gräbern von Heiligen, zerstörte Orte der Anbetung, brannte religiöse Schulen nieder, plünderte Biblio­theken voller seltener und unbezahlbarer Manuskripte, und entführte und folterte Dutzende jener, deren einziges Verbrechen es war, ihre Fehler zu widerlegen oder ihrer Zerstörung Einhalt zu gebieten, wie dies in Zliten geschah. Dabei handelten radikalere Elemente des Sicherheitsrates als ihre Komplizen.

Diese Verräter wurden von einer Schule inspiriert, die unseren verehrungswür­digen und einheimischen Traditionen gegenüber feindlich eingestellt ist. Eine Denkschule, die aus den fehlerhaftesten Positionen besteht, die im Gegensatz zur Lehre der überwältigenden Mehrheit der Gelehrten steht.

Der Übergriff auf ein Grab und die Exhumierung seiner Bewohner ist eine schwerwiegende Tat im Islam. Der klassische Jurist Malik überlieferte in seiner Muwatta, dass der Prophet, möge Allah ihm Frieden geben, jene verfluchte, die die Gräber anderer öffneten. Ebenso erklärte der Prophet, möge Allah ihm Frieden geben: ‘Das Zerbrechen der Knochen eines toten Muslims ist genauso schwerwiegend wie das Brechen seiner Knochen, wenn er am Leben wäre.’ Und bei der Beerdigung der Ehefrau des Propheten wies Ibn ‘Abbas die Leichenträger an: ‘Wenn ihr die Bahre anhebt, stellt sicher, dass sie nicht hin- und hergeschüt­telt wird, sondern tragt sie mit der größten Vorsicht.’ Es sollte sich von selbst verstehen, dass das Öffnen des Grabes einer Person und seine Detonation umso vieles blasphemischer ist. Diese Abtrünnigen behaupten, dass der Besuch der Gräber von Heiligen gleichbedeutend mit Götzendienst sei. Der Prophet, möge Allah ihm Frieden gewähren, widersprach einer solchen Ansicht: ‘Obwohl ich euch früher verboten habe, die Gräber der Leute zu besuchen, so fühlt euch frei, dies nun zu tun. Denn ihr Besuch ist eine Erinnerung an die eigene Sterblichkeit.’ Ganz abgesehen davon, widerspricht dies [die obige Meinung] der allgemein anerkannten Praxis der muslimischen Gesellschaft seit ihrem frühesten Anfängen. Wenn einige Leute die Heiligen unter Ausschluss Gottes anbeten, dann liegt das an ihrer Unwissenheit und ist in keiner Weise eine Rechtfertigung für die Zerstörung solcher Orte oder die Ermor­dung ihrer Aufseher.

Der libysche Großmufti veröffentlichte jüngst eine Fatwa, welche die Zerstörung einer Moschee neben eines Grabes erlaubte. Diese Fatwa war gleich aus mehreren Gründen unpassend. Zuerst einmal sollte der Mufti genau wissen, dass alle Gräber in Libyen, die bei einer Moschee sind, ausnahmslos vom eigentlichen Gebetsraum getrennt sind. Zweitens baute der Mufti seine Fatwa auf der isolierten Meinung des mittelalterlichen Juristen Ibn Taimija auf, den er als „den großen Weisen das Islam (Schaikh Al-Islam)“ beschrieb. So, als hätte es nicht unzählige andere Gelehrte gegeben, denen dieser Ehrentitel verliehen worden wäre. Es ist Fakt, dass die sehr große Mehrheit der muslimischen Gelehrten kein Problem darin sah, wenn ein Grab neben einer Moschee liegt, wie es in unserer Gesellschaft der Fall ist.

Wie dem auch sei, die große Moschee von Medina enthält nicht nur das Grab unseres Propheten, Allahs Friede sei auf ihm, sondern auch die seiner engsten Gefährten Abu Bakr und ‘Umar. Und kein einziger Muslim aus der Generation des Propheten hat jemals gemeint, man müsste ihre Überreste aus dem Moschee­bereich entfernen oder dass die Moschee verlegt werden sollte. Des Weiteren unterstreicht die Tatsache, dass die Prophetengefährten darüber diskutierten, ob sie den Körper des Propheten, Allahs Friede sei auf ihm, nicht unterhalb seines Minbars beerdigen sollten, die Annehmbarkeit dieser Handlung.

Und der Prophet selbst, Allahs Friede sei auf ihm, befahl, dass ‘ein Prophet dort bestattet werden muss, wo er seinen letzten Atemzug tut’. Und die Dame ­‘Aischa, die sehr kenntnisreich im islamischen Recht war, verrichtete das Gebet neben seinem Grab. Drittens, der Mufti hat der [Rechts-]Meinung der dominanten Rechtsschule hier in Libyen – der malikitischen – widersprochen, selbst wenn er sich ihrer Regeln durch das Fatwa-Recht verschrieb, das er selbst entworfen hatte.

Darauf folgt: Diejenigen, die Zivilisten ermorden und unser Erbe zerstören, sind Abtrünnige, die Allahs Recht herausfordern. Der Islam fordert von uns, ihnen Einhalt zu gebieten und sie für ihre Verbrechen zur Rechenschaft zu ziehen, denn unser Herr hat in der Schrift gesagt: ‘Der Lohn derjenigen, die Krieg führen gegen Allah und Seinen Gesandten und sich bemühen, auf der Erde Unheil zu stiften, ist indessen (der), dass sie allesamt getötet oder gekreuzigt werden, oder dass ihnen Hände und Füße wechselseitig abgehackt werden, oder dass sie aus dem Land verbannt werden. Das ist für sie eine Schande im Diesseits, und im Jenseits gibt es für sie gewaltige Strafe’ (Al-Maida, 33) und ‘wer ist ungerechter, als wer verhindert, dass an Allahs Gebetsstätten Sein Name genannt wird, und sich bemüht, sie zu zerstören? Jene sollen sie nur in Furcht betreten. Für sie gibt es im Diesseits Schande und im Jenseits gewaltige Strafe.’ (Al-Baqara, 114)

Schlussfolgerung: Es ist die Verantwortung der Nationalversammlung und der Übergangsregierung, Maßnahmen zu ergreifen, um diese Abtrünnigen abzuschrecken und sie zur Rechenschaft zu ziehen; wieder aufzubauen, was diese zerstört haben und wieder zu erlangen, was von ihnen gestohlen wurde; aber auch jene im Sicherheitsapparat zur Verantwortung zu ziehen, die ihr Amt verrieten, als sie jenen Kriminellen halfen.

Gleichermaßen ruft die Liga der Liby­schen Gelehrten die geehrte Nationalversammlung und die Übergangsregierung auf, Druck auf die Regierung von Saudi-Arabien auszuüben, ihre Kleriker im Zaum zu halten, welche sich auf folgende Weise in unsere Angelegenheit einmischen: Die Bereitstellung von Intensivkursen für libysche Jugendliche, bei denen diese einer Gehirnwäsche mit extremistischen Ideen unterzogen werden. Wo ihnen gelehrt wird, den saudischen Klerikern die Treue zu schwören, unter Ausschluss ihres Herrn. Die Verteilung von kostenlosen Büchern und Aufnahmen in Libyen, mit denen unsere, ausge­glichenen religiösen Traditionen angegriffen werden. Und die Bombardierung der einfachen Masse mit der ­Propaganda, dass libysche Gelehrte alle wertlos seien und dass ihnen kein Gehör geschenkt werden sollte. Dementsprechend sollte angesichts der augenfälligen Einmischung in unsere inneren Angelegenheiten gegenüber der Arabischen Liga und der Organisation für die Islamische Zusammenarbeit eine formale Beschwerde eingereicht werden.

