Imran Khan ist der einzige, der sein Land vor dem Chaos bewahren kann. Von Malik Özkan

Inmitten einer unrühmlichen politischen Elite ist der beliebte Imran Khan eine seltene Ausnahme. Viele hoffen auf seinen Sieg bei den kommenden Wahlen und auf ein Ende der Korruption.

(iz). Pakistan steht am Abgrund. Das ist keine Übertreibung. Innenpolitisch ist das zweitgrößte muslimische Land zerrissen wie seit Jahrzehn­ten nicht mehr. Die Parteien und Anhän­ger der mächtigen Bhutto- und Sharif-Clans streiten um die armseligen Ressour­cen dieser großartigen muslimischen Nation. Gleichzeitig befindet sich Pakistan im Fadenkreuz westlicher Strategen und ein zukünftiger Konflikt mit Washington ist nicht ausgeschlossen.

Ökonomisch liegt das Land zwischen Hindukusch und Indus am Boden. Nach der verheerenden Flut stehen die Dinge so, dass die Überweisungen der Auslands­pa­kistanis (ca. sechs Millionen) dem ­gesamten Bruttoinlandspro­duktes entsprechen. Augenblicklich nimmt das Land den letzten Platz bei globalen Korruptionsstatistiken ein. Kaum ein anderes Land darf sich rühmen, dass sein Präsident (Asif Zardari, Witwer der ermordeten Benazir Bhutto) als „Mister 10 Prozent“ bekannt ist, weil ihm 10 Prozent sämtlicher, wichtigen ­Geschäfts­ab­schlüs­se zufließen sollen. Bhuttos 23-jähriger Sohn wurde zum Erben der Familienpar­tei PPP gemacht.

Inmitten dieses Chaos