Früher dachten Philosophen und Poeten über „Dichten“ und „Bauen“ nach, haute leiden Städte unter wachsender Segregation und Verelendung. Ein „Beitrag“ von Sulaiman Wilms

(iz). Die Arten und Weisen, wie wir wohnen und wie ­unsere Städte organisiert sind, prägen unser Leben bis in die Tiefe ­unseres fundamentalen Seins. Da diese Wirklichkeit so grundlegend ist und gleichzeitig so banal zu sein scheint, machen wir uns – wie bei der Atmung – nur ­Gedanken, wenn etwas nicht stimmt. Uns Muslimen sollte die Wichtigkeit dieser Frage allerdings bewusst sein. Entwickelte sich doch der Islam, im ­Gegensatz zum landläufigen Missverständnis, nicht „in der Wüste“, sondern – einer prophetischen Aussage zufolge – in der Stadt. Der Prophet, möge ­Allah ihn segnen und ihm Frieden geben, hinterließ keinen strukturellen Staat, sondern die beiden urbanen ­Schwerpunkte Moschee und Markt.

Angefangen von den frühesten zielge­richteten Städtegründungen Kufa oder Qairuan bis zu ausgefeilten Kulturzentren wie Sarajevo, Cordoba oder Delhi: Überall, wo Muslime sesshaft wurden, manifestierten sie ihre dynamische Lebensweise in einer architektonischen und städtischen Ordnung. Ob organisch-chaotisch oder geometrisch-geordnet: Ihr Wohnen ließ sich weder von ihrer sozialen, noch von ihrer spirituel­len Realität trennen. Mit Recht ­können wir uns die Frage stellen, ob „Kultur“ überhaupt ohne passende Vision des Wohnens und des Städtebaus möglich ist. Immerhin: Die antike und die „christlich-abendländische Kultur“ entstand nicht in den dünn besiedelten Wäldern Mittel- und Nordeuropas, sondern am Ufer des Mittelmeers.

Würden wir den Zustand unserer „Kultur“ beziehungsweise unsere kollek­tive Vision am Entwicklungsgrad und am augenblicklichen Zustand unserer Kommunen messen, ist eine gewisse Skepsis nicht unbegründet. Inmitten der sozialen Erschütterung und Auflösung unserer gesamtgesellschaftlichen Solidarität stellt sich die Frage, woher diese Vision kommen soll, die bisher funktionierenden Sätdte und ein menschenwürdiges Wohnen zukünftig aufrechtzuerhalten. Anders als in den Jahrzehnten nach dem Zweiten Weltkrieg gibt es weder die Fähigkeit, noch den kollektiven Willen der Deutschen, den sich abzeichnenden Mangel an bezahlbarem Wohnraum durch umfangreiche Programme und den einstmals gerühmten „sozialen Wohnungsbau“ zu beheben.

Seit einem Jahrzehnt streitet unsere Gesellschaft auf sehr manische Art und Weise über metaphysische Themen wie „Leitkultur“ oder „Integration“. Die soziologischen und ökonomischen Erkenntnisse der Forschung aus den 1960er Jahren wurden dank der unermüdlichen Arbeit deutscher Leitmedien zugunsten essenzialistischer ­Sichtweisen über Bord geworfen. Während der Mainstream einerseits den Bestand real existierender „Ghettos“ – nebst deren negativen Begleiterscheinungen – beklagt, stellt er nur selten die Frage nach dem materiellen „Warum“.

Vor Kurzem starb die bekannte deutsche Psychoanalytikerin Margarete Mitscherlich. Ihr Ehemann, der Arzt und Psychoanalytiker Alexander Mitscherlich, veröffentliche 1965 das Buch „Die Unwirtlichkeit unserer Städte“. In dieser urbanen Analyse findet sich eine beißende Kritik der architektonischen Moderne, die mit ihren Hochhausvisionen (wie die von Le Corbusier) und Großbausiedlungen die tradierte Blockbauweise europäischer Städte dekonstruierte. Die Wirklichkeit dieses architektonischen Wunsches, den „neuen Menschen“ mit Hilfe des Bauwesens zu schaf­fen, zeigt sich auch in den unzähligen Plattenbausiedlungen Ostdeutschlands (von denen manche bereits abgerissen wurden) oder sozialen Brennpunkten wie Köln-Chorweiler, die vielen als nicht-reformierbar gelten. Wie so ­viele andere soziologische Ansätze seit Ende des Systemgegensatzes scheinen auch ihre Erkenntnisse in Vergessenheit gera­ten zu sein.

Dass sich Menschen aus der Prob­lemgruppe der drei „A“ (Alter, Arbeits­losigkeit und Ausländer) in jenen Stadtvierteln niederlassen, in denen sie erschwinglichen Wohnraum finden, ist eine logische Konsequenz. Während die Mittelschichten früher aus den Stadtzentren in die Eigenheimsiedlungen der Vororte zogen, kehrte sich dieser Trend vor einiger Zeit um. Gut oder besser situierte Familien beziehungsweise Sing­les werden verstärkt von den urbanen Zentren angezogen. In Massenmedien wird dieser Prozess oft mit dem Begriff der „Gentrifizierung“ beschrieben.

Es kann und darf niemanden verwun­dern, dass in den noch nicht „zurück gebauten“ (ein Euphemismus für „abge­rissenen“) Plattensilos des Ostens oder westdeutschen Betonghettos wie Chorweiler, Mümmelmannsberg oder der Siemensstadt kaum zivilisatorische ­Impulse oder bürgerliches Engagement erwachsen. Konzentrieren sich verschie­dene Faktoren der schleichenden urbanen Verelendung hier auf so großem Raum, sodass das Bestehen des Alltags zum einzigen Erfahrungshorizont wird. Vor den letzten NRW-Wahlen berichtete die „ZEIT“ über Köln-Chorweiler. Laut des Artikels („Die wählen ­sowieso nicht“) würden Politiker, die dort kandidierten, aber auch Sozialarbeiter oder Lehrer, nicht einmal selbst in Chorwei­ler wohnen.

Am 18. Juni publizierte das gleiche Wochenmagazin unter dem Titel ­„Teure Wohnimmobilien liegen im Trend“ eine längere Meldung über den Erfolg teurer Mietimmobilien. Demnach beklagen sowohl Verbände der Wohnungswirtschaft als auch der deutsche Mieterbund, dass unter den, in diesem Jahr gebauten Wohnungen immer mehr Objekte „aus dem hochpreisigen Segment“ seien. Nach Angaben des Bundesverbands deutscher Wohnungs- und Immobilienunternehmen (GdW) entstünden derzeit 43 Prozent aller Wohnungen „im oberen Preissegment“. Sinkende Gewinnaussichten, die Finanzkrise und gestiegene Kosten führten dazu, dass sich bei Neubauten derzeit Preise unter sechs Euro pro Quadratmeter nicht lohnen würden. In Räumen wie München lägen laut „ZEIT“ die Durchschnittsmieten bei über 12 Euro. Erschwerend käme hinzu, dass internationale Investoren ihr Kapital aus Südeuropa abzögen und durch ihre Anlagen auf dem deutschen Markt die Preise nach oben trieben. Eine weitere lauernde Zeitbombe für unsere Städte sind die unzähligen, ehemals städtischen oder genossenschaftlichen Wohnhäuser, die im Zuge der Privatisierungswelle von Kommunen und Wohnungsgesellschaften verschachert wurden. Viele dieser, oft ausländi­schen Besitzer haben kein Interesse daran, die Anlagen angemessen zu unterhalten oder regelmäßig zu renovieren. So wird die Krise der Finanzindustrie zu einer Krise unseres Wohnens.

Der Deutsche Mieterbund (DMB) geht in seiner Pressemitteilung vom 12. Juni davon aus, dass Wohnungsnot zu einem wachsendem sozialen Problem werde. Betroffen seien „insbesondere Menschen mit niedrigem Einkommen, Arbeitslosen, Familien mit Kindern und Alleinerziehende. Ebenso Sozialhilfebe­rechtigte und Menschen mit Migrationshintergrund.“ Wohnraumförderung böte „die große Chance“, zeitgemäßen Wohnraum zu schaffen – „nämlich energetische und altersgerechte Wohnungen“. Zudem „ist der Wohnungsbau nach wie vor ein wichtiger Motor für die Binnenkonjunktur.“ Wie dies in Zeiten der sich steigernden Krise finan­ziert werden soll, weiß bisher niemand.

Wenn der bisherige Trend bei Wohnungsbauten anhalte, würden bis 2017 in Deutschland 825.000 Wohnungen fehlen. Dadurch würden nach ­Angaben von DMB-Vertreter Lukas Siebenkotten die Mieten noch schneller steigen. Bereits heute fehlten nach Angaben des Hannoveraner Pestel-Instituts bis zu 100.000 Wohnungen. Laut einer Studie des Deutschen Instituts für Urbanistik (Difu) sei die Arbeitslosigkeit in deutschen Städten zwar rückläufig. Andererseits „nimmt die sozialräumliche Spaltung zwischen Arm und Reich“ jedoch zu. Insbesondere Kinderarmut konzentriere sich zunehmend in bestimmten Stadtteilen. „Eine Verdrängung der von Armut betroffenen Haushalte mit Kindern in die Großwohnsiedlungen am Stadtrand ist mittlerweile nachweisbar.“

Diese Entwicklung werde aus einem Städtevergleich deutlich, den das Difu mit anderen durchgeführt hatte. „Zentraler Bestandteil hierbei ist die Wohnungspolitik. Bezahlbaren Wohnraum für benachteiligte ­Bevölkerungsgruppen bereitzustellen, ist eines der ­wichtigsten Instrumente, um der Konzentration von Armut in einzelnen Stadtteilen sowie der Verdrängung armer Menschen an den Stadtrand entgegenzuwirken“, ist eine der Schlussfolgerungen des ­Instituts.

Welche familiäre und individuelle Folgen dies haben könne, beschrieb ­Silke Bigalke (Süddeutsche Zeitung, 20.03.2012) in dem Artikel „Wenn der Kinderwunsch zu teuer wird“. Immer öfter wollten Frauen ­Schwangerschaften aus finanziellen Sorgen abbrechen. Die Hälfte der Frauen, die 2011 im Großraum München zu einer Abtreibungsberatung ging, gab finanzielle ­Probleme als Grund an. „In München“, so Bigal­ke, „gefährden vor allem die hohen Mieten die Familienplanung. Wenn beide Partner verdienen, gehe oft ein Einkom­men für die Wohnung drauf, das ande­re braucht die Familie“. Das bayrische Familienministerium räumte ein, dass der Mangel an preiswerten ­Wohnungen in der Landeshauptstadt ein Problem für Familien darstellt. Jährlich würden nur 3.500 Sozialwohnungen frei, 11.000 Antragsteller erfüllten die ­Anforderungen.

Wie also können wir noch „dichterisch wohnen“, so wie es der Philosoph Martin Heidegger in seiner Beschäftigung mit dem Werk des Dichters Hölderlins schrieb? Vor mehr als 16 Jahren stießen wir in den ersten Ausgaben der Islamischen Zeitung eine Debatte über die Notwendigkeit eigenständiger muslimische Konzepte des Wohnens und der Städteplanung an; nicht im Sinne einer „Parallelgesellschaft“, sondern im Rahmen der hiesigen Gesetze und zum Nutzen aller. Gegner der IZ ­benutzten dieses Unterfangen als Steilvorlage für bösartige Unterstellungen, so mancher Muslim belächelte uns.

Angesichts der heutigen urbanen Wirklichkeit stellt sich die Frage erneut, wer Recht hatte.

Kommentar: Das Spektakel gegen den „Salafismus“ hinterlässt gemischte Gefühle. Von Khalil Breuer

(iz). Nach den eher diesseitig orientierten „Hells Angels“ bekommen nun Gruppen, die dem Salafismus zugerechnet werden, Besuch von Staatsorganen und geladenen Medien. Spektakel hin oder her, zunächst kommt hier nur eine rechtliche Binsenweisheit zum Tragen: Wer in Deutschland zu Straftaten aufruft, sie ausübt oder an solchen beteiligt ist, wird einem Ermittlungsverfahren ausgesetzt. Bis zum Ermittlungsergebnis gilt die Unschuldsvermutung, egal ob man Helm oder Gebetskappe trägt.

Radikale Salafisten, die zu Gewalt aufrufen oder etwa Selbstmordkommandos verherrlichen und keine Staatsbürger sind, müssen zu Recht mit Strafen und Ausweisung rechnen. Ihre ­obskuren Positio­nen werden nicht nur von einer überwäl­tigenden Mehrheit der islamischen Gelehrten, sondern auch von nahezu 100 Pro­­zent der Muslime im Lande abgelehnt. Und das ist auch gut so. Noch immer steht eine überwältigende Mehrheit der Muslime in der Mitte und meidet die Extreme des Glaubens oder Unglaubens.