Die Verletzung der schwerwiegenden Pflicht zur Sicherheit und Stabilität unsere Landes ist eine Pflichtverletzung, wie der Prophet, möge Allah ihm Frieden geben, selbst sagte: ‘Diejenigen, die sich nicht aktiv um das Wohlergehen der muslimischen Gemeinschaft sorgen, sind kein Teil von ihr.’“

Interview mit Ali Aslan Gümüsay, der sich im Zahnräder Netzwerk für die Förderung interessanter Projekte engagiert

(iz). Wie sich in Zukunft, für die muslimische Community relevante Projekte und Talente fördern lassen, gehört zu den spannenden und wichtigen Zukunftsfragen des Islam in Deutschland. Bisherige Modelle scheinen entweder ausgereizt oder lassen sich nicht in jedem Fall zum Erfolg bringen. In der muslimischen Tradition hat sich das islamische Stiftungswesen (die Auqaf) in der langen Geschichte als hochflexibles und sehr erfolgreiches Mittel erwiesen, Aufgaben von gemeinschaftlicher wie gesellschaftlicher Be­deutung zu bewältigen. Das Bewusstsein für diese prophetische Tradition zu wecken und zur Realisierung in Deutsch­land zu bringen, zählt nach Ansicht vieler zu den Essenzialien für die Zukunft. Und es ist ein Modell, über das noch viel mehr diskutiert werden sollte. In Ermangelung desselben und angesichts der Notwendigkeit, auch heute schon Dringendes zu organisieren be­ziehungsweise Talente zu ­unterstützen, suchen andere Muslime nach neuen Wegen, wie sie beispielsweise von ­Teilen der Netzgemeinde bereits heute praktiziert werden. Eine der Möglich­keiten ist das so genannte Crowd-Funding, dass auf der Vorstellung des „Schwarms (Crowd)“ beruht. Hierzu sprachen wir mit Ali Aslan Gümüsay. Gümüsay, der an der renommierten Universität Oxford studiert, engagiert sich im Zahnräder Netzwerk.

Islamische Zeitung: Mit eurem Netzwerk habt ihr euch der Sichtung interessanter und vielversprechender Projekte innerhalb der muslimischen Gemeinschaft gewidmet. Könntest Du uns das Konzept in einigen Sätzen beschreiben?

Ali Aslan Gümüsay: Zahnräder ist ein Sozialer Inkubator für Soziales Unternehmertum. Wir agieren als Plattform für Soziale Innovation, welche Human-, Sozial-, Finanz- und Kulturkapital anbietet, um bei der Gestaltung und Durchführung von Projekten zu unterstützen. Auf unseren Konferenzen sind Teilnehmerinnen und Teilnehmer nicht ­passive Konsumenten, sondern aktive Produzen­ten, die sich gemeinsam gegenseitig ­prägen. Mittlerweile sind über 70 Personen aktiv in den verschiedenen Zahnräder Gruppen dabei – von Presse, Personalwesen, IT, Finanzen bis hin zu den Konferenzorganisationen lokal wie ­bundesweit.

Islamische Zeitung: Wie wichtig sind dabei die relativ neuen Konzept wie Crowd-Sourcing und -Funding?

Ali Aslan Gümüsay: Technologische, kulturelle und intellektuelle Entwicklungen haben die Grenzen von Organisationen verschwimmen lassen. Wertvolles Wissen, Kapital, Kontakte können über neue Kommunikationskanäle und Plattformen leichter zugänglich gemacht werden. Die Crowd dient dadurch als neuartige Quelle von Inspiration, Wissen, Kapital, Netzwerk, Feedback, Motivation und Unterstützung. Wir nutzen verstreute Expertise auf unseren Konferenzen und sprechen von einer Onkel-Doktor-Substitution. Wenn Wissen in Form von Expertise für den einzelnen schwer zugänglich ist, bietet Zahnräder eine Plattform, auf der jeder seine spezi­fische Expertise einbringen kann. Insofern verwenden wir eine Art Crowd-Support.

Islamische Zeitung: Du hattest er­wähnt, dass ihr auch versucht, Projekte finanziell zu fördern. Wäre das Crowd-Funding zukünftig eine Option für euch und welche Chancen ­siehst Du dafür innerhalb der deutschen Community?

Ali Aslan Gümüsay: Wir bieten Ge­winnern unserer Konferenzen Mentoring und Fördergelder. So haben wir in den vergangenen Jahren jeweils 4.500 Euro an Preisgeldern auf der bundesweiten Konferenz vergeben. Hinzu kommen Preisgelder auf lokalen ZahnräderX Veranstaltungen. Zahnräder ist von Muslimen für die Gesellschaft. Viele Projekte, die vorgestellt und verwirklicht werden, wie zum Beispiel StudyCoach, eine Studienberatung für Menschen mit Migrationshintergrund, sind eine wertvolle Bereicherung für unsere Gesellschaft. Wir möchten in der Tat die Gesellschaft mehr in unseren Aktivitäten einbinden. Daher sind wir vor einigen Wochen eine Partnerschaft mit Ashoka eingegan­gen und werden so genannte Change­shops nutzen, um so Projekte näher an die Gesellschaft und damit „unterstützbarer“ durch die Gesellschaft zu machen. Projekte öffnen sich damit und bieten Zugangspunkte der Unterstützung durch die so genannte Crowd.

Islamische Zeitung: Dieses und andere Konzepte setzen auf die Intelligenz der vernetzten Masse, von manchen auch als „Schwarm“ bezeichnet. Fühlt sich das Zahnräder Netzwerk von solchen Vorstellungen angezogen?

Ali Aslan Gümüsay: Wir glauben, dass wir gemeinsam die Gesellschaft prägen können und das jeder seinen Beitrag hierzu leisten kann und im Sinne einer erfüllten vita activa sich und seine Umgebung mit gestaltet. Man könnte das weniger die Intelligenz der Masse als vielmehr die Inklusion und Stärkung von vielen Einzelnen, zum Teil als gemeinsames Ganzes, bezeichnen. Natürlich gilt auch: Masse ist leider kein Garant für Klasse. Wie bereits erwähnt werden wir uns weiterhin der Crowd öffnen, mit ihr in Interaktion treten, sodass sie uns und wie sie prägen können. Dank dieser Crowd haben wir auch den SEAkademie Social Entrepreneurship Publikumspreis und damit 5.000 Euro diesen Sommer ge­wonnen. Wir hatten einige Unterstützer „aus der Crowd“, die unser Kampagnen­team unterstützt haben und über 3.000 Menschen haben für uns gestimmt. Andererseits setzen wir mit einem für zum Ende des Jahres geplanten Think Tank auch bewusst auch auf die Expertise der Wenigen. Unsere Gemeinschaft und Gesellschaft hat sehr viel Potential in Form von verschiedenen Akteuren und Institutionen. Zahnräder wird ­dieses Potential abrufen, ob in Form von Individuen, Gruppen, Organisationen oder Schwärmen.

Islamische Zeitung: Vielen Dank für das Interview.

Ökonomie: Die muslimischen Eliten und ihre Inaktivität in Sachen Finanzkrise. Ein Beitrag von Sulaiman Wilms

(iz). Der zeitgenössische muslimische Diskurs konnte oder wollte die Relevanz der ökonomischen Lehre des Islam bisher nicht verstehen. Was diese heute sein kann, wenn eine grenzenlose Wirtschaft und ihre Strukturen die ­Politik in die Defensive drängen, wurde von den muslimischen Eliten weder formu­liert, noch debattiert.

Es ist festzuhalten, dass es sich bei meinen Überlegungen nicht um eine individuelle „Meinung“ handelt. Vielmehr sind dies nachvollzieh­bare Positionen, die sich im Laufe unse­rer redaktionellen Arbeit ­kristallisier­ten – auch durch den direkten Austausch mit qualifizierten Gelehrten.

Was macht der ­akademische Betrieb?
Der akademische Ansatz geriert sich als Avantgarde des islamischen Denkens – so wird er zumindest von außen beschrieben -, kann relevante Zeitfragen aber nicht beantworten. Zwischen akade­mischer Profession, die sich von der klassischen Lehre abhebt, und dem Experten­tum des „Diskurses“, existiert Islam meist nur als esoterische Morallehre oder als soziales Problem. Vergleichen wir diesen mit allgemeinen anerkannten Quellen der traditionellen islamischen Lehre, könnte man meinen, dass es sich hier um verschiedene Welten handelt.

Was die Relevanz des Islam angesichts einer unaufgeklärten Wirtschafts- und Geldsphäre ist, wurde von diesen Eliten bisher nicht formuliert. Zumindest nicht, wenn wir vom fragwürdigen „islamischen Finanzwesen“ absehen, dass im Umfeld der Muslimbruderschaft entstand, bis es von globalen Bankern geschluckt ­wurde.

In seinem Buch „Neo-Moslems“ erwähnt Eren Güvercin die Krise des Kapit­alismus und die Möglichkeit von Alternativen im Islam: „Typisch für den modernistischen Islam, wie er sich im 19. und 20. Jahrhundert gebildet hat, ist das völlige Fehlen einer kritischen Reflexion über die Mechanismen und Folgen ­einer kapitalistischen Wirtschaftsweise. Schaut man nach Saudi-Arabien und den dort dominanten Wahabismus (…), wird klar, dass der Islam keine Rolle spielt (…). Es sei denn, man zählt dazu, dass es in der Bank getrennte Schalter für Frauen und Männer gibt.“

Die Bilanz der innermuslimischen Debatte – nach Jahren der Finanz- und Wirtschaftskrise – fällt mager aus. Ich kann mich nicht erinnern, dass es in letzter Zeit ein Dokument zur Zakat vom „orga­nisierten Islam“ oder der akademischen Elite gegeben hätte. Die einzige ­Ausnah­me sind Verbände oder Hilfsorganisatio­nen, die Spender animieren wollen. Der Gelehrte Abdulhakim Murad rückt das Fehlen der ökonomischen Debatte in den globalen Kontext: Heute gebe es in ­keiner muslimischen Gesellschaft eine islamische Ökonomie. „Die nationalen Eliten und die Logik der Globalisierung stehen der Wiedergeburt eines ursprünglichen, auf das islamische Recht basierenden Wirtschaftens entgegen.“

Wo bleibt das Leben?
Ein Blick auf die Rechtswerke Muwat­ta’ (von Imam Malik), Mudawwana oder viele andere Bezugspunkte des islamischen Denkens belegt, dass ein ganzheit­licher Din nicht nur aus Anbetung besteht, sondern ebenso aus Verhaltensmustern in den sozio-ökonomischen Transaktionen (Mu’amalat). Kurz nach den „Fünf Säulen“ handelt das Standard­werk von Imam Malik zu zwei Dritteln von Verträgen, Kaufen und Verkaufen, Geschäftsformen, Erbschaften, Geschen­ken usw.

Es ist eine bittere Ironie, dass man sich manchmal bei Autoren wie Bernard ­Lewis – sicher kein Freund des Islam – informieren muss, wenn man etwas über Dinge wie Gilden lernen will. Wo ist die Elite, die in Auqaf, Gilden oder ­Märkten praktische Inspirationen sieht? Was uns fehlt, sind mehr Alexanders, die unsere Gordischen Knoten durchschlagen.

Der Gang zur Quelle
Einige zeitgenössische Gelehrte aus dem Westen, die ihre Verwurzelung in der islamischen Tradition nachhaltig auf die Moderne anwenden, leisteten etwas, was der universitären Elite bisher versagt blieb. Mit dem Erfahrungshorizont der Moderne und einer fundierten islamischen Ausbildung bei traditionellen Lehrern befragten sie ihr Wissen vom Din auf seine Relevanz für die heutige Zeit.

Im Gegensatz zum gescheiterten Diskurs der arabischen Welt, bestand ihre Antwort nicht darin, den Kapitalismus zu „islamisieren“. Vielmehr ­analysierten sie die Ökonomie und das ihr zugrunde liegende Geldsystem vis-à-vis des klassischen islamischen Rechts. Die Konsequenz war zeitgemäß und vorwärtsweisend, hatte aber gleichermaßen eine feste Rückbindung zum prophetischen Vorbild. Ihr Symbol sind der Islamische Golddinar und die freien Märkte.

Ein historisches Beispiel für ökonomische Relevanz ist der Andalusier Ibn Ruschd (Averroes). Er schrieb mit seiner „Bidajat“ nicht nur ein sehr wichtiges theoretisches Werk (mit einem großen Kapitel über Verträge und Verkäufe), sondern befasste sich eingehend mit Wucher (Riba).

Weil der Qur’an und unser Din zu allen Zeiten relevant sind, forschten ­diese Gelehrten in den Quellen nach ökonomi­schen Aspekten. Muslime prägten ­wieder die ersten islamischen Münzen, organisierten Märkte und schufen online-Bezahlsysteme auf Gold- und Silberbasis. Die Dauerkrise und das Scheitern inflationärer Papiergeldwährungen geben ihnen Recht. Apologeten des „Islamic Banking“ hingegen haben nicht viel mehr vorzuweisen, als das wohlige Gefühl, ein moralisch korrekter Teil des Kapitalismus zu sein.

Zakat: Die gefallene Säule
Messen wir den Entwicklungsstand der muslimischen Community und ihrer Eliten an der Zakat, könnten wir skeptisch werden. In der akademischen Debatte und in Verlautbarungen des ­“organisier­ten Islam“ bleibt sie marginal. Wird sie praktiziert, dann in Form von Spenden an Familienmitglieder, als Ermächtigung für muslimische Verbände sowie als ­quasi Entwicklungshilfe für die „Dritte Welt“. Ansonsten herrscht Funkstille. Nicht ohne Grund schrieb Schaikh ‘Abdulhaqq Bewley vor mehr als 12 Jahren in der IZ von der Zakat als einer „gefalle­nen Säule“.