Wer auf der anderen Seiten in Übersetzungen des Qur’ans verteilt, mag damit der islamischen Sache schaden oder auch nicht; sicher begeht er damit aber keine Straftat. Wer mit schlichter Rhetor­ik ins Paradies einlädt oder sonstige Glaubensüberzeugungen vertritt, bewegt sich inhaltlich voll im Rahmen unserer Rechts­ordnung. Weder Sozialrecht, Gesundheitsrecht oder Baurecht stehen – mit guten Gründen – unter dem Vorbehalt ­einer politischen Gesinnungsprüfung. Kon­sequent weiter gedacht heißt das auch: Auch die Gruppe Pro-NRW muss ihren Stuss öffentlich vertreten dürfen, ohne um ihr Leben fürchten zu müssen.

Diese Fakten sind klar und sie müssen verteidigt werden, auch dann, wenn man – wie diese Zeitung – den Salafismus seit ihrem ersten Erscheinen kritisch ­begleitet. Es geht schlussendlich genau um diese inhaltliche Auseinandersetzung, den Nachweis zu führen, dass der Salafismus keine besonders konsequente Glaubensausübung ist, sondern in weiten Teilen eine moderne Irrlehre. Nur so ­verhindert man die Schaffung eines Opfermythos und nur so kann man öffentlich trennen zwischen dem, was Muslime tun oder vertreten mögen und, was der ­Islam selbst ist. Einfache Logik: Es mag Muslime ­geben, die Banken ausrauben oder Geld stehlen, aber es gibt keinen islamischen Bankraub oder Diebstahl.

Beunruhigend ist gleichzeitig die anhaltende Vermischung der Begriffe ­unter dem unbestimmten Begriff des „Islamismus“, die Kriminalisierung einfacher Orthodoxie, die gleichzeitige Nennung von Gläubigen und Orthodoxen mit Verbrechern und Mördern. Kurzum: die Verwässerung der Debatte. Uns Muslimen muss an Differenzierung gelegen sein; auch dann, wenn wir nur über ­bescheidene Mittel verfügen. Unsere Vertretungen sind ja leider verstörend passiv und wenig kreativ, sichtbare Zeichen zu setzen.

Neben der Differenzierung geht es auch um die Rationalisierung der Debatte. Hundertschaften von Stadtindianern aller Couleur mögen ein schlimmes Ärgernis für die Demokratie darstellen, sie sind aber keine Bedrohung der demo­kratischen Ordnung. Sie sind die politi­schen Dinosaurier einer anderen Zeit. Ganz real ist die Ordnung von über 80 Millionen hier lebenden Menschen durch eine entfesselte Ökonomie bedroht.

Viele Muslime haben Angst, dass sie ohne Differenzierung und eine Rationalisierung der Debatte um den Islam in anstehenden Krisenzeiten endgültig zu Sündenböcken werden könnten.

Jüdischer Kongress begrüßt Senatsmehrheit gegen das niederländische Verbot des betäubungslosen Schlachtens

(KNA). Der Europäische Jüdische Kongress (EJC) begrüßt die Entscheidung des niederländischen Senats zum betäubungslosen Schlachten von von Tieren. Mit dem derzeitigen Kompromiss, das Schächten vorerst nicht zu verbieten, werde die Religionsfreiheit von Juden und Muslimen gewahrt und zugleich der Tierschutz berücksichtigt, betonte EJC-Präsident Mosche Kantor am Mittwoch, den 13. Juni in Brüssel. Eine Mehrheit im niederländischen Senat hatte sich am Dienstag, den 12. Juni gegen ein Verbot ausgesprochen. Zuvor hatte der Staatssekretär im Landwirtschaftsministerium, Henk Bleker, mit religiösen Gemeinschaften einen Kompromiss ausgehandelt, demzufolge das geschlachtete Tier binnen 40 Sekunden das Bewusstsein verlieren muss; anderenfalls muss das Tier getötet werden. Eine niederländische Tierschutzpartei hatte das Verbot im vergangenen Jahr beantragt. Kritiker sahen in dem möglichen Verbot eine Einschränkung der Religionsfreiheit von Juden und Muslimen, die Fleisch nur dann essen dürfen, wenn die Tiere entsprechend bestimmter Vorschriften geschlachtet wurden.

Presseerklärung der Schura Niedersachsen

(Schura Niedersachsen). Nach dem Brandanschlag auf eine pakistanische Al-Ummah-Moschee in Hannover vom 28. Mai ist nun eine Moschee in Delmenhorst am 2. Juni mitternachts Ziel eine Feuerattacke geworden. Beide Brände konnten rechtzeitig entdeckt und gelöscht worden. Die Polizei bzw. Beamte des Staatsschutzes ermitteln in beiden Fällen wegen vorsätzlicher Brandlegung. Auch soweit es kein Bekennerschreiben gibt, schließen die Ermittlungsbehörden nicht aus, dass die Täter aus einem politischen oder rechtsextremistischen Motiv handelten. Beide Moscheen sind Mitglied im Landesverband der Muslime – Schura Niedersachsen – der einen friedfertigen und an harmonischem Miteinander orientierten religiösen Weg vertritt. Diese Taten verurteilt Schura Niedersachsen auf das Schärfste.

Seit über zehn Jahren werden muslimische Gemeinden in Deutschland regelmäßig zum Ziel von antimuslimischer Beschmierungen, versuchter Brandstiftungen und anderer Übergriffe oder Schändungen ihre Einrichtungen; mehr als 200 solcher Straftaten hat der Koordinationsrates der Muslime in Deutschland registriert. Bisher erfassen die Sicherheitsbehörden diese nicht gesondert. Dieser Trend setzt sich bis heute fort. Islamfeindlichkeit kann genauso wenig wie Antisemitismus einfach unter „Fremdenfeindlichkeit“ oder „Hassdelikte“ subsumiert werden, sondern muss – gerade wegen seines fortbestehenden Charakters – als ebenso eigenständiger Tatbestand gewertet werden.

Wir sehen hier eine Herausforderung für den niedersächsischen Innenminister Schünemann. Gerade er hat in Niedersachsen mit den vor aller Augen über Jahre durchgeführten, aber gleichwohl verfassungswidrigen „verdachtsunabhängigen Moscheekontrollen“ für eine antimuslimische Stimmung in unserem Bundesland gesorgt. Schura Niedersachsen vertritt niedersächsische Bürger. Die Islamischen Religionsgemeinschaften sitzen seit Jahren gemeinsam mit den Niedersächsischen Sicherheitsbehörden an einem Tisch. Wir erwarten von unserem Innen­minister, dass er sich mit allen ihm zu Gebote stehenden Mitteln für die Aufklärung und Ahndung solcher Brandanschläge einsetzt und persönlich vor Ort dies den betroffenen Gemeindemitgliedern zusichert.

Bis dahin kann Schura Niedersachsen seinen bald 90 Gemeinden nur raten: Haltet die Außentüren abgeschlossen, lasst – auch wenn es warm ist – die Erdgeschossfenster zu, seid wachsam, investiert in Sicherheitstechnik; und beteiligt euch zusammen mit Parteien, Gewerkschaften, Kirchen und anderen in Initiativen und Kampagnen gegen Rechtsradikalismus und Fremdenfeindlichkeit! Hass und Gewalt darf niemals wieder in der Mitte der Gesellschaft geduldet werden – und auch nicht an ihren Rändern.

"IZ-Begegnung" mit Markus Henn von der Nichtregierungsorganisation WEED über den Anstieg globaler Lebensmittelpreise

(iz). Heute gilt der bequeme Grundsatz, dass wir nur für ­unser politisches, aber nicht für unser ­öko­no­misches Handeln Verantwortung übernehmen. Im Hier und Jetzt gibt es realen Grund zur Em­pö­rung. Die verbreitete Spekulation mit Nahrungsmitteln kostet unter unseren Augen jeden Tag neue Opfer. Nicht alle nehmen das schweigend hin. Mit verschiedenen Aktionen haben in der letzten Zeit einige NGOs dagegen protestiert, wie Finanzinvestoren die Preise von Nahrungsmit­teln beeinflussen.

Eine der hier ­engagierten Einrichtung ist WEED e.V., eine unabhängige Nichtregierungsorganisation, die sich seit über 20 Jahren mit den sozialen und ökologischen Auswirkungen der Globalisierung beschäftigt und im Sinne einer Wende in der Finanz-, Wirtschafts- und Umweltpolitik hin zu mehr sozialer Gerechtigkeit und ökologischer Tragfähigkeit arbeitet. Die aktuellen Arbeitsbereiche sind Weltfinanzsystem, Welthandel und globale Produktion und die Rolle der öffentlichen Beschaffung. WEED will bei seiner Arbeit die Mitverantwortung der Industrienationen stärker ins Zentrum rücken.

Hier sprachen wir mit Markus Henn. Er hat ein Magisterstudium in Politikwissenschaft mit den Nebenfächern Recht und Volkswirtschaftslehre an der Universität München absolviert. Er kam Anfang 2010 zu WEED. Sein Fokus liegt dabei zurzeit auf der Reform der Derivatemärkte, mit besonderer Berücksichtigung von Rohstoff­spekulation. Markus Henn ist auch seit 2007 Mitglied der Arbeitsgruppe Finanzmärkte von Attac Deutschland.

Islamische Zeitung: Lieber Herr Henn, ihre Einrichtung WEED hat Kurzem zusammen mit andern NGOs gegen „Lebensmittelspekulation“ protestiert. Was verstehen sie darunter?

Markus Henn: Wir verstehen darunter, dass von Banken und Fonds Anlegern angeboten wird, dass diese auf Nahrungsmittelpreise spekulieren können. Das Geld, das in diese Banken beziehungsweise in Fonds fließt, wird an den so genannten „Warenterminbörsen“ kaufwirksam. Dort werden Verträge gehandelt, mit denen sich Bauern, Firmen und alle, die mit Rohstoffen handeln, ursprünglich gegen Preisschwankungen absichern können. An solchen Börsen tätigen die jeweili­gen Banken oder Fonds ihre Anlegergeschäfte, wodurch Märkte zweckentfrem­det und zu etwas gemacht werden, was sie eigentlich nicht sind. Das ist die, von uns kritisierte Nahrungsmittelspekulation. Durch sie werden die Preise an den Börsen verzerrt.

Islamische Zeitung: Wie hoch sind die Summen, die von deutschen Investoren in die Märkte eingebracht werden?

Markus Henn: Global gesehen gibt es in diesem Agrarbereich laut verschiedener Erhebungen Investitionen in Höhe von rund 100 Millionen US-Dollar, die an das Versprechen geknüpft werden, dass man von steigenden Agrarpreisen profitieren kann. Die genauen Zahlen für Deutschland sind schwerer herauszubekommen. Es gibt einige Untersuchung für einzelne Akteure; beispielsweise im Falle der Deutschen Bank, bei der es fünf Milliarde Euro, oder noch mehr sind. Vor Kurzem gab es neue Studie von ­Oxfam zur Allianz Versicherung, die mit rund sechs Milliarden Euro in dem Bereich tätig ist. Dies sind die größten deutschen Akteure.

Islamische Zeitung: Welche Auswirkungen hat diese Spekulation für Erzeuger, Verbraucher und die betroffenen Bevölkerungen – in den Ländern der Dritten Welt als auch bei uns – insgesamt?

Markus Henn: Wir gehen davon aus, dass die an der Lebensmittelspekulation beteiligten Finanzakteure letztendlich Terminverträge an den Börsen kaufen.

In Europa beispielsweise steht die führende Weizenbörse MATIF in Paris. Wenn dort Leute kaufen, die Anliegerinteressen befriedigen wollen, dann glauben wir, dass die Preise mittelfristig schwanken, weil sich so vorhandene Preisentwicklungen, die beispielsweise durch die Qualität der Ernten beeinflusst werden, extrem verstärken.

So kann aus einer kleinen Bewegung eine globale werden. In den letzten fünf Jahren haben wir so etwas bereits zwei Mal beobachtet. 2007/8 und 2010/2011, als es zwei starke Blasen nach oben gab – mit entsprechenden Abstürzen nach unten. Sowohl die hohen Preisspitzen als auch die starken Schwankungen führen zu Problemen. In Europa kann es sein, dass bestimmte Nahrungsmittel teurer werden oder dass Bauern mehr Probleme haben werden, Investitionen zu planen. Auch Lebensmittelfirmen können Schwierigkeiten bekommen, weil sie nicht mehr erklären können, wie die ­starken Preisschwankungen zustande kommen.