Wir Muslime müssen ihren fundamen­talen Charakter erkennen. An mehr als 30 Stellen bringt Allah sie sprachlich mit dem Gebet zusammen, wodurch ihr der gleiche Rang zukommt. Außerdem wird sie, im Gegensatz zur Spende, genommen und nicht gegeben. Dieses „Nehmen“ setzt voraus, dass sich Muslime einer lokalen Gemeinde auf einen Verantwortlichen einigen, den sie ermächtigen, sie zu nehmen – und in kürzester Zeit vor Ort verteilen.

Innerhalb der Rechtsschulen wird die Versendung der Zakat ins Ausland entweder vollkommen abgelehnt, oder nur als extremste Notlösung geduldet. Die Behauptung, es gebe keine Empfänger in unserer Nähe, da diese ja Hartz-IV beantragen könnten, dokumentiert ein Missverständnis. Zwei Dinge darf man mit der Zakat nicht: Moscheen bauen oder Verbandsstrukturen finanzieren.

Die intellektuellen Eliten der muslimischen Gemeinschaft stehen in der Pflicht, den essenziellen Aspekt der ­Zakat wieder zu entdecken. Auch dann, wenn dies bisher im universitären oder im verbandspolitischen Betrieb kein Thema war. Ein weiteres Jahrzehnt der Obsession mit „Identität“, „Integration“ und „Repräsentation“ können wir uns nicht leisten.

Schweigen der Lämmer
„Wer aber vom Kapitalismus nicht reden will, sollte auch vom Faschismus schweigen“, ist das bekannte Diktum Max Horkheimers. Soweit es die Mu’a­malat betrifft, kann man diese Feststellung dahingehend abwandeln: Wer aber zur Ökonomie schweigt, hat auch nichts Relevantes über den Islam zu sagen. Wie kann man Führung beanspruchen, wenn man die Frage nach Geld und ­Ökonomie so konsequent ausblendet, wie es heute geschieht? Es sei denn, man akzeptiert, dass der Islam eine esoterische ­Moralleh­re sein soll.

Nicht nur „Islamkritiker“, auch viele Muslime haben einen vorrangig politischen Zugang zum Islam. Ein Blick in den Qur’an und die rechtlichen Standardwerke zeigt, dass es deutlich mehr ökonomische und wirtschaftliche Regeln als politische gibt: das Wucherverbot, die Pflicht der Zakat sowie die Erwähnung von (Gold-)Dinar und (Silber-)Dirham.

Was ist Geld im Islam? Schaikh ­Imran Hossein definiert es so: „Geld im Islam sind entweder wertvolle Metalle wie Gold und Silber, oder haltbare Lebensmittel. So kam es, dass auf dem Markt von Medina bei Mangel an Gold- und Silbermünzen haltbare Waren wie Datteln als Zahlungsmittel verwendet wurden.“ Da sich Gold und Silber als praktisch erwiesen, wurden sie von vielen Kulturen anderen Zahlungsmittel vorgezogen.

Es waren die Salaf, die das Verhältnis von Silber zum Gold festlegten. Dabei stützten sie sich, wie Ibn Khaldun in der „Muqadimma“ schrieb, auf die zur Zeit des Propheten benutzten Münzen. Laut Imam Al-Qurtubi gehört die Garan­tie der Münzen neben der Marktaufsicht zu den grundlegenden Aufgaben der politischen Autorität. Dinar und Dirham sind die (Doppel-)Währung des Islam. Auf ihnen basieren die Transaktionen der Scharia: Zakat, Mahr, Fidja, Kaffara und andere.

Das positive Gebot der Zakat und die Parameter des prophetischen Vorbilds für Verträge, Märkte und korrekte Maße bilden die Grundlage für ein Wirtschaften, das Gerechtigkeit, soziale ­Mobilität und Wohlstand für die Allgemeinheit ermöglicht. Dem angeschlossen sind Stiftungen und Gilden, die in weiten ­Teilen der islamischen Geschichte hochkomple­xe Lösungen für sozio-ökonomische Probleme ermöglichten.

Apologeten des Bankings
Die andere Seite ist das Verbot des Wuchers. Im Qur’an, der Sunna und im Recht wird Riba als extrem gravierend beschrieben. Eine Sache, der Allah und Sein Gesandter „den Krieg erklärt haben“ (Al-Baqara, 279). Diejenigen, die damit beschäftigt sind, sind wie jene, „die Schaitan mit Wahnsinn geschlagen hat“ (Al-Baqara, 275). Die Gelehrten bezeichnen Riba als schwerwiegende Untat, die nicht in dieser Welt gesühnt werden kann.

Riba hat schädlichste Folgen für die Gleichheit des Marktes. Der Wucher eröffnet die Tür für soziale Ungleichheit und Unterdrückung. Das Wort bedeutet im Arabischen „Exzess“ oder „Überschuss“. Der malikitische Gelehrte Qadi Abu Bakr ibn Al-’Arabi definiert ihn in seinem Werk „Ahkam Al-Qur’an“ so: „Jeder Überschuss zwischen dem Wert der gegebenen Güter und ihrem Gegenwert [dem Wert der empfangenen Güter].“

Während das traditionelle Recht auf die Verhinderung von Riba abzielte, gingen die Modernisten ab Ende des 19. Jahrhunderts den gegenteiligen Weg. Sie wollten die Nachahmung des Westens und seiner scheinbar erfolgreichen Macht­instrumente. Daraus erwuchs unter anderem die Idee der „islamischen Bank“ – und Versicherungen, Börsen, Hypothe­ken etc. Damit dies gelingen konnte, musste das Recht dekonstruiert und etablierte Vertragsformen neu definiert werden. Heute hat sich daraus der Riesenmarkt des „islamischen Finanzwesens“ entwickelt. Kontrolliert wird dies von Großbanken und nutzt vor allem ­deren, mehrheitlich nichtmuslimischen Anteils­eignern. An der ökonomischen Wirklichkeit der muslimischen Welt hat es nichts Greifbares verändert, noch die sozio-ökonomische Lage muslimischer Minderheiten – trotz des Hypes – im Wes­ten verbessert.

Es ist ironisch, dass immer mehr Nichtmuslime die Unmöglichkeit unserer ökonomischen Verhältnisse erkennen und händeringend nach praktikablen Alternativen suchen. Zeitgleich dazu war die einzige ökonomische Handlung des „organisierten Islam“ in der letzten Zeit die Legitimierung der – schwer in Mitleidenschaft gezogenen – WestLB in Form ­einer „Fatwa“, um einem auf Muslime zugeschnittenen Fonds einen „islamischen“ Anstrich zu verleihen.

Diejenigen, die für den Islam in Deutschland sprechen, denen Wissen gegeben wurde oder die zur wachsenden akademischen Elite gehören, sind gefragt. Verharren sie in ihrer Nische oder ­tragen nichts Relevantes zu den Problemen unserer Zeit bei, kann es passieren, dass ­Allah andere hervorbringen wird.

Dieser Artikel ist die gekürzte und überarbeitete Version eines Textes, der in der aktuellen Ausgabe der Zeitschrift „Horizonte – Zeitschrift für muslimische Debattenkultur“ erschienen ist.

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Die Lage in Burma ist schon lange dramatisch. Von Abu Bakr Rieger

Die Regierung Burmas – in Person des zwielichtigen Präsidenten Thein Sein – hat im Juli nicht nur erneut ein sogenanntes Ausnahmerecht ausgerufen, sondern – wie der HRW Bericht zeigt – auch mit seinem militärischen Apparat aktiv zur weiteren Eskalation der Lage beigetragen.
(iz). „Die Regierung hätte es verhindern können.“: Unter dieser düsteren Überschrift behandelt ein Bericht der Organisation Human Rights Watch die jüngsten Vorkommnisse in Burma. Ende Mai hatten zunächst – nach Presseberichten – drei Muslime eine Vergewaltigung begangen. Nach der Verurteilung der Straftäter zum Tod töteten buddhistische Anwohner in einer willkürlichen Racheaktion 10 unbeteiligte Muslime. Das Muster von Gewalt und Gegengewalt, dass anschließend im Juni und Juli zwischen Muslimen und Buddhisten ausbrach, kann aber nicht von der grundsätzlichen Verantwortung der Regierung Burmas ablenken.
Nur wenig ist bisher über die Jahrzehnte der Verfolgung der armen Menschen bekannt. Auch der neue HRW-Bericht basiert nur auf der spärlichen Grundlage von 53 Interviews, spricht dabei von „nur“ 79 Toten nach den jüngsten Unruhen im Juli, während islamische Medien allein im letzten Monat von über tausend Opfern berichten. Auf YouTube gibt es zudem Vutzende Videos, die ausreichend Material für Untersuchungen über weitere Massaker hergeben dürften. Inzwischen fordert auch der UN-Repräsentant für die Region, Tomas Quintana, weitere unabhängige Untersuchungen über das eigentliche Ausmaß der Massaker.
Klar ist: Der asiatische Staat ist in diesem Konflikt Partei und nicht etwa neutraler Vermittler in einem regionalen Religionskonflikt. In Burma wurde 1982 hochoffiziell eine ganze Bevölkerungsgruppe entrechtet, ihre Bürgerrechte aberkannt und damit ein bis heute funktionierendes, „legales“ System der Apartheid errichtet. Die planmäßigen Aktionen des Staates gegen Muslime sind also nicht etwa neu. In den siebziger und neunziger Jahren wurden bereits hunderttausende Muslime auf brutale Weise vertrieben.
Die Regierung Burmas – in Person des zwielichtigen Präsidenten Thein Sein – hat im Juli nicht nur erneut ein sogenanntes Ausnahmerecht ausgerufen, sondern – wie der HRW Bericht zeigt – auch mit seinem militärischen Apparat aktiv zur weiteren Eskalation der Lage beigetragen. Am 12. Juli hatte Sein in einer skandalösen Rede sogar die weitere Verbringung der Muslime in Lager gefordert und ihre Ausreise verlangt. Für diese Ausfälle wurde der Präsident weder von den USA noch der EU kritisiert.
Es kann wenig Zweifel bestehen, dass es der Regierung um nichts anderes als der Vertreibung der Muslime aus dem rohstoffreichen Landesteil geht. Die Region ist für das Regime und seine Wirtschaftsinteressen strategisch überaus bedeutsam. An der Küste Arakans wurden milliardenschwere Gas-und Ölvorkommen gesichtet. In Sittwe soll ein neuer Tiefseehafen entstehen. Das Militärregime – nach westlicher Lesart auf dem (langen) Weg zu einer Demokratie – wandelt sich gerade mit Hilfe der Weltbank de facto in einen autoritären kapitalistischen Staat. Der faschistoide Umgang mit Minderheiten spielt bisher im Umgang mit dieser Regierung keine entscheidende Rolle.
Irritierend ist auch das Schweigen der buddhistischen Gelehrten zu der Verfolgung in Burma. Nach dem HRW-Bericht hatten sich buddhistische Mönche sogar aktiv an der diskriminierenden Propaganda gegen Muslime beteiligt. Eine Stellungnahme des Dalai Lama oder anderer Persönlichkeiten der Weltreligion sind bisher nicht bekannt. Das verbreitete Bild des Buddhismus als einer Religion der Friedfertigkeit leidet so unter den Bildern, die uns aus Burma erreichen.
Nicht einmal Aung San Suu Kyi, die weltbekannte Ikone der demokratischen Bewegung, die nun im Parlament sitzt, hat sich bisher klar zu den Ereignissen geäußert. Die EU hat im April die Lockerung ihrer Sanktionen gegen das Land beschlossen, die Fortschritte der Demokratisierung begrüßt, ohne aber gleichzeitig das Ende der systematischen Diskriminierung der Minderheiten zu fordern. Westliche Staaten fordern bisher auch nicht eine schnelle Aufklärung über die tatsächlichen Opferzahlen in den Massakern der letzten Wochen. In der islamischen Welt gilt diese Zurückhaltung als ein weiteres Beispiel für Inkonsequenz westlicher Menschenrechtspolitik.
Das Schicksal der „Rohingya“, der muslimischen Minderheit in dem Staat, nach Angaben der UN eine der „meistverfolgten“ Bevölkerungsgruppen der Welt, bestätigt so auf tragische Weise die viel diskutierte Analyse Giorgio Agambens. Der italienische Philosoph hatte in seinem Buch „Homo Sacer“ argumentiert, dass das Lager und das Hervorbringen des rechtlosen „nackten Lebens” nicht im Widerspruch zum Nomos der Moderne stehe.
Die Lage in Asien gibt diesen Thesen einige Nahrung. Im Süden Bangladeschs leben seit Jahrzehnten zehntausende Muslime aus der Region in Lagern, die „Orte ohne rechtliche Ordnung“ sind. Erschütternde Bilder aus der Region zeigen nun erneut Menschen, die als „Staatenlose“ keine Bürger mehr sind und sich mit kleinen Booten sogar auf das offene Meer flüchten müssen, allein um Tod und Verfolgung zu entgehen. Ihnen bleibt nur – wie es Agamben formuliert – das „nackte Leben“ zu retten.