Diese Probleme verstärken sich dann noch einmal für die Entwicklungsländer. Dort machen die Preisschwankungen ­einen vielen größeren Unterschied aus. Je größer der Anteil an den Haushaltsausgaben für Lebensmittel (das können auch mal 50 Prozent sein in Entwicklungsländern, während wir in Europa nur durchschnittliche 15 Prozent ­unseres Einkommens für Lebensmittel ausgeben müssen), desto krasser ist eine Lebensmit­telpreissteigerung von 50 Prozent. Letztlich haben jene Preisschwankungen und die beiden Spitzen in den letzten fünf Jahren dazu geführt, dass mehr Menschen verarmen und hungern müssen. Hierzu gibt es ziemlich eindeutige Zahlen von der Weltbank oder dem Welternährungsprogramm, wie viele Menschen in den letzten Jahren hungern mussten – es sind viele Millionen.

Islamische Zeitung: Vor geraumer Zeit berichteten Massenmedien wie „Spiegel“ oder „Zeit“ darüber, das auf dem Indischen Subkontinent Dutzende Millionen Menschen mehr Hunger leiden müssen. Hängt das mit der Lebensmittelspekulation zusammen?

Markus Henn: Man muss sich jedes Mal genau anschauen, wo die Preise steigen. Es lässt sich nicht so einfach sagen, dass die Aktionen einiger Fonds zu ­einem Preisanstieg in Indien führen. Das wäre natürlich eine starke Vereinfachung. Es gibt in der ganzen Begründungskette auch Unsicherheitsfaktoren.

Man kann aber sagen, dass sich diese internationalen Preisspitzen zumindest in diesen letzten fünf Jahren auf die loka­len Märkte in Entwicklungsländern übertragen haben. Insbesondere geschieht dies über die Einfuhren, die diese Länder oft tätigen müssen. Natürlich gibt es in jedem Einzelfall aber auch lokale ­Ursachen, warum hier – lokal oder regional – eine Hungersituation besteht. Es kann sein, dass es schlechte Ernten gab, dass dort eine schlechte Regierung im Amt ist oder dass an dem jeweiligen Ort zu wenig in die Landwirtschaft investiert wurde. Auch der Klimawandel trägt dazu bei, dass Böden schlechter werden.

Es lässt sich trotz dieser ­Unsicherheiten sagen, dass sich diese Preisspitzen übertragen und man kann mit guten Gründen davon ausgehen, dass diese Preisspitzen mit der Lebensmittelspekulation zu tun haben.

Islamische Zeitung: Es gibt Beobachter, die meinen, dass die Anstiege bei den Lebensmittelpreisen mitverantwortlich für die Ausbrüche der Unruhen beispielsweise in Nordafrika waren. Was bedeutet dieses Phänomen in sozialer und politischer Hinsicht für betroffene Gesellschaften? Kann man ihre Erkenntnisse hier übertragen?

Markus Henn: Insgesamt auf jeden Fall. Es gibt auch eine Studie, die gezeigt hat, dass sich in diesen ­Hochpreisphasen die Zahl der berichteten Aufstände und Unruhen in Ländern der Dritten Welt beziehungsweise in den Schwellenländern extrem verstärkt hat. Man kann eine Verdichtung dieser politischen Probleme ­erkennen.Natürlich müssen wir auch hier bei ­jedem einzelnen Land genau hinschauen und untersuchen, ob die lokalen Preisanstiege mit den internationalen in Verbindung stehen.

Zu Ägypten beispielsweise gibt es konträre Stimmen, die keinen Zusammenhang zwischen diesen Phänomenen erkennen können. Aber in Tunesien wird die Lebensmittelspekulation jedenfalls als einer der Gründe genannt, warum die Menschen derart ­bereit waren, den Aufstand zu unterstützen.

Die Lebensmittelspekulation spielt ­sicherlich eine Rolle und ist eine destabi­lisierende Komponente. Man müsste natürlich debattieren, ob diese Aufstände beispielsweise in Nordafrika nur ­negativ gewesen sind. Das wird sich in den nächsten Jahren erweisen müssen. Aber man kann sagen, dass jeder Hungernde, der auch den Aufstand mitgemacht hat, einer zu viel ist.

Islamische Zeitung: Einige Ana­lysten sind der Ansicht, dass die Finanzmärkte in Folge der Finanzkrise von Geldern aus den diversen Rettungsaktionen überschwemmt wurden. Viele Anleger hätten sich gegen bisherige Investitionsmodelle entschieden und sich für Investitionen in Warenmärkten – wie Lebensmittel oder Gold – entschieden. Sehen sie hier eine der Ursachen für die Lebensmittelspekulation?

Markus Henn: Auf jeden Fall. Dass hier eine Übertragung stattfindet, gilt eigentlich am wenigsten umstritten. Klar ist auch, dass die von den ­Zentralbanken bereitgestellten Summen zu einer Inflation der verschiedenen Vermögenswerte führen. Dazu gehört heute eben auch der Rohstoffbereich, der auch auch nur ein Vermögenswert unter anderen ist – wie Immobilien.

Die Frage ist hier, ob die Krise das gezielt ausgelöst hat. Das lässt sich nachweisen: Als die ersten Märkte aufgrund der geplatzten Blase für Immobilien zusammenbrachen und die Anleger aus ­Aktien und anderen Anleihen flohen, galten die Rohstoffmärkte als eine der Möglichkeiten, sich einen gewissen Gewinn zu sichern oder zumindest kein Geld zu verlieren.

Es ist allerdings so, dass manche Elemente bereits vor Beginn der ­Spekulation begonnen haben. Gerade die großen Fonds wurden bereits ab 2005 und 2006 aufgelegt, als die Pensionsfonds sehr viele Gelder in die Lebensmittelmärkte pumpten. Hier gab es also schon vorher einen gewissen Investmenttrend. Es galt als ganz toll, einige Rohstoffwerte im eigenen Portfolio zu haben.

Mit der Finanzkrise hat sich dieser Trend deutlich verstärkt, als Akteure wie die großen Hedgefonds in die Rohstoffmärkte drängten. Natürlich haben auch die Banken das als neues Beschäftigungs­feld entdeckt. Seit die Preise ab 2007 anstiegen, gab es eine zusätzliche Motivation, auch wegen der erhöhten Preise mehr zu verdienen. An diesem Punkt haben sich noch mehr Leute beteiligt, die früher gar nichts mit Rohstoffen zu tun hatten.

Islamische Zeitung: Seit einigen Jahren hört man von einer neuen Landnahme beziehungsweise dem so genannten „Land Grab“. Das heißt, der Kontrolle und komplett autarken Bewirtschaftung in den Ländern der Dritten Welt durch ostasiatische und arabische Staaten beziehungsweise durch Fonds. Sehen sie darin eine untergründige Entwicklung, die mit der Lebensmittelspekulation verbunden ist?

Markus Henn: Das hängt schon einmal insofern zusammen, als es die gleichen Akteure sind, welche dies als ­Anlage anbieten. In Deutschland bieten die Deutsche Bank über ihre Tochter DWS sowie die Allianz und andere die Möglichkeit an, über die bereits angesproche­nen Termingeschäfte hinaus zu investieren. Da ist Land natürlich eine Möglichkeit.

Generell ist der Rohstoffsektor eine Investition, die als zukunftsträchtig gilt, bei der Preise ansteigen werden, bei der es Bedarf gibt und aus der man Renditen erwirtschaften kann. Das erfasst ­sämtliche Elemente der Landwirtschaft wie Agrarunternehmen, aber auch direkte Investi­tionen in Land. Die zugrunde liegende Überlegung ist eine etwas andere als im Falle der Spekulation, bei der Terminge­schäfte erworben werden. Hier handelt es sich um Anlageformen, die nicht verloren gehen. Das ist eine große Verfügungsmacht, mit der man große Renditen abschöpfen kann.

Das ist der klassische Kapitalismus, bei dem man sich direkten Zugriff auf die Produktionsmittel verschafft; im Gegen­satz zur Spekulation in Termingeschäfte, wo man es eher mit einer anspruchsvolleren Verwertung zu tun hat. Die Akteu­re sind teilweise deckungsgleich und es gibt generell einen starken Trend, jene Dinge zu Geld zu machen. Ein anderes Beispiel wären Investitionen in Wasser. Es existiert eine große Bewegung zur stärkeren Nutzung natürlicher Ressourcen als Renditeobjekte.

Islamische Zeitung: Viele Menschen haben ja die Hoffnung, als Verbraucher Einfluss nehmen zu können. Ein Beispiel wäre die Bewegung des gerechten Handels. Stellen die Fair Trade-Produkte ihrer Meinung nach eine Alternative dar?

Markus Henn: Es gibt indirekte Verknüpfungen weil beispielsweise der globale Preis für Kaffee oder Kakao, um zwei klassische Fair Trade-Produkte zu nennen, indirekte Folgen für den gerechten Handel hat. In manchen Hochpreispha­sen geriet der faire Handel unter Druck, weil die festen Abnahmepreise des gerechten Handels teilweise nicht mehr so gut waren, wie der internationale Preis. Das hat dann natürlich auch insgesamt Auswirkungen auf die Struktur des gerechten Handels.

Es lässt sich aber sagen, dass das Fair Trade-Produkt diesem Kreislauf ein bisschen entzogen ist, weil die Preisgestaltung nicht über die Börsen läuft. Seine Preisverhandlungen sind generell vom internationalen Markt – wie die Börsen in Paris oder Chicago – getrennt. Wer Fair Trade-Produkte kauft, trägt dazu bei, dass die Dominanz von diesen inter­nationalen Preisen ein Stück weit gebro­chen wird. Solange dies nur in dem Maße geschieht, in dem der gerechte Handel stattfindet, ist der Effekt natürlich nicht ganz so stark. Man kann sich als Konsu­ment trotzdem sagen, dass man zu ­einer alternativen Struktur beiträgt, die ohne diese Börsen auskommt und die vielleicht auch besser und nachhaltiger sicherstellt, dass die Menschen ein gutes ­Auskommen haben.

Islamische Zeitung: Ganz praktisch gefragt; können Verbraucher oder Anleger erfahren, welche Unternehmen und Banken an diesen Geschäften beteiligt sind?

Markus Henn: Es gibt von attac im Rahmen der Kampagne zum Bankwech­sel Materialien, in denen auch geprüft wird, ob beziehungsweise inwieweit Banken bei Nahrungsmittelspekulation engagiert sind. Dort kann man sich das ansehen. Die Deutsche Bank beispielsweise ist bei den Unterlagen von attac als ein ganz großer internationaler Akteur immer vorne mit dabei. Solche Anlagen finden sich aber auch bei der Genossenschaftsbank, bei der Commerzbank und bei anderen. Hier handelt es sich um ein Geschäft, das fast alle Banken mit betreiben. Hier kann man sich zumindest einen Überblick verschaffen, wer besonders stark engagiert ist.

Islamische Zeitung: Sehen sie Handlungsmöglichkeiten für die Politik, hier einzugreifen?

Markus Henn: Die Vorgaben zum Thema Finanzmärkte sind inzwischen sehr stark europäisiert. Viele Gesetze darüber, was Banken oder Fonds hier machen dürfen, sollen oder müssen, ­werden inzwischen auf der europäischen Ebene festgelegt. Hier entscheidet sich, was verboten werden kann – woran wir auch konkret arbeiten. Aktuell ist dies die EU-Reform der Märkte für Finanzinstrumente. Es geht dabei um eine bessere Regulierung der Warenterminmärkte wie die Börse in Paris.

Die nationale Ebene kann dort einen gewissen Spielraum ausnutzen. Das wird aber auch davon abhängen, wie genau eine europäische Vorgabe ist; beispielsweise, ob darin steht, dass die Nationalstaaten keine strengeren Regeln oder höheren Grenzen erlassen dürfen. Wenn so etwas von der EU festgelegt wird, ist hier der Spielraum eingeschränkt. Sollten aber nur gewisse Mindestvorgaben festgelegt und den Nationalstaaten gewissen Freiheiten gelassen werden, dann wäre der Spielraum für die Politik größer. Es ist aber schwer zu sagen, was hier herauskommen wird.

Man kann natürlich sagen, es ist poli­tisch immer möglich, dass Deutschland erst einmal ein Verbot erlässt. Dieses könnte sich dann europäisch durchsetzen. Einen solchen Fall hatten wir bei den so genannten Leerverkäufen für Staatsanleihen, die zuerst nur in Deutschland untersagt wurden. Das wurde dann auf der europäischen Ebene übernommen. Insofern ist es oft eine politische Frage, bei der erst einmal national Entscheidungen getroffen werden, die dann auf europäischer Ebene weiter betrieben werden. Es gibt aber Begrenzungen, was die deutsche Politik noch alleine entscheiden kann.

Islamische Zeitung: Lieber Herr Henn, wir danken für das Interview.