"Ich verbiete Politikern und Militärs, 'humanitär' zu benutzen"

Es finden sich überall – und immer wieder – Menschen, die sich nicht auf einen Aspekt festlegen lassen. Selbst, wenn sie durch diesen bekannt werden. Eines der prägenden Beispiele für einen solchen Charakter ist der Journalist, humanitäre Helfer und Aktivist Rupert Neudeck. Neudeck zeichnet sich – von seinem Einsatz von Andere einmal ganz abgesehen – durch die Breite seiner Bildung aus, die auch vor dem zeitgenössischen Islam-Diskurs nicht Halt macht.
Er ist Journalist, Autor, Gründer des Cap Anamur/Deutsche Not-Ärzte e.V. und Vorsitzender des Friedenskorps Grünhelme e.V. International bekannt wurde er 1979 durch die Rettung tausender vietnamesischer Flüchtlinge im Chinesischen Meer mit der Cap Anamur. Bis 1998 gehörte er dem Vorstand des Komitees Cap Anamur an, danach wurde er Sprecher der Hilfsorganisation. Im April 2003 wurde er zum Mitbegründer und Vorsitzenden des internationalen Friedenskorps Grünhelme e.V. Nach 2002 setzt sich Neudeck auch mit der Lage in Israel/Palästina auseinander. Eine der Früchte davon war das Buch „Ich will nicht mehr schweigen“.
Die IZ traf ihm im Rahmen einer Buchvorstellung in der Kölner Buchhandlung Ludwig. Kurz nach dem Interview war Neudeck erneut unterwegs – dieses Mal in Richtung Türkei, wo er sich gemeinsam mit dem Verein Grünhelme und Cap Anamur an der Vorbereitung für Hilfsmaßnahmen beteiligen will.
Islamische Zeitung: Lieber Herr Neudeck, am 3. Juli haben Sie gemeinsam mit Eren Güvercin dessen jüngst erschienenes Buch „Neo-Moslems“ in Köln vorgestellt. Was war Ihre Motivation?
Rupert Neudeck: Das Buch ist für Christen und Menschen guten Willens in Deutschland eine gute Tür, durch die wir zu den Muslimen einen viel ­besseren Draht und eine bessere Beziehung bekommen können. Ich habe mich über das Buch meines Kollegen Eren ­Güvercin sehr gefreut. Ich habe mich auch gefreut darüber, das ein exponiert katholischer Verlag das Buch publiziert hat. Das lässt hoffen.
Islamische Zeitung: Die meisten Menschen kennen Sie als unermüdlichen Aktivisten für Menschen in Not. Gibt es für Sie Verknüpfungspunkte zum Thema Muslime?
Rupert Neudeck: Ich lasse mir nicht ausreden, dass es eine Hauptaufgabe von Menschen ist, die religiös musikalisch sind (wie der deutsche Soziologe Max Weber gesagt hätte), sich für Menschengeschwister, die in Not sind, besonders heftig und freudig einzusetzen. Das ist die Botschaft der großen Religio­nen, besonders die des Christentums, des Islam und des Judentums: Den Menschen als Kind Gottes zu sehen und zu behandeln. Deshalb fühle ich mich eben dabei mit Muslimen in einem Boot.
Islamische Zeitung: Haben Sie ­einen persönlichen Zugang zum Islam?
Rupert Neudeck: Ja, wenn Sie so ­wollen: Johann Wolfgang von Goethe – „Gottes ist der Orient! Gottes ist der Occident! Nord- und südliches Gelände Ruht im Frieden seiner Hände.“ Der West-Östliche Divan bietet einen hervor­ragenden Zugang für einen Europäer und Christen zum Islam.
Islamische Zeitung: Gemeinsam mit Aiman Mazyek, dem Vorsitzenden des Zentralrats der Muslime in Deutschland, sowie Persönlichkeiten des öffentlichen Lebens gründeten Sie vor einigen Jahren den Verein ­Grünhelme. Was hatte Sie dazu bewogen, neben Ihren bisherigen Projekten dieses neue Vorhaben anzugehen?
Rupert Neudeck: Die Ahnung, dass wir nach dem 11.9.2001 auf einem „Holzweg“ sind, um mit Heidegger zu sprechen. Man kann nicht einen Krieg gegen den Terror führen, man kann nur verdeckt weiter Imperien aufziehen und Ressourcen ausbeuten. Die Vorstellung, dass es nach dem Welt-Kommunismus der Islam sein sollte, den wir als Weltfeind uns vorstellten und bekämpfen wollten, hat mich sehr aufgeregt. Dagegen wollten wir die gemeinsame humani­täre Tat setzen. Das war die Gründungs­urkunde der Grünhelme e.V. mit Aiman Mazyek und, wie ich künftig hoffe, mit Eren Güvercin. Dagegen müssen wir uns verbünden, nicht nur durch ­Pamphlete, sondern durch Taten.
Islamische Zeitung: Was unterschei­det die Grünhelme von herkömmlichen, humanitären Organisationen? Haben Sie einen besonderen Ansatz?
Rupert Neudeck: Möglichst nahe den Menschen sein, und unsere Euro-Gottgleichheit und Wohlstandsarroganz möglichst klein zu machen. Grünhelme ­leben bei den Menschen in den Dörfern, mit denen sie zusammen Schulen, Häuser, Krankenstationen aufbauen. Wir wollen auch nicht die staatliche Subvention beanspruchen, weil wir meinen, die Menschen brauchen die Spende der Mitbürger hier bei uns, die damit ein ganz ­großes Geschenk machen. Kein Mensch muss nämlich spenden. Das ist die reine Großzügigkeit. Wir halten uns nicht an die Reisewarnungen des Auswärtigen Amtes, Menschen, die in Not sind, ­verlangen oft, dass wir sie auf halb- oder illegalen Wegen erreichen.
Islamische Zeitung: Lieber Herr Neudeck, Sie setzen sich seit Jahrzehnten für betroffene Menschen in Katastrophen- und Kriegsgebieten sowie für Flüchtlinge wie die vietnamesi­schen Boat People ein. Hat sich in den letzten Jahrzehnten etwas an der globa­len, humanitären Lage geändert?
Rupert Neudeck: Der Zustand der Menschheit ist interessanterweise viel besser geworden. Es gibt so etwas wie eine gnädige Menschheit, die sofort – nach jedem Tsunami und nach jedem furchtbaren Bombardement, ob auf Gaza-Stadt oder auf Homs oder Aleppo dabei ist, loszugehen und mit allem, was wir an Medizin und Baumaterialien haben, hilfreich zu sein. Das halte ich für einen wunderbaren Fortschritt der Menschheit – zu meiner Lebenszeit.
Islamischen Zeitung: Einige Kritiker sind der Ansicht, dass manche NGOs nicht nur Teil der Lösung, sondern auch Teil des Problem sind beziehungsweise dass diese gelegentlich als Mittler für die Interessen Dritter agieren? Können Sie solche Kritikpunkte nachvollziehen?
Rupert Neudeck: Eine wirkliche Nicht-Regierungs- und Bürgerinitiative kann da nicht gemeint sein. Aber ich verfluche die Absicht von Geheimdiensten und Verfassungsschützern, einfach ganze Kampagnen zu unterwandern, wie jüngst in Pakistan bei einer Polio-Impfkampagne durch die CIA geschehen.
Islamische Zeitung: Wie reagiert unsere Gesellschaft in Zeiten der Krise auf die Notwendigkeit, anderen Menschen zu helfen? Haben es humanitäre Helfer schwieriger als früher?
Rupert Neudeck: Meine deutsche Gesellschaft reagiert so gut, dass ich mich manchmal frage: Warum gibt es neben dieser Bereitschaft, die in Zahlen ausgedrückt sechs Mal so groß ist wie in Frankreich, so viel an festbetonierten blöden und verblödenden Vorurteilen gegenüber andersartigen, von woanders herkommenden Menschen? Dazu gibt es in vielen Ländern, die kaum souverän sind, eine geifernde Bereitschaft, Rache zu nehmen für die fehlende Souveränität und sich an den kleinen NGOs das Leben schwer zu machen. Das habe wir jüngst in Afghanistan, aber auch in der Demokratischen Republik Kongo erlebt.
Islamische Zeitung: Gelegentlich beschleicht einen das Gefühl, dass wir hier, in den Wohlstandszonen der Welt, seltsam unberührt von den ­Konsequenzen unserer Lebensweise, die sich anderswo manifestieren, ­bleiben…
Rupert Neudeck: Deshalb müssen wir heute anfangen, uns aus dem Faulbett des Wohlstandes zu verabschieden. Denn dazu sind wir nicht auf die Welt gekom­men, um in einem Schlaraffenland an Überfütterung zu sterben.
Islamische Zeitung: Binnen eines Jahres erlebt Europa vor seiner Haustür zwei Bürgerkriege – Libyen und Syrien -, bei denen unzählige Menschen ums Leben kommen. Wie stehen Sie zu den so genannten „humanitären Interventionen“?
Rupert Neudeck: Ziemlich ablehnend. Ich verbiete Politikern und Militärs, das gute Wort „humanitär“ für ­ihren militärischen Eingriff zu benutzen. Humanitäre haben – wie alle Rot-Kreuz und Rote Halbmond Gesellschaften dieser Welt wissen – nie etwas mit Waffen, mit Waffenträgern, mit bewaffneten „Technicals“ zu tun. Wenn sie damit anfangen, haben sie restlos verloren. Ich kann mir eine UNO-Streitmacht vorstellen in der Zukunft, die dem UN-Generalsekretär unterstellt ist und die dann beauftragt wird, wie damals vor dem 11. Juli 1995 Srebrenica mit tausenden von muslimischen Ermordeten zu verhindern. Oder den Völkermord in Ruanda zu verhindern, der am 6. April 1994 begann. Dass das nicht geschieht, liegt dann an unserer typisch westlichen Feigheit. Wir halten uns für wertvoller als die Tutsis in Ruanda oder die bosnischen Muslime in Srebrenica.
Islamische Zeitung: Lieber Herr Neudeck, heute wird oft vom Trend zum „Ehrenamt“ geredet. Was treibt Sie bei Ihrem Engagement an?
Rupert Neudeck: Das Wort „Ehrenamt“ finde ich schrecklich. Ich habe noch nie ein Amt angestrebt. Und von der Ehre halte ich wenig. Ich finde wichtiger, alte und junge Menschen davon zu überzeugen, dass es nichts Schöneres auf der Welt gibt, als Menschen beizustehen. Im Sinne des Satzes, den uns Heinrich Böll als Vermächtnis hinterlassen hat: „Es ist schön, ein hungerndes Kind zu sättigen, ihm die Tränen zu trocknen, ihm, die Nase zu putzen. Es ist schön einen Kranken zu heilen. Ein Bereich der Ästhetik, den wir noch nicht entdeckt haben, ist die Schönheit des Rechts; über die Schönheit der Künste, eines Menschen, der Natur können wir uns immer halbwegs einigen. Aber – Recht und Gerechtigkeit sind auch schön Und sie haben ihre Poesie, WENN sie vollzogen werden“
Islamische Zeitung: Lieber Herr Neudeck, wir bedanken uns dafür, dass Sie Zeit für ein Gespräch hatten.

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Gedanken zum Ramadan. Von Tasnim El-Naggar

(iz). Ramadan. Ein Monat ist angebrochen, der für manche manchmal nichts weiter darstellt als Hunger. Sie sehnen sich nach einem Ham- oder Cheeseburger, bleiben bei jeder McDonalds-Plakat-Werbung stehen, schauen jedem […]

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„IZ-Begegnung“ mit dem Juristen und Brancheninsider Taris Ahmad über Anspruch und Wirklichkeit des „Islamischen Finanzwesens“

„Das islamische Bankwesen ist wie ein Schwein, dass gewissenhaft nach den Prinzipien und Regeln der Scharia geschlachtet wurde.“ (Schaikh Muhammad Tawfiq)

„Die Folge ist, dass die Produkte der ‘Islamic Finance’ wohl gleichermaßen den Armen wie der Umwelt schaden.“ (Taris Ahmad)

(iz). Seit seiner Einführung ist das vermeintliche „Islamische Finanzwesen“ (zu dem nicht nur der Bankensektor, sondern auch andere „islamisierte“ Variationen der kapitalistischen Geldwirtschaft zählen) die Standardantwort aus dem Diskurs des politischen Islam in Sachen Ökonomie. Unab­hän­gig davon, dass eine Ablehnung ­unter vielen Gelehrten wächst, melden sich auch immer wieder Brancheninsider mit kritischen Beiträgen zu Wort.

Angesichts diverser Überschneidungen zum konventionellen Banking – allen voran das fraktionelle Reservebanksystem – kommen immer mehr Muslime zu dem Schluss, dass es sich dabei um keine nachhaltige Alternati­ve handelt.

Wer weiß beispielsweise, dass ­Kredite für die Renovierung der Haramain – Mekka und Medina – durch die so genannten „Islamischen Banken“ mitunter auch auf dem konventionellen Finanzmarkt angeboten wurden? Oder, dass es in Sachen der vermeintlichen „Islamic Finance“ gar ein regelrechtes „Fatwashopping“ gibt?

Hierzu sprachen wir mit dem Juristen und Brancheninsider Taris Ahmed, der als Anwalt einer internationalen Kanzlei im saudischen Riad arbeitete. Der Jurist machte dabei seine eigenen Erfahrungen mit diesem, vermeintlich islamischen Finanzinstrument.

Islamische Zeitung: Lieber Taris Ahmad, Sie sind Anwalt und haben unter anderem als Wirtschaftsanwalt auf der Arabischen Halbinsel Erfahrungen mit dem so genann­ten „Islamic Banking“ gemacht. Wie sahen diese aus?

Taris Ahmad: Vor meinem Wechsel nach London, war ich zwei Jahre lang bei [der Kanzlei] Allen & Overy in Saudi Arabien tätig, wo ich auch die Gelegenheit hatte, an einem Lehrbuch zum Thema mitzuwirken.

Islamische Zeitung: Was ist Islamic Finance?

Taris Ahmad: Der Begriff ist ein wenig irreführend. Es gibt im Prinzip „Equity Finance“ [Finanzierung mit Eigenka­pital] und „Debt Finance“ [schuldbasierte Finanzierung mit Fremdkapital]. Equity Finance kann im Groben als ohnehin islamkonform betrachtet werden. Denn nach islamischen Recht ist zunächst erst einmal alles erlaubt, was nicht ausdrücklich verboten ist. Bloss niemand käme auf die Idee, dies „islamisch“ oder „Islamic Finance“ zu nennen.

„Islamic Finance“ ist der Versuch, Debt Finance scharia-konform zu strukturieren. Im islamischen Recht gibt es meines Wissens jedoch nur eine Art von Schuld; nämlich einen Qard Hassan, also ein zinsloses Darlehen.

Islamische Zeitung: Wie sieht das konkret aus?

Taris Ahmad: Es gibt eine Vielzahl von Verträgen und jeder Vertrag ist anders. Grob gesprochen wird jedoch versucht, Geldrückflüsse zu schaffen, die ­denen von Zins ähneln. Ob diese Zins sind oder nur so ähnlich wie Zins, wird gemeinhin debattiert und hängt vom Kleingedruckten ab.

Ein Kritikpunkt ist, dass sich der ­Profit am LIBOR [der täglich festgelegte Referenzzinssatz im Inter­banken­geschäft] orientiert und ein Verlustausgleich vereinbart wird, womit man einen zinsähnlichen Geldrückfluss geschaffen hat.

Islamische Zeitung: Eine der vorgetragenen Kritikpunkte am „Islamic Banking/Islamic Finance“ ist die Zweckentfremdung oder Verzerrung traditioneller islamischer Vertragsformen, die, ihres eigentlichen Inhalts entleert, als Grundlage für bestimmte Konstrukte – wie den Hypothekenbanken – dienen. Wie würden sie dies als Jurist bewerten?

Taris Ahmad: Commodity-Murabaha-Verträge beispielsweise waren bei den frühen muslimischen Juristen in der heutigen Form, außer als unzulässige Hila [arab. Rechtskniffe; Versuche, das Recht, mithilfe des Rechts zu umgehen], unbekannt. Unorganisierte Tawaruk wurden von der schafi’itischen ­Rechtsschule erlaubt, weil sich die Absicht des Investors dem Richter entzieht und dieser lediglich mit zwei rechtmäßigen Verträgen konfrontiert wird. Organisierte Tawaruk ist jedoch eindeutig verboten.

Aber, das islamische Finanzrecht dreht sich nicht nur um Zinsen. Das Zinsverbot ist nur eine, der relevanten Scharia-Normen. Das islamische Wirtschaftsrecht ist viel komplexer. Zum Beispiel gibt es noch die Konzepte von „Gharar“ und „Salam“ oder die Probleme mit Vertragsstrafen. Wichtig ist auch zu bemerken, dass „Islamic Finance“ sehr heterogen ist. Auch diese Industrie hat ihre „alternativen Banker“, die tatsächlich methodisch rigide Produkte anfertigen wie zum Beispiel das Al-Ansar Eigenheimprojekt in Manchester.

Islamische Zeitung: Woher kommt die große Nachfrage?

Taris Ahmad: Es gibt viel Kapital, jedoch ist der Zugang dazu für die Mehrheit versperrt. Der normale Unternehmer braucht Kapital, um sich auf dem Markt zu etablieren; genauso wie der normale Haushalt Kapital braucht, um sich ein Eigenheim zu finanzieren. Banken spielen daher eine zentrale Rolle. ­“Islamic Finance“ ist der Versuch einer Antwort. Doch ging dieser Versuch für viele schnell in die gleiche, falsche Richtung.

Islamische Zeitung: So mancher Gelehrter hat aber die diversen ­Produkte abgesegnet…

Taris Ahmad: Die „Sharia Gouvernance“ ist ein großes Thema. Die verschiedenen Bankprodukte erhalten ihr Halalsiegel von ihren hauseigenen Juris­ten des islamischen Rechts. Meinungsvielfalt unter muslimischen Juristen gab es immer, jedoch gab es auch immer ­Gerichte und sorgfältig ausgebildete ­Juristen.

„Fatwashopping“ ist möglich, weil die Privatmeinungen nicht autoritativ von Gerichten entschieden werden, die die Vertragsausgestaltungen nach islamischer Rechtmäßigkeit untersuchen können. Das Problem ist also die Abwesenheit methodischer Rigidität, die nur von Gerichten eingefordert werden kann.

Islamische Zeitung: Es gibt jedoch solche Gericht in den Golfstaaten oder in Malaysia…

Taris Ahmad: Die Rechtswahl für ­Finanzverträge ist oftmals das englische Recht, dessen Gerichte hohes Vertrauen genießen, jedoch Scharia-Recht nicht anwenden können, weil dies keinem Staat zugeordnet werden kann. In einigen Golfstaaten wurde die Gerichtsbarkeit den Scharia-Gerichten entzogen, ­sofern eine der Streitparteien eine Bank ist.

Islamische Zeitung: Besteht bei diesen Finanzinstrumenten die Hoffnung auf eine Revitalisierung des islamischen Rechts?

Taris Ahmad: Entwicklungspolitik braucht generell auch einen Rechtsstaat. Problematisch ist jedoch, dass islamisches Recht in der Praxis von Banken – im neoliberalen Geiste – mit weiter entwickelt wird und damit die Belange der Rechtstradition, die auf einen Interessenausgleich aller Parteien abzielt, nicht berücksichtigt. Die Folge ist, dass die Produkte der „Islamic Finance“ wohl gleichermaßen den Armen wie der Umwelt schaden. Alle möglichen konventionellen Produkte – sogar Derivate! – werden nun „islamisiert“. Commodity-Murabaha und organisierter Tawaruk usw.: All dies sind, dogmatisch betrachtet, Mutationen des islamischen Rechts.

Islamische Zeitung: Haben sich das „Islamic Banking“ und die „Islamic Finance“ wirklich als krisenfester ­erwiesen?

Taris Ahmad: Krisenursache bleiben das fraktionelle Reservebankwesen (frac­tional reserve banking) und Papiergeld ohne Deckung (Fiat money). Weder die Occupy Bewegung noch die „Islamic Finance“ ändern etwas daran. Ähnlich dem ethischen Bankwesen kann es etwas milder sein.

Islamische Zeitung: Oft wird die ­“Islamic Finance“ als nachhaltige Alternative zum konventionellen Finanz­wesen gepriesen. Ist diese (Selbst-)Zuschreibung ihrer Erfahrung nach noch tragbar?

Taris Ahmed: Investitionen in Unternehmen mit beispielsweise einem bestimmten Maß an Zinseinnahmen oder in bestimmten Industrien wie etwa der Waffen- oder Alkoholproduktion sind verboten. Das ist schon mal ein guter ethischer Anfang. Jedoch ändert dies nichts am Zins, der die Umweltressourcen unkontrolliert verbraucht und globale Armut perpetuiert.

Islamische Zeitung: Viele sehen den Arabischen Frühling als islamisches Erwachen. Kann dieser Zweig der Finanzwirtschaft hier überhaupt eine Rolle spielen?

Taris Ahmad: Freilich bringt diese Industrie viele lukrative Jobs und Profite mit sich. Die Volkswirtschaft wird jedoch langfristig nur von einer tiefer gehenden Reform der Juristenausbildung, der Unabhängigkeit der Gerichte und des politischen Willens zinsfrei zu arbeiten profitieren. Das würde auch Menschenrechte stärken und eine Umverteilung herbeiführen. Was gebraucht wird, sind kompetente traditionelle Gelehrte, die die Scharia methodisch beherrschen und auch in der Praxis als Anwälte und Richter tätig sein können.

Islamische Zeitung: Lieber Taris Ahmed, vielen Dank für das Interview.