Hintergrund: Die europäischen Muslime streiten um die Zukunft der politischen Terminologie. Von Sulaiman Wilms

„Tse Lu: Der Herr Wei wartet darauf, dass du eine Regierung bildest. Was wirst du als erstes tun? Kung: Die Namen klären. Tse Lu: Wie kann das sein? Du schweifst ab. Warum sie festlegen? Kung: Du Kürbis! Sprosse! Wenn ein Mann kein Wissen hat, sollte er Zurückhaltung an den Tag legen. Wenn Worte nicht genau sind, kann man ihnen nicht folgen oder eine Handlung entsprechend ihrer Bedingungen vollenden.“ (Konfuzius, aus der engl. Übersetzung von E. Pound)

(iz). Brühl. Am frühen Nachmittag des 12. Mai, fand eine Deutschlandpremiere statt. Das erste Mal stritten auf Einladung der Bundeszentrale für politische Bildung/BpB ­Muslime über die Konstrukte „liberaler“ beziehungsweise „konservativer Islam“. Man muss der BpB dankbar sein, dass sie diese Gelegenheit ermöglichte. Die muslimischen Verbände jedenfalls ­waren bisher nicht in der Lage, diese ­überfällige und für die Muslime wichtige Debatte zu moderieren. Bereits wegen ihrer räumlichen Aufteilung mussten die TeilnehmerInnen (die Lehrerin Lamya Kaddor vom Liberal-Islamischen Bund e.V./LIB, der Lehrer und Blogger Hakan Turan, Aiman Mazyek vom Zentralrat der Muslime und der Autor) wie Gegner wirken. (Dass sich meine Beiträge, wie sich zeigen sollte, auf alle Lager des „politischen Islam“ bezog, wollte oder konnte in der bi­nären Debatte nicht zur Kenntnis genommen werden.)

Obwohl die Teilnehmer stellenweise polemisch wurden, war die Diskussion hilfreich. Immerhin wurde dem Publikum ein Geschmack davon vermittelt, dass und wie um einen Begriff ­gestritten wird. Klar wurde auch, was sich anhand des „liberalen Islam“ zeigt: Die Terminologien, die innerhalb der europäischen Muslime und im Austausch mit ihren Gesellschaften üblich sind, werden ­bisher kaum hinterfragt. Dass diese Begriffe problematisch sind, zeigt sich gerade in der Reaktion auf die IZ: Manchen ist sie zu konservativ, anderen zu liberal.

Ein weiterer Mosaikstein ist ebenfalls von Bedeutung: Eine Rednerin war der Ansicht, wir sollten uns nicht zu lange mit der Bestimmung der Begriffe aufhal­ten. Genau aber diese sind ein Kernprob­lem, an dem europäische Muslime labo­rieren. Von Norwegen bis Italien und von Irland bis Russland: Überall werden sie mit „Islamismus“, „Salafismus“, „libe­ralem Islam“, „Reform des Islams“ oder „Multikulturalismus“ konfrontiert. Ressourcenmangel und fehlender Einfluss auf die Debatte verhindern, dass sich Muslime von ihr freimachen oder sie selbst gestal­ten können.

Dies ist kein abgehobenes Glasperlen­spiel. Begriffe werden von einer Bedeutung (und von politischen Handlungselementen) begleitet, die mit ihr einhergehen. Nehmen wir die allerorten, und selten hinterfragte Forderung nach „Inte­gration“: Natürlich gibt es Gruppen, die nicht oder nicht ausreichend in ihren Heimatländern eingefügt sind oder Probleme damit haben. Die permanente Anwendung der „Integration“ auf den Islamdiskurs aber erzeugt die Vorstellung, dass sich Muslime wegen ihrer Religions­zugehörigkeit „integrieren“ müssten. Wieso aber sollte dies gerade auf europä­ische Muslime zutreffen?

Der konkrete Begriff übersieht, dass die Mehrheit der Muslime in Europa (das Gebiet westlich des Ural) gebürtige Europäer sind und es daher nichts zu integrieren gibt. Das Problem der fremdbestimmten Terminologie geht tiefer: Mittlerweile ist „Integration“ in ihrer dominanten Form in den muslimischen Diskurs „integriert“. So hieß es in einer merk­wür­digen Presseerklärung über den gemeinsamen Ramadananfang der muslimi­schen Verbän­de, dass diese Entscheidung der „Integra­tion“ diene.

Islamismus – der Bulldozer der Debatte
Ortswechsel. Auf der Webseite der „Zeit“ fand vor Kurzem eine muntere Debatte statt, als ein ägyptischer Präsidentschaftskandidat als „netter Islamist“ bezeichnet wurde. Die ­Forumsteilnehmer diskutierten versiert über die Gültigkeit des „Islamismus“-Begriffs; viele stellten ihn in Frage und hielten diesen „Ausgrenzungsbegriff“ (Prof. W. Schiffauer in der IZ) für ungeeignet. Kurzum, man rieb sich die Augen und wünschte sich, dass auch Muslime so debattiert würden.

Während in den letzten Jahren Konflikte um vermeintliche „Massenvernich­tungswaffen“ geführt wurden, kam – sozusagen auf geistiger Ebene – spätestens seit dem 11. September 2001 der „Islamismus“ zum unterscheidungslosen Einsatz. Genauso wenig, wie Luftangriffe im afghanisch-pakistanischen Grenzland „chirurgische“ sind, und manchmal zivi­le Hochzeitsgesellschaften treffen, genau­so wenig enthält der „Islamismus“ genug Substanz, um kundig einen Sachverhalt zu beschreiben. Wie das Flächenbombardement einer B-52 betrifft er alle: Terroristen, Wahhabiten, Hamas-Sympathisanten, den politischen Islam, aber auch viele gesetzestreue und engagierte europäisch-muslimische MitbürgerInnen.

Einmal als „Islamist“ etikettiert, eröff­net sich die ganze Palette implizierter, angeblicher Einstellungen: anti-demokratisch, fundamentalistisch, frauenfeindlich und antisemitisch. Nichtsdestotrotz, oder gerade vielleicht deswegen, werden Muslime damit überzogen und es bleibt ihnen – von Ausnahmen abgesehen – oft nichts übrig, als sich dem Bulldozer-Charakter dieses Begriffes zu beugen. Eine Ausnahme war der türkische Außenminister Davutoglu, der bei einem Deutschlandbesuch im Gespräch mit ­Innenminister Friedrich diese Terminologie von sich wies.

Obwohl „Islamismus“ ­wissenschaftlich klingt, sehen sich Ganz- oder Halbexper­ten gezwungen, ihn durch Zusätze qualifizieren zu müssen. So vermeinen sie, zwischen einem „legalistischen, gewaltfreien Islamismus“ und einem „gewalttä­tigen Islamismus“ unterscheiden zu können beziehungsweise zu müssen. Sucht man nach „Islamismus“ auf Wikipedia (dem angeblich zuverlässigen online-Kom­pendium allen Wissens), erscheint zuerst eine Notiz, wonach das ­ellenlange Elaborat einer Überarbeitung bedarf. Nicht wirklich vertrauenserweckend. Der Rest liest sich wie eine der handelsüblichen Zusammenstellungen, die man auch in Zeitungsartikeln oder in staatlichen Veröffentlichungen geboten bekommt. Laienhaft formuliert steht der „Islamismus“ in den Augen seiner User für den „politischen Islam“ (allerdings nur für den unangenehmen; seine politisch korrekte Variante – die liberale – ist durchaus willkommen), der seine religiösen Ansichten politisch umsetzen will.

Und hier liegt das Problem: Wird jeder Muslim, der sich veranlasst sieht, sich dank seiner Religion sozial zu ­engagieren oder Lösungsansätze für Probleme zu formulieren, damit zum „Islamisten“? Wenn nein, wo fängt er an? Es ist genau diese Unschärfe, die den „Islamismus“ hat so erfolgreich werden lassen. Je unbestimm­ter, desto mehr sind wir von ihm betrof­fen und desto weniger können wir uns zur Wehr setzen. So ist in diesem Kontext der Kategorisierung islamischer Lebenspraxis zu fragen: Ist die Zahlung oder die Einsammlung der ­Zakat etwas Politisches, etwas ­Religiöses oder Ökonomisches?

Es ist natürlich zu bezweifeln, dass sich der ideologische Begriff aus der islamischen Lehre ableiten ließe. „Islamismus“ hieße ja, dass Musli­me den Islam und seine Überzeugungen anbeten würden. Dies widerspricht aber im Kern dem Din selber, der ja ein Mittel zu Anbetung Allahs ist – und kein Ziel in sich.

Phänomen Salafismus
Würde die öffentliche-mediale Wahrnehmung stimmen, dann wäre Salafismus eine Steigerungsform des „Islamismus“, wenn nicht gar des Islam selbst. Gemeinhin werden die Anhänger jener Bewegung, die ihre Wurzeln in der wahhabitischen Bewegung Arabiens hat, oft als sehr strenge Muslime definiert. Eine Vorstellung, von der sie selbst am meisten profitieren, weil ihnen das den Nimbus von „Frömmigkeit“ und „Reinheit“ verleiht.

Hierbei wird übersehen, dass diese Gruppierung in ihrer Anfangszeit (bis zum Ende des Khalifats) als Sekte (manche sahen in ihr eine Nachahmung der Khawaridsch) galt. Weil Salafisten aber seit Jahrzehnten jeder anderen muslimi­schen Formation vorwerfen, irre geleitet zu sein (bis hin zur Unterstellung, man werde durch angeblich falsche Ansichten zum Nichtmuslim), drängten sie die Mehrheitsmuslime in die Defensive. Wird der Wahhabismus aber als eine Art Steigerungsform des Islam wahrgenommen, dann verwischt sich die Grenze zwischen sektiererischen Ansichten und dem Mehrheitsislam.

Diese Selbstzuschreibung von „Salafis­ten“ als quasi „Avantgarde“ ist nichts anderes als eine Anmaßung gegenüber den Mehrheitsmuslimen. Sie pachten durch diese ­Adaption der „Salaf“ (jener respek­tierten ersten Generationen des frühen Islam) einen Begriff (und damit einen Anspruch) für sich, der im Grunde jedem praktizieren­den Muslim zukommt. Dieser Anspruch wird nicht durch eine Behauptung zu einer Realität, sondern durch die Lebensführung. Wo aber zahlen „strenggläubige“ Salafisten ihre ­Zakat, gründen Stiftungen oder organi­sieren Märkte?

Alles liberal, oder was?
Wie der „Salafismus“ entstand der „liberale Islam“ (und sein notwendiges Gegenteil, der „konservative“) innerhalb der Community selbst – aber auch in Abgren­zung zur absoluten Mehrheit. Natürlich wurde der angebliche Streit dankbar von Massen­medien aufge­nom­men, die seinen VertreterInnen bisher einen deutlichen Vorrang einräumten. Um Missverständnisse zu ­vermeiden: „Liberal“ und „konservativ“ sind beides poli­tische Begriffe. Es geht hier nicht darum, eine Position zu bevorzugen und es ist keine Anmaßung zu vermuten, dass die Mehrheit der europäischen Muslime weder das eine, noch das andere Etikett für sich beanspruchen.

Hier ist kein Platz für eine inhaltliche Auseinandersetzung mit einem, als „libe­ral“ etikettierten Islamverständnis. Dies ist auch nicht einfach, weil bisher nur Hakan Turan mit seinen „Fünf Thesen“ überhaupt eine kohärente Definition des „liberalen Islam“ lieferte. Aufgrund ­seines Sachverstands musste er, dem es nicht an Ernsthaftigkeit mangelt, in seinem Text vom 17. Mai manche Ansicht in bisherigen Publikationen korrigieren.

Es ist eine Pointe, dass den vermeintli­chen „Liberalen“ bisher nicht von „Konservativen“ widersprochen wurde. Niemand stand auf und sagte: „Ich bin konservativ, und ihr habt Unrecht!“ Die Mehrheit der Gegenstimmen zum Streit, der am 8. August 2011 durch einen Beitrag von Lamya Kaddor in der „Süddeut­schen Zeitung“ ausbrach, verweigert sich gerade jeder Etikettierung. Auch auf ­Nachfrage in Brühl konnte sie die Gruppe junger konservativer Muslime nicht eingrenzen, die sie in ihrem Text zu identifizieren suchte.

Wie im obigen Falle haben wir es mit einer Terminologie zu tun, deren ­Inhalt nicht in einer öffentlichen Debatte bestimmt wurde oder sich im Rahmen eines Konsens entwickelte. Sie entstand als Mittel im Kampf um Deutungshoheit. Darüber hinaus bleibt er unbestimmt, wie Hakan Turan schreibt: „Es ist erfor­derlich, dass innermuslimisch definiert wird, in welchem Sinn und in welchem Interesse diese Begriffe verwendet werden.“ Ein Blick auf die Webseite des LIB e.V. eröffnet bisher keine tiefere Durchdringung des eigenen Anspruchs, soweit es positive Begriffsdefinitionen betrifft.

Das liberale Konstrukt basiert wie alle, auf Gegensatzpaaren beruhenden Begriffe seit dem 11. September 2001 auf simplen Mechanismen. Indem man sich als „liberal“ bezeichnet, wird das Gegen­über fast automatisch „konservativ“ (inklusive aller negativer Zuschreibungen). Diese negative Abgrenzung erspart den mühsamen Weg hin zur Formulierung von positiven Inhalten, was auch der Text von Hakan Turan andeutet. Es wäre vergebene Liebesmüh, von den Fraktionen des politischen Islam sozio-ökonomische Lösungsansätze zu erwarten, die Kernelemente der islamischen Sozialethik (Mu’amalat) sind.

Außerdem offenbaren die bisher mit dem Begriff des „liberalen Islam“ in Verbindung stehenden Debattenfelder alte säkularen Glaubensfragen im neuen Gewand – „liberale Demokratie, Meinungs­freiheit und Pluralismus“ (Turan). Derartig ideologisch aufgeladen und mit solchen Ansprüchen aus der Werte-Debatte versehen, ist der „liberale Islam“ ein Kampfmittel im Streit um die Deutungs­hoheit innerhalb der muslimischen Community. Wie man die Sinnlosigkeit des „Liberalismus“-Begriffs weiter auf die Spitze treiben kann, belegte am 24. Mai die „New York Times“. Die US-Tageszeitung nannte den eingangs erwähnten Präsidentschaftskandidaten Aboul Foutouh einen „liberalen Islamisten“. Man könnte auch ergänzen, er ist ein ­liberaler Konservativer.

Auf dem Weg zur Verchristlichung?
Es gibt eine untergründigere, nur ­selten an die Oberfläche tretende Entwicklung, von denen der Liberalismus-Begriff nur eine Äußerung ist. In seiner spirituellen Ausformung, aber auch in der Lebenswirklichkeit könnte man das, wie es der Islamwissenschaftler und Autor Muham­mad Sameer Murtaza messerscharf in Brühl tat, als Verchristlichung bezeichnen. Analog zur Entwicklung des Protes­tantismus, der sich auf einen esoterischen „Glauben“ reduzierte, erlebte die musli­mische Moderne – interessanterweise ­jenseits sämtlicher Ideologien -, dass sich viele Muslime heute stärker denn je auf symboli­sche Handlungen und bestimmte Themen fixieren. Und dies, obwohl die religiöse Lebenspraxis dieses Dins in ­ihren Kernbereichen keine Symbolik kennt.

Auf ritueller Ebene wäre dies die Konzentration auf das Freitagsgebet, während viele Moscheen – aufgrund der Dominanz der ökonomischen Sphäre – tagsüber leere Räume sind. Ein anderes Beispiel ist die Obsession mit Lebensmittel­zusätzen, die in den frühen 1990er Jahren einen großen Platz innerhalb muslimischer Publikationen einnahmen. Und, last but not least, die Reduktion von Frauen auf das Kopftuch. So, als wäre dies das Endziel der spirituellen, gemein­schaftlichen oder sozialen Aktivitäten von Musliminnen.

Was den „liberalen Islam“ von konven­tionellen Formen muslimischer Überzeugungen trennt, ist sein Hang zur expli­ziten Zuspitzung. Auf der LIB-Webseite findet sich dazu der Satz: „Die theologische Basis für die Repräsentanz von liberalen Muslimen und Musliminnen in Deutschland lässt sich auf einen gemeinsamen Nenner bringen: die Schahada – das islamische Glaubensbekenntnis. Dieses bezeugt den Glauben an den Einen Gott sowie den Glauben an Muhammad als Gesandten Gottes. Bei allem, was über diesen Kern hinausgeht, darf dogmatische und kulturelle Einheit weder Ziel noch Voraussetzung sein.“ Um solche obskure Neuinterpretationen zu rechtfertigen, ist es notwendig, sich in regelmä­ßigen Abständen von der Tradition abzugrenzen.

Die Tendenz einer verchristlichten Zwei-Welten-Lehre ist kein Privileg einer spezifischen Ausformung des politischen Islam. Sie ist – leider – massenkompatibel. Eine ihrer Manifestationen ist die Trennung zwischen persönlichen Glaubensüberzeugungen und dem Handeln in dieser Welt. Vergleichen wir die Quantität der ökonomischen Verpflichtungen des Dins mit der heutigen Glaubenspraxis müssen wir eine enorme Diskrepanz festhalten. Mehr noch: ­Während Imame die kleinsten Feinheiten der ritu­ellen Waschung oder ­erstrebenswerte Charaktereigenschaften in den Mittelpunkt ihrer Freitagspredigten rücken, spielen die Mu’amalat und namentlich die ökonomischen Gesetze keine Rolle.

Die Trennung zwischen sichtbarer und unsichtbarer Welt, zwischen „Glauben“ (kaum ein gebildeter Muslim würde diesen Begriff verwenden) und „Handeln“ widerspricht der islamischen Einheitsleh­re. Das gleiche gilt für die Aufspaltung der Kernelemente des Dins in Glaubens­lehre/Iman und rituellen Handlungen/­Islam. In einer der wichtigsten prophetischen Überlieferung, die wegen ihrer Relevanz auch als „Mutter der ­Hadithe“ bezeichnet und von ‘Umar überliefert wurde, erklärte der Prophet Muhammad, möge Allah ihn segnen und ihm Frieden geben, dass der Din aus den drei verbundenen Teilelementen Islam (die fünf Säulen: Schahada, Gebet, Zakat, Fasten im Ramadan und Hadsch), Iman (die sechs Glaubensgrundlagen) sowie Ihsan (spirituelle Perfektion) besteht. Hier eine künstliche Trennung vorzuneh­men, ­hieße die Lehre der Einheit und der Eigenschaften Allahs (Tauhid) von dem zu trennen, was der Prophet an Verhaltensmustern hinterließ. Jede politische Dialektik übt einen permanenten Zwang zur Zuspitzung (früher sprach man von permanenter Revolution) aus: Konsequent fortgeführt, endet diese Denkrich­tung in der de facto Leugnung des zweiten Teils der Schahada. Darüber hinaus bewirkt das künstliche Begriffspaar liberal-konservativ eine fortlaufende Spaltungsmöglichkeit. Wer heute noch liberal ist, kann morgen schon durch eine noch liberalere Glaubensrichtung als konservativ definiert werden.

Imam Abi Zaid Al-Qairawani schrieb im Vorwort seiner „Risala“, in der Einleitung zu seinem Kapitel über die Glaubenslehre: „Glaube [Iman] wird mit der Zunge ausgedrückt, durch die Aufrichtigkeit des Herzens und die Handlung der [Körper-]Glieder bestätigt.“

Die Kultur-Lüge
Bis jetzt hatten wir es mit Begriffen zu tun, die im Rahmen der europäischen Islam-Diskurse entstanden. Sie sind ihrem Wesen nach politische und folgen den Gesetzmäßigkeit moderner Politik. Der letzte Begriff hat sich separat von den obigen entwickelt und reflektiert die Tatsache, dass sich in den letzten 60 ­Jahren umfangreiche Einwanderergruppen in den westeuropäischen Staaten ­ansiedelten. In Ablehnung des real existierenden Rassismus der 1980er und 1990er ­Jahre, aber auch als Reaktion des Überbaus auf die Globalisierung der Ökonomie und ihres Zwangs zur uneingeschränkten Bewegung von Menschen, entwickelte sich das Konzept des „Multikulturalismus“.

In dieser Gemengelage aus Zuwanderung, Integration, Kulturkampf, Identität etc. wurde in Folge – und zum Leidwesen der europäischen Muslime – auch noch das Element „Islam“ eingebracht. So kam – bei vermeintlichen pro- wie anti-muslimischen Stimmen – das schädlich Missverständnis in die Welt, der Din sei eine wie auch immer geartete separa­te Kultur – entweder zu bejahen oder abzulehnen -, die seit Beginn der Einwande­rung von Muslimen hier heimisch wurde. Dieser irrige Begriff errichtet ständig neue Barrieren zwischen einer vermeint­lich christlich-abendländischen Kultur und dem – angeblich fremden – Islam. Sehen wir von realen kulturellen Verfallserscheinungen ab, die einige wenige Einwanderergruppen nach West­europa brachten (ein bekanntes Beispiel sind die unseligen und unislamischen „Ehrenmorde“), wirkt das alltägliche Missverständnis wesentlich subtiler, der Islam beziehungsweise der Muslim sei der Andere, der von der europäischen Kultur verschieden sei und daher „integriert“ werden müsse.

Die freundliche Sonne des „Multikulturalismus“ scheint aber nur auf denjenigen, der sich als fremder Exot in unsere bunte Patchwork-Gesellschaft einbringt. An jenen, die als Europäer in ihrer Religion authentische ­Antworten für diese Zeit und diesen Ort zu finden suchen, findet sie kein Vergnügen.

Die Zugehörigkeit zum Islam – wie die unzähligen neuen europäischen Muslime, Bosnier, Albaner, Bulgaren, West-Thraker und vor allem russischen Muslime belegen – bedeutet weder eine kulturelle Differenz, noch die Notwendigkeit für Muslime, der Multikulti-Ideologie anzuhängen. Sie stehen für das Ende vermeintlicher Hindernisse aus ­Identität und Kultur und stellen selbstverständlich auch keine Bedrohung für Europa dar. Genau hierfür braucht es Muslime (die natürlich die religiöse Lebenspraxis mit dem Rest der muslimischen Welt teilen) europäischer Mentalität, nicht Herkunft, welche durch ihre Existenz und ihr gelebtes Vorbild be-greifbar machen, dass der Islam keine Kultur ist.

Wollen Deutschlands und Europas Muslime zu einem handelnden Subjekt werden – und ihre Tendenz zu Atomisierung umkehren -, braucht es trotz gegenteiliger Annahme ein Nachdenken und auch einen Streit um die Begriffe. Nur wenn sie dieses vermögen, können sie sich freimachen von irrigen Konzepten und Vorstellungen, die ihnen von innen und außen aufgedrängt wurden. Die passive Übernahme der vorherrschenden Terminologie bedeutet die Fortsetzung bestehender Missverständnisse und Benachteiligung in den Debatten um den Islam.

Meinung: weiterführende Überlegungen von Zeycan Çetin über den Salafismus in Deutschland und seine politischen Folgen

“Um die Machtausübung zu bewahren, ist es notwendig, sich zu gewissen Zeiten des Terrors zu bedienen” (Niccolò Machiavelli, florentinischer Staatsphilosoph und Dichter)

(iz). Salafisten (Salafi) machen nicht erst seit der Koranverteilaktion auf sich aufmerksam. Die Bewegung existiert schon seit langen Jahren in Deutschland. Wieso aber wird erst jetzt so ausgiebig über diese Gruppierung berichtet? Wieso stürzen sich Politiker, Behörden und Medien gerade zu diesem Zeitpunkt so öffentlichkeitswirksam auf das Thema?

Bereits in den 1990er Jahren, insbesondere während und nach dem Krieg in Ex-Jugoslawien bildeten sich in immer mehr deutschen Städten salafistische Zirkel. Interessanterweise spielten auch einige Protagonisten der Kriege auf dem Balkan (sowohl des Bosnien- als auch Kosovokriegs) keine unbedeutenden Rollen beim Aufbau der salafistischen Gemeinden. Süddeutschland, vor allem Baden-Württemberg mit ihren Städten Freiburg, Heidelberg und nicht zuletzt Ulm/Neu-Ulm, scheinen schon in den 1990ern als Pilotregionen ausgewählt worden zu sein.

Aus dieser Region bereitete sich die Bewegung bekanntermaßen rasch in die gesamte Republik aus. Von hier stammten auch die vermeintlichen Inspiratoren und Mentoren der Szene. Hier wurden daher auch die konspirativen Begegnungsstätten wie der „Islamische Verein Ulm“, das „Multi-Kulturhaus“ (MKH) oder das „Islamische Informationszentrum“ (IIZ) – von Dritten unterstützt – aufgezogen. Nicht zuletzt betätigten sich in diesen Zirkeln zahlreiche V-Leute und Mitarbeiter verschiedener Nachrichtendienste.

Der Journalist und Autor Jürgen Elsässer enthüllt die Donau-Doppelstadt Ulm/Neu-Ulm in seinem Werk: „Terrorziel Europa. Das gefährliche Doppelspiel der Geheimdienste“ als Einsatzgebiet dieser Dienste: „Wer dort nach 9/11 zu Allah betete, geriet nicht nur in das Visier deutscher Staatsschützer, sondern auch ihrer US-amerikanischen Kollegen.“ Daneben sollen in Ulm auch ägyptische-, saudische- marokkanische- und israelische Geheimdienste um „islamistische“ Informanten geworben haben.

Weiter schreibt Elsässer, dass die Stadt „seit Ende der neunziger Jahre vom Verfassungsschutz gezielt zu einem ‘Honigtopf’ aufgebaut wurde, um militante Islamisten anzulocken, auch als Rekruten [!] für die Dienste.“ Der Publizist zitiert in diesem Zusammenhang auch einen Informanten, der folgendes zu Protokoll gibt: „Es geht dem Verfassungsschutz schon seit Jahren darum, Verdächtige aus einem größeren Umkreis nach Ulm zu locken. Dort wurden sie einerseits radikalisiert, andererseits als V-Leute gewonnen. Das war offensichtlich überhaupt kein Widerspruch für Staatsschützer.“

Interessant wird es, wenn man nachliest, wie wichtige Personen und „Organisator[en] des süddeutschen Islamisten-Netzes“ auf Drängen von Dritten nach Ulm und in die „Begegnungsstätten“ wie das Multi-Kulturhaus kamen. So zog beispielsweise Yehia Yousif, ehemaliger Unterstützer von muslimischen Kämpfern im Ex-Jugoslawien-Krieg und Schlüsselperson bei der Radikalisierung von vermeintlichen „Islamisten“ und von Juli 1996 bis März 2002 auch Mitarbeiter des baden-württembergischen Verfassungsschutzes, im Oktober 2000 von Freiburg nach Ulm, um die „Salafisten-Szene“ weiter zu konstruieren.

Yousif, der 1988 aus Ägypten nach Deutschland auswanderte, promovierte 1994 an der Universität Freiburg im Fachbereich Medizin. Er lieferte seinen Auftraggebern Indizien, die gegen das MKH, wo er selbst als Prediger tätig war, verwendet wurden, was Elsässer im Gespräch mit dem Anwalt des MKH aufdeckt. Den Anwalt Christoph Käss erinnere die ganze Geschichte an das NPD-Verbotsverfahren, wo viele Beweise überhaupt von V-Leuten produziert worden seien. Wie widersinnig ist es, möchte man sich fragen, dass jemand im Auftrag von Dritten kriminell operiert und seine Handlungen den Behörden als Beweismittel für seine Bösartigkeit zur Verfügung stellt.

Heribert Prantl schreibt in der „Süddeutschen Zeitung“ (SZ) in einem anderen Bezug über Spitzel: „Der Staat geht in die Irre, wenn er sich zu sehr auf solche Leute verlässt. Prantl, selbst ehemaliger Richter und Staatsanwalt, stellt zudem die Frage, die sich auch viele andere Menschen stellen: „Welchen Anteil an Straftaten hat der V-Mann? Hat er die Täter verleitet? Hat er sie zu den Taten angeleitet?“ Denn wenn dies so sein sollte, machen sich die Auftraggeber selber strafbar. Dann gibt es wieder viel Arbeit für Untersuchungsausschüsse und -kommissionen.

„Interessant“ sei für den Autor und Journalisten Eren Güvercin im Übrigen, „dass bei einer Hausdurchsuchung in der Wohnung von Yehia Yousifs Sohn, Omar Yousif, Unterlagen für die Herstellung des Flüssigsprengstoffs TATP gefunden wurden, mit dem später die Sauerland-Gruppe auf dilettantische Weise experimentiert“ habe. „Seltsamerweise wurde sowohl gegen Yehia Yousif als auch seinen Sohn kein Auslieferungsantrag gestellt, nachdem sie sich 2004 nach Saudi-Arabien abgesetzt hatten“, schreibt Güvercin in seinem kürzlich vorgestellten Werk: „Neo-Moslems. Portrait einer deutsche Generation“. Diese Dubiositäten verleiten Güvercin in seinem Buch zu der Frage und der danach folgenden Erkenntnis: „Wieso wird in den Mainstream-Medien bisher die Rolle des Hasspredigers Yousif, der gleichzeitig auch Informant des Verfassungsschutzes war, nicht hinterfragt? Yousif hatte entscheidend zum Erstarken salafitischer Gruppen beigetragen. Gleichzeitig war er aber auch Lohnempfänger des Verfassungsschutzes.“

Yehia Yousif, Reda Seyam und weitere wichtige Persönlichkeiten der salafistischen Szene haben nach diesen Feststellungen im Auftrag anderer Stellen für das Erstarken des Salafismus in Deutschland gedient. Die Personen, Organisationen und Wirkungsstätten sind beliebig austauschbar. Was in Ulm stattfand, kann heute genauso in Solingen, Hamburg, Bonn, Berlin oder Buxtehude stattfinden. Was früher die Aufgabe von Yehia Yousif und anderen Predigern gewesen ist, könnten heute Gans, Vogel, Fuchs und Adler übernommen haben. Was spricht dagegen, dass die Funktion, die früher beispielsweise das MKH, IIZ oder die „Sauerland-Gruppe“ spielten, heute Organisationen wie die „Internationale Dschihad Union“ (IJU), „Globale Islamische Medienfront“ (GIMF), „Islamische Bewegung Usbekistan“ (IBU) oder andere kleine und lokale Gruppen übernommen haben könnten?

Die Verteilung des Korans bringt Hebel in Bewegung
Im April 2012 wurden in zahlreichen deutschen Städten Gratisexemplare des Korans verteilt, wodurch der Salafismus (Salafiyya) urplötzlich zu einem „Mainstreamthema“ avancierte. Der zeitliche Kontext dieser Aktion, kurz vor den Landtagswahlen in Schleswig-Holstein und dem bevölkerungsreichsten Bundesland, Nordrhein-Westfalen, ist nicht zu unterschätzen.

Die Nordrhein-Westfalen-Wahlen waren schon immer richtungweisend – auch für die Bundestagswahlen. Die konservativen Parteien benötigten daher jede einzelne Stimme, auch aus dem rechten Spektrum. Für sie ging es um alles oder nichts. Dass am Ende sogar der Spitzenkandidat und Vorsitzende seinen Hut nehmen musste und auch noch vor aller Öffentlichkeit von der Kanzlerin gedemütigt wurde, zeigt die Dramatik dieses Wahlkampfes, in der auch die rechtsgerichtete Pro NRW durch sensationslustige Provokationen auffiel. Außerdem wurde das Thema verdächtig kurz vor der Islamkonferenz zum Sieden gebracht. Politiker forderten – besonders von den muslimischen Verbänden – eine Distanzierung und Verurteilung der Salafisten.

Die kostenlose Verteilung von Koranexemplaren war bis heute in Deutschland weniger üblich. In der Regel haben Vereine oder einzelne Gruppen religiöse Literatur zum Kauf angeboten. Hinter der PR-trächtigen Verteilaktion soll ein wohlhabender Kölner Prediger und Geschäftsmann stehen, der zur Zeit, so berichtet eine große Boulevardzeitung, angeblich von Hartz-IV lebe. Der Mann heißt Ibrahim Abou-Nagie. Doch wer ist der neue Hauptdarsteller in diesem schlechten Film?

Khalil Breuer stellt in seinem Hintergrundbericht: „Der Polizist, der ein Salafist war!“ für die Islamischen Zeitung (IZ), zwei zutiefst denkwürdige Fragen: Hatte der durch die Koran-Verteilaktion bekannt gewordene Ibrahim Abou-Nagie eigentlich auch Kontakte zum Verfassungsschutz (wie er auf Youtube selbst behauptet)?“ und weiter: „Wie viele V-Leute gibt es denn in der salafitischen Szene?“ Ebenso große Beachtung verdient dieser Paragraph des Journalisten: „Ganz neu ist das strategische Interesse des Verfassungsschutzes an der Salafismus-Szene nicht. Schon in einem Artikel der FAZ vom 3.10.2010 über den Prediger Vogel wird auch die Einschätzung des Islamwissenschaftlers Müller vom Verfassungsschutz Stuttgart einbezogen. ‚Er tritt den gängigen Islam-Organisationen vors Schienbein’, wird Müller dort zitiert, denn ‚er ist ein spannendes Experiment, er bringt Bewegung in die Szene’.“

Das Ziel Abou-Nagies soll es sein, Millionen Exemplare des Korans in Deutschland, Österreich und der Schweiz zu verschenken. Bis jetzt seien etwa 300.000 Exemplare verteilt. Sie seien eine Übersetzung von Mohammed Ibn Ahmas Rassoul und Abdullah Bubenheim. Die Behörden halten die Übersetzungen für neutral beziehungsweise nicht verfassungsfeindlich. Dennoch hat die Ulmer Druckerei Ebner & Spiegel die Auslieferung der Korane aufgrund der medialen Kritik eingestellt. Der Initiator der Verteilaktion Abou-Nagie, betreibe zudem die Internetplattform „Die wahre Religion“ (DWR), die im Bundesverfassungsschutzbericht 2010 dem politischen Salafismus zugeordnet wird.

Orientierung am „Urislam“
Der Salafismus ist nach Erkenntnissen des Verfassungsschutzes ein Sammelbecken einer als „islamistisch“ bezeichneten Bewegung in Deutschland. Nach Schätzungen von Sicherheitskreisen sollen der Bewegung etwa 3.000 bis 5.000 Personen angehören.

Der Terrorismusexperte der Berliner Stiftung Wissenschaft und Politik (SWP), Guido Steinberg, geht dagegen von fast 10.000 Anhängern der Gruppe aus. Insgesamt gebe es in Deutschland etwa 130 gewaltbereite „Gefährder“. Nicht alle davon, lediglich „zwei Dutzend“ seien der salafistischen Szene zuzuordnen. Ziel von Salafisten sei laut Sicherheitsbehörden die Gründung eines islamischen Staats, in dem wesentliche Grund- und Menschenrechte keine Geltung haben sollen. Die Bewegung soll im 19.Jhd. in Ägypten entstanden sein und orientiere sich an einer wortgetreuen Koranauslegung sowie einem Urislam ohne jede theologische Entwicklung.

Andere Beobachter weisen auf die engen Parallelen zwischen dem Salafismus und dem saudi-arabisch dominierten Wahhabismus hin. Heute werden beide Strömungen, die als ultrakonservativ gelten, im Sprachgebrauch gleichbedeutend verwendet. Moderne Medien und Kommunikationskanäle wie das Internet spielen nach Ansichten von Experten eine wichtige Rolle in der Propagandatätigkeit der Salafisten in Deutschland.

Daher richte sich die Arbeit der Bewegung nach Erkenntnissen von Sicherheitsbehörden besonders auf junge Muslime und Konvertiten in einer „schwierigen Lebensphase“. Auch junge Nichtmuslime sollen von den Salafisten, mit dem Ziel, sie zur salafistischen Strömung zu bekehren, umworben werden.

Zu den bekanntesten Mitgliedern der Szene zählen Pierre Vogel oder der Berliner Ex-Rapper Deso Dogg (Abou Maaliq). Die Bewegung, die in Solingen, Remscheid, Berlin, Bonn, Braunschweig, Mönchengladbach, Ulm und weiteren Städten im Bundesgebiet organisiert ist, steht unter einer intensiven Beobachtung der Dienste. Für zahlreiche Salafisten gelten Muslime, die nicht auf ihrer Seite stehen oder die Bewegung zumindest kritisch betrachten, als „Ungläubige“ (Kuffar). Sie sind daher nicht selten Anfeindungen und Drohungen ausgesetzt.

Debatte breitet sich rapide aus und bedroht alle Muslime
Die Verteilaktion hatte sich nach dem Osterwochenende 2012 anfänglich zu einer Debatte über das heilige Buch der Muslime ausgeweitet. Das Thema wurde seitdem in den Medien intensiv diskutiert und weitet sich täglich mit neuen Meldungen wie ein Feuer aus. Im Zusammenhang mit den Mai-Kundgebungen, den Attacken auf Polizeibeamte in Solingen (1.Mai) sowie Bonn (5.Mai), Provokationen der rechtsradikalen Gruppierung Pro NRW und den Drohungen von „Islamisten“ auf der Videoplattform Youtube, werden die Anhänger der Salafiyya und damit instinktiv auch die übrigen Muslime pausenlos mit Gewalt, Radikalismus und des Sicherheitsrisikos in Verbindung gebracht.

So wurde wenige Wochen nach der Koranverteilaktion die Dosis der Nachrichten stetig erhöht. Zunächst gerieten Pro-NRW-Aktivisten und einige gewaltbereite Salafisten in Solingen aneinander. Ähnliches ereignete sich ein paar Tage später in Bonn. Dabei griffen einige Gewalttätige auch Polizisten an und verletzen diese – zum Teil schwer.

Kurz darauf folgte diese kuriose Meldung: Ein 31 Jahre alter Essener Polizeikommissar ist unter besonderen Umständen als Salafist aufgefallen und wurde Anfang Mai aus dem Polizeidienst suspendiert. Gegen Ali K. sei ein Disziplinarverfahren mit dem Ziel eingeleitet worden, ihn aus dem Staatsdienst zu entlassen. Heinz Tutt vom „Kölner Stadt-Anzeiger“ berichtet, dass der Beamte im Jahr 2009 für sechs Monate auch für den NRW-Verfassungsschutz gearbeitet habe. Er sei bei einem mobilen Observationskommando eingesetzt gewesen und habe Extremisten ausspähen sollen.

Der Beamte mit Migrationshintergrund soll sich in seiner Freizeit für „radikale Islamisten“ engagiert haben. So habe er Infostände für salafistische Vereine angemeldet und sich an deren Aktivitäten beteiligt, bestätigte die Polizei. Ein „Salafist“ in den Reihen der Polizei und des Verfassungsschutzes: Ein Einzelfall?

Es vergeht mittlerweile kein Tag, wo nicht über Salafisten und so genannte „Islamisten“ gesprochen wird. Zudem haben sich zahlreiche Politiker, muslimische Funktionäre und Kirchenvertreter in die Debatte eingeschaltet. Fast täglich wenden sich Pressevertreter/innen mit Fragen an die muslimischen Verbände und verlangen nach Statements von Repräsentanten. Damit werden auch die islamischen Organisationen in Deutschland – bewusst oder unbewusst – mit in die Debatte um Extremismus, Gewalt und Terror eingespannt. Wissentlich?

Populistische Forderungen wirken destruktiv
Auch wenn jetzt einige Politiker danach rufen, die Personen, die Korane verteilen auszuweisen, sie noch strenger zu kontrollieren oder gar die Koranverteilung zu verbieten, wer soll denn ausgewiesen werden? Deutsche Konvertiten oder jugendliche Deutsche mit Migrationsbiographie, die hier geboren, hier sozialisiert, aufgewachsen und nicht zuletzt hier „geködert“ wurden?

Die Probleme, mit denen sich die Politiker, die jetzt nach harten Strafen, Verboten oder Abschiebungen rufen, sind nicht so klar und einfach, um sie mit Untersagungen oder Ausweisungen zu lösen. Zum Teil sind sie sogar hausgemacht. Die „Panikmacher“ (Patrick Bahners, FAZ) sind wieder im Scheinwerferlicht. Der Dauergast in spätabendlichen Talkshows, Bosbach, seine Kollegen Uhl und Innenminister Friedrich, der die Öffentlichkeit im Zuger der Publikation der Studie „Lebenswelten junger Muslime in Deutschland“ bewusst getäuscht hat und verantwortlich für die Lancierung der Untersuchung an die Bild-Zeitung war (siehe Interview von Yasin Baş mit Ulrich Paffrath), übertreffen sich mit Vorschlägen.

Christian Bommarius von der „Frankfurter Rundschau“ (FR) spricht in dieser Hinsicht von „großmäuligen Forderungen“ und „schlechter Rhetorik“. Er sagt, dass Vereinsverbote „nicht nur das letzte Mittel im Kampf gegen extremistische Gruppen“, sondern im Fall der Salafisten auch „wirkungslos“ seien. „Deren Vereine lösen sich schneller auf, als ein Innenminister sie verbieten kann. Und was den Entzug der deutschen Staatsbürgerschaft betrifft, so verbietet ihn das Grundgesetz (Art. 16 Abs. 1).“ Da viele Salafisten in losen Strukturen oder in gar keinem Verein organisiert sind, bringen Verbote bedauerlicherweise wenig.

Außerdem: Eine Ausweisung, Ausbürgerung oder der Entzug der Staatsbürgerschaft hört sich zwar spannend an, erinnert aber eher an totalitäre und menschenverachtende Staatssysteme. Oder möchte ein Innenminister einen deutschen Salafisten von Bayern nach Mecklenburg-Vorpommern ausweisen? Bommarius hält es überdies für „gefährlich“, dass Politiker zwar von Salafisten reden, die deutsche Öffentlichkeit aber „Moslems“ versteht. So wird die große Mehrheit der Muslime – wieder einmal – unter Generalverdacht gestellt.

Kontrolliert außer Kontrolle
Zunächst einmal sollte die Problemgruppe besser erkannt werden. Es sind meist junge Menschen, unter ihnen auch viele mit durchaus guter Bildung, die in den Salafismus treiben. Für die Islamismus-Expertin Claudia Dantschke vom Zentrum für Demokratische Kultur in Berlin sei der Salafismus nicht, wie viele denken, „von außen eingeschleppt“, sondern „ein Problem hier aufgewachsener Jugendlicher, die sich entfremdet, isoliert und unverstanden fühlen“ (zit. n. Jan Bielicki, Süddeutsche Zeitung).

Es sind in aller Regel deutschsprachige und deutsch sprechende Menschen, die auch in ihrer Freizeit deutsch sprechen. Es sind immer mehr deutschstämmige, also ethnische Deutsche, die der Bewegung angehören. Auch die „intelligenten“ Prediger sprechen nahezu fehlerfrei Deutsch. Beachtlich sind auch die fast fehlerfreien und sehr professionell erstellten Videobotschaften von einigen „Radikalen“. Sie sprechen in diesen Videos teilweise noch besser Deutsch als ein Germanist oder Literaturwissenschaftler.

Der Salafismus entfaltete sich und gedieh in seinen „jungen Jahren“ besonders in den deutschen Zentren in Süddeutschland, worauf anfangs eingegangen wurde. Heute ist die Bewegung in ganz Deutschland verbreitet. Momentan scheint etwas aus der Kontrolle geraten zu sein in Bezug auf den Salafismus in Deutschland. Oder sollte etwa etwas kontrolliert außer Kontrolle geraten?

Dantschke empfiehlt zumindest eine Doppelstrategie in der Angelegenheit. Sie fordert zum einen ein hartes Eingreifen und die konsequente Bestrafung von Gewalttätern. Zum anderen, das erscheint ihr wichtiger, fordert sie eine bessere Jugendarbeit in Kommunen, Jugendzentren, Schulen und Moscheen, um Jugendliche vor Gefahren zu schützen. Prävention ist damit auch in der Jugendarbeit von zentraler Bedeutung.

Kostenlose PR
Eine so große mediale Aufbereitung des Themas, beginnend mit einer Verteilaktion des heiligen Buchs der Muslime über weitere Aktivitäten von Salafisten ist von Anfang an Wasser auf die Mühlen der Salafisten gewesen. Die Bewegung bekommt jetzt noch mehr Zulauf und gewinnt bei vernachlässigten Jugendlichen an Attraktivität. Ist das ein kalkuliertes Risiko?

Steffen Hebestreit vom „Kölner Stadt-Anzeiger“ wies zu Recht auf ein Paradox hin und sagt, dass sich die Behörden „seltsam zwiespältig“ verhalten. Hebestreit übt dabei auch Selbstkritik, wenn er es als „seltsame Logik“ bezeichnet, dass vermeintliche „Einzeltäter“ erst durch das „mediale Echo“ auf den Salafismus oder Drohvideos aufmerksam (gemacht!?) werden. Die Kommentare der Behörden und Politiker sowie die großzügige mediale Aufbereitung des Themas, bringen nur noch mehr Aufmerksamkeit für die Aktivisten. Es ist eine kalkulierte und kostenlose Werbekampagne.

Die Verteilung des Korans scheinen zwar auch abendländische Untergangssorgen und Ängste zu befeuern. Im Nachhinein kann aber festgestellt werden, dass die Verteilaktion nur der Beginn einer neuen Sicherheitsdebatte gewesen ist. Kaum einer, der jetzt nach einem Verteilverbot für das heilige Buch ruft, kennt den Koran, hat ihn jemals gelesen. Sogar Innenminister Friedrich gab in einem Interview mit der „Süddeutschen Zeitung“ vom 31. März 2011 zu, noch nie im Koran gelesen zu haben. Vielleicht hat er es inzwischen – wegen seines Amtes oder als Gastgeber der Islamkonferenz – nachgeholt? Wenn die Menschen den Koran kennen würden, sähen sie die Parallelen zur Bibel und der Thora. Dann sähen sie, dass es weitaus mehr Gemeinsamkeiten als Unterschiede zwischen den heiligen Büchern gibt.

Fehlende Gelassenheit auch Ausdruck von fehlender Souveränität?
In Deutschland und anderen Staaten der Welt werden „Wachttürme“ (Periodika der Zeugen Jehovas), Bibeln, Korane und weitere religiöse Schriften verteilt. Am aktivsten verbreiten christliche Missionare, Stiftungen und Verlage ihre „heiligen Schriften“ auf der Welt. In manchen Staaten werden sie daran gehindert. Wenn sie Glück haben, werden sie aus den jeweiligen Ländern ausgewiesen. Doch es kommt auch vor, dass sie gefoltert werden oder ihr Handeln mit ihrem Leben bezahlen. Warum? Weil sie das Wort Gottes verbreiten? Zum Glück gibt es in Deutschland die Religionsfreiheit. Aus diesem Grunde wäre es ratsam, gelassener, unaufgeregter, ja souveräner mit dem Thema umzugehen.

Der „Anti-Koran-Reflex“
Lucas Wiegelmann von der Tageszeitung „Die Welt“ bezeichnet das, was nach der Koranverteilung passierte, als einen „Reflex“. Er nennt es einen „Anti-Koran-Reflex“, das es in Teilen der deutschen Gesellschaft gebe. Er schreibt: „Jede Sekunde [!] verteilt der evangelische Gideonbund weltweit zwei Bibeln. Würde man die Bände stapeln, käme jede Stunde ein Turm in der Höhe des Big Ben (96 Meter hoch) heraus.“ Wiegelmann gibt zudem den Christen einen beschwichtigenden Rat mit auf den Weg: „Für Christen gibt es keinen Grund, die Konkurrenz der heiligen Bücher zu scheuen. Jeder wirkliche Gläubige geht ohnehin davon aus, dass seine Ansichten überzeugender sind als andere.“

Auch die Meinungsfreiheit garantiert den Menschen, Literatur zu drucken und zu verteilen, deren Inhalt sich im Rahmen des Grundgesetzes bewegen. Für Muslime ist es eine Pflicht, sich an die Verfassung und Normen der Gesellschaft zu halten, in denen sie leben. Demokratie, Rechtstaat und Grundrechte stehen nicht zur Debatte. Die islamischen Verbände, die im „Koordinierungsrat der Muslime“ (KRM) organisiert sind, haben das des Öfteren klar und deutlich verkündet.

Unglücklicherweise wurden diese, dem Frieden, gegenseitigem Respekt und der Toleranz dienenden Botschaften – im Gegensatz zu den jetzigen Negativereignissen – von den Medien nicht genügend registriert. Bibel- und Koranverteilungen sind das gleiche, solange sie nicht gegen die Verfassung verstoßen. Daher ist es schwer verständlich, dass es demokratische Politiker sind, die eine Verteilung als Akt verboten sehen möchten. Die Initiatoren oder Hinterleute der Aktion zu überwachen, zu kontrollieren und zu zähmen, ist eine ganz andere Frage als die der Verbreitung des heiligen Buches der Muslime.

Mordsserienskandal an Migranten gerät ins Abseits
Angemerkt sei noch, dass die schockierenden Enthüllungen der Nazi-Morde an neun Migranten und eine deutsche Polizistin durch diese Salafisten-Debatte überlagert wurde. Nach Bekanntwerden des Skandals, diskutierte Deutschland erst monatelang über Christian Wulff. Nun setzt sich die Öffentlichkeit abermals mit „gewaltbereite Islamisten“ auseinander.

Die NSU-Morde und das abartig organisierte Netzwerk dahinter, werden insofern erneut durch andere Themen ins Abseits gerückt. So verwundert auch diese Meldung aus den letzten Tagen nicht mehr sonderlich. Im Gegenteil, es fügt sich in das angesprochene perverse Bild: Die Polizei in Bayern suchte im Zuge der Mordserie an Migranten mit großem Aufwand nach „kriminellen Ausländern“ und nicht nach Rechtsterroristen.

Dafür betrieben die Ermittler eigens einen Dönerimbiss. Der Inhaber sei ein V-Mann gewesen, der absichtlich keine Rechnungen von Lieferanten bezahlte, um „kriminelle Ausländer“ anzulocken. Dies spricht für die Einseitigkeit der Ermittlungen. Zusätzlich melden die Nachrichtenagenturen, dass der Thüringer Verfassungsschutz einen als V-Mann arbeitenden Neonazi in den neunziger Jahren mehrmals vor Durchsuchungen der Polizei gewarnt habe. Es gebe vier bis fünf solcher Fälle, sagt Gerhard Schäfer, Vorsitzender der Kommission zur Untersuchung des Thüringer Behördenverhaltens rund um die Nazi-Terroristen.

Barbara John, die Ombudsfrau der Naziopfer sagt: „Dieser Wahnsinn hat Methode“. Wenn es sich bewahrheiten sollte, dass diese verbrecherischen Taten „Methode“ und „System“ haben, dann ist das Vertrauen vieler Menschen ins Rechts- und Gerechtigkeitssystem missbraucht. Die Enthüllungen aus dem Thüringer Untersuchungsausschuss deuten auf chaotische Zustände bei Justiz, Polizei und Diensten hin.

Kommunikationsdefizite und „Revierkämpfe“ sind nur die Spitze des Eisbergs. Peinlich ist jedoch eines: Noch immer gibt es niemanden, der Verantwortung für diese abscheulichen Taten übernimmt und von seinen Ämtern zurücktritt. Noch immer gibt es keinen, der eigene Fehler zugeben möchte. Ob die Untersuchungsausschüsse und Prüfungskommissionen daran etwas ändern werden, bleibt abzuwarten.

Dass sich die Publizistin Ayaan Hirsi Ali massiv im Ton vergreifen darf, bleibt merkwürdig unbeachtet. Ein Kommentar von Sulaiman Wilms

„Die Feier in der Springer-Akademie wirkte wie das Ritual einer verschworenen Gemeinde, die der ‘Freiheit’ und der ‘Verteidigung des Westens’ huldigt als wären dies Glaubensprinzipien einer obskuren Religion und Ayaan Hirsi Ali deren Hohepriesterin. Dass diese Freiheitsgemeinde aus der Tradition der Aufklärung, der zu folgen sie vorgibt und als deren Feind sie den Islam ausgemacht hat, längst ausgeschert ist, scheint sie nicht zu merken.“ (Cicero, 18. Mai 2012)

(iz). Der Skandal ist Teil des medialen Betriebs und seiner Aufmerksamkeitszyklen. Sich an ihm beteiligen zu wollen oder ihn gar zu betreiben, ist ungefähr so sinnvoll, wie zu glauben, man könne Einfluss auf die Gezeiten nehmen. Wie der mediale Skandal funktioniert, lässt sich am Streit um das „Gedicht“ von Günter Grass zu erkennen.

Genauso ärgerlich wie die Dramaturgie des Skandals ist es aber aber ebenso, wenn wirklich skandalträchtige Themen beziehungsweise Vorgänge nicht berichtet werden. In beiden Situationen muss die Frage gestellt werden, wer sie betreibt und wer von ihr profitiert.

Stellen wir uns den hypothetischen (und höchst unwahrscheinlichen) Fall einer öffentlichen Person vor, die von einem hochrangigen – und einflussreichen – Medienkonzern mit einem Preis ausgezeichnet würde. Bei seiner Rede würde unser hypothetischer Preisträger dann den real existierenden Terrorismus im Nahostkonflikt verstehend – und im Grunde wohlwollend – erklären und apologetisch in sein Weltbild einordnen. Danach würde die Rede der Person unter lautem Applaus von den anwesenden Gästen aufgenommen werden. Kein Widerstand regt sich. Wir können davon ausgehen, dass dies ausreichend Munition für einen handfesten Skandal wäre.

Wer glaubt, dies ist bloße Spinnerei, der irrt. Es ist einem Beitrag im „Cicero“ zu danken, der bisher als einziges deutsches Massenmedien auf einen solchen Vorgang aufmerksam machte. Anlässlich des 100. Geburtstags von Axel Springer, dem Gründer des gleichnamige Medienimperiums mit seinem Flaggschiff „Bild-Zeitung“, ehrte das Medienkonglomerat die niederländisch-somalische Aktivistin Ayaan Hirsi Ali mit einem „Ehrenpreis“.

Dass von ihr, die einmal im Dienst einer der neokonservativen Denkfabriken in den USA stand, sicherlich keine ausgewogenen oder differenzierenden Ansichten zu erwarten sind, ist klar. Aber selbst Beobachter, die so manches von ihr gewohnt sind, sollten sich von ihrer Dankesrede überraschen lassen.

Wie viele der handelsüblichen Verschwörungstheorien irrlichtet Ali über eine Koalition aus stillen Verbündeten, die die ungebremste Ausbreitung „des freiheitsbedohenden Islams in Europa“ (so „Cicero“) ermöglichen würden. Für sie seien diese Personen „advocates of silence (Anwälte des Schweigen)“. Soweit bewegte sie sich – noch – im islam-kritischen Milieu Europas, obwohl dies natürlich ein klassisch rechter Topos ist.

„Ausdrücklich macht Hirsi Ali sich in ihrem Vortrag die Argumentation des norwegischen Massenmörders Anders Breivik zu eigen, der im Juli vergangenen Jahres 77 Menschen, meist junge Mitglieder der norwegischen Sozialdemokraten, niedermetzelte, um gegen den Vormarsch des Islam in Europa zu protestieren“, setzte „Cicero“ seine Beschreibung des Events fort. Hirsi Ali habe sich direkt auf Breiviks Manifest bezogen. Breivik sage, „weil alle Möglichkeiten, seine Ansichten öffentlich kundzutun, zensiert worden seien, habe er keine andere Wahl gehabt als zur Gewalt zu greifen“.

„So reden rechtsradikale Verschwörungstheoretiker. Das ist der Gipfel, den Massenmord durch Breivik damit zu erklären, dass die islamische Gefahr in Europa von dunklen Mächten verschwiegen worden sei“, zitierte „Cicero“ mit dem Zentih-Chefredakteur Daniel Gerlach einen der wenigen Anwesenden, der diesen Vorgang bedenklich findet. Das Publikum, inklusive der „notorischen Warner vor der islamischen Gefahr“, hätten Ayaan Hirsi Ali anhaltenden Beifall geklatscht.

Auf Anfrage des Magazins relativierten sowohl der Springer-Verlag als auch Ayaan Hirsi Ali die Passage. Weder wollte sie Breivik entschuldigen, noch seine Tat rechtfertigen. Ihren Preis durfte Ayaan Hirsi Ali selbstverständlich behalten.

Business as usual also? Alles nur ein Missverständnis? Die „Islamkritik“ muss sich von ihren radikalen Elementen distanzieren, wie dies bereits viele Muslime mit „ihren“ Radikalen tun. Ansonsten bleibt der Eindruck zurück, man mache mit Extremisten und Mördern gemeinsame Sache.

Halal-Business: Stand der Zertifizierung: ein Bericht von Norbert Müller

Hamburg (iz). Nach einer doch längeren Vorlaufzeit an Vorbereitungen und Diskussionen konnte nun ein Durchbruch für einen einheitlichen Halal-Standard in Deutschland erzielt werden: Schon am 26. Januar war von mehreren islamischen Verbänden, ­Halal-­Zertifizierern und Halal-Produkte anbietenden Unternehmen eine „Gütegemeinschaft Halal-Lebensmittel“ gegrün­det worden. Jetzt erfolgte die Anerkennung durch das Deutsche Institut für Gütesicherung und Kennzeichnung (RAL) in St. Augustin.

Das Problem ist bekannt: Der Markt für Halal-Produkte in Deutschland expandiert, aber alle beklagen eine totale Unübersichtlichkeit hinsichtlich Halal-Kriterien und Halal-Nachweisen. Jeder deklariert seine Produkte nach eigenem Gutdünken als „halal“ und es existieren unzählige Gütesiegel, deren Hintergrün­de teilweise kaum transparent sind. Vor einiger Zeit ergriffen einige Halal-Zertifizierer zusammen mit Vertretern muslimischer Verbände und interessierten Unternehmen die Initiative. Es müsse, so die Absicht, doch möglich sein, auf dem Halal-Markt ein gemeinsames ­Gütesiegel aufgrund gemeinsamer, von den wichtigs­ten Verbänden der Muslime in Deutschland legitimierter Kriterien sowie einem festgelegten Verfahren der Kontrolle und Überwachung zu etablieren.

Ein Blick über Tellerrand zeigte im übrigen, dass auch in anderen Branchen ähnliche Probleme wie hier mit „halal“ bestehen. Ob nun Bio-Produkte oder Baustoffe – auch hier stellte sich für den Verbraucher die Frage nach bestehenden Standards und deren Überwachung. In vielen Fällen hat sich das ­RAL-Gütesiegel als Weg zur Qualitätssicherung ergeben, da Kriterien und Überwachung hier durch RAL institutionell garantiert sind. Warum sollte also dies für „halal“ nicht möglich sein? So ergab sich eine Koo­pe­ration mit RAL und die Idee einer Halal-Gütegemeinschaft.

Der Weg dorthin erwies sich jedoch als nicht unkompliziert. Während die Zertifizierer feststellten, weitgehend in gleicher Weise für die diversen gewerblichen Kunden der Halal-Branche die Prüfverfahren durchzuführen und sich auch schon zuvor Kooperationen ­ergeben hatten, bestand bei den Verbänden eini­ger Klärungsbedarf. Teilweise waren noch immer selbst grundlegende Fragen wie die Zulässigkeit vorheriger Betäubung bei der Schlachtung nicht geklärt.

Den Durchbruch brachte dann eine Halal-Fachtagung – im September 2011 in Bremen veranstaltet von den islamischen Landesverbänden und unter Beteiligung mehrerer Bundesverbände. Gerade der hier erfolgte Vortrag der theolo­gischen Positionen wies den Beteiligten die Basis eines gemeinsamen Handelns.

Nun konnte die Gründung der ­­Güte­gemeinschaft Halal-Lebensmittel in ­An­griff genommen werden, die am 26. Januar erfolgte. Gründungsmitglieder sind unter anderem auf Seiten der islamischen Verbände Islamrat, IGMG, IGD sowie die SCHURA-Verbände aus Hamburg und Bremen, die Zertifizierer EHZ, Halal-Europe, m-haditec und ECT sowie Unter­nehmen mit Halal-Produkten. Alle Grün­der einigten sich auf eine gemeinsame Halal-Defintion sowie Güte- und Prüfbestimmungen für Lebensmittel. Nach­dem zuvor schon ein umfangreiches Prüfverfahren unter Beteiligung der maßgeb­lichen Fach- und Verkehrskreise durchgeführt worden war, erfolgte nunmehr die offizielle Anerkennung der Gütegemeinschaft durch RAL.

Hintergrund: Der Polizist, der ein Salafist war! "Bewegung in der Szene". Recherchebedarf wächst stetig. Von Khalil Breuer

(dpa/iz). Das ist schon eine merkwürdige – man könnte auch sagen, abenteuerliche – Geschichte. Ein 31-jähriger Polizist aus Essen ist ganz zufällig als Salafist aufgefallen und soll nun aus dem Polizeidienst entfernt werden. Der Beamte wurde suspendiert. Es sei ein Disziplinarverfahren mit dem Ziel eingeleitet worden, ihn aus dem Staatsdienst zu entlassen, teilte der nordrhein-westfälische Innenminister Ralf Jäger (SPD) am Dienstag in Düsseldorf mit. Doch damit noch nicht genug. Die „Westdeutsche Allgemeine Zeitung“ (WAZ) berichtete, der Beamte habe im Jahr 2009 auch für den NRW-Verfassungsschutz gearbeitet. Er sei bei einem mobilen Observationskommando eingesetzt gewesen und habe Extremisten ausspähen sollen. In Polizeikreisen wurde dies bestätigt.

Der Kommissar mit ausländischen Wurzeln sei in seiner Freizeit durch Aktivitäten für die radikalen „Islamisten“ aufgefallen. So habe er Info-Stände für salafistische Vereine angemeldet und sich an deren Koran-Verteilaktion beteiligt, bestätigte die Polizei. Soweit die offizielle Geschichte. Jetzt kommen die Fragen, denn so langsam sollten in den deutschen Redaktionsstuben ein wenig der journalistische Ehrgeiz angefacht sein. Es drängen sich ein paar Punkte geradezu auf. Wie viele V-Leute gibt es denn in der salafitischen Szene? Hatte der durch die Koran-Verteilaktion bekannt gewordene Ibrahim Abou-Nagie eigentlich auch Kontakte zum VS (wie er auf Youtube selbst behauptet)?

Ganz neu ist das strategische Interesse des Verfassungsschutzes an der Salafismus-Szene nicht. Schon in einem Artikel der FAZ vom 3.10.2010 über den Prediger Vogel wird auch die Einschätzung des Islamwissenschaftler Müller vom VS Stuttgart einbezogen. „Er tritt den gängigen Islam-Organisationen vors Schienbein“, wird Müller dort zitiert, denn „er ist ein spannendes Experiment, er bringt Bewegung in die Szene.“

Der baden-württembergische VS hatte schon einmal mit der radikalen Szene zu tun: In Freiburg beschäftigte die Behörde von 1995-2002 einen radikalen Prediger als V-Mann; Yehia Youssif, der später die radikale, teilweise militante Ulmer Bewegung der Salafiten gründete. Bei seinem Sohn wurde zudem Sprengstoff gefunden. Die näheren Umstände der Beschäftigung des zwielichtigen V-Mannes sind bis heute ungeklärt.

Die sagenumwobene Ulmer Gemeinschaft wurde de facto zum Berührungspunkt nicht nur der „Sauerlandgruppe“, sondern praktisch aller in Deutschland lebenden oder als solche, verdächtigten Terroristen. Der Mann flüchtete übrigens 2004 ins Ausland, ohne bis heute Gegenstand strafrechtlicher Ermittlungen geworden zu sein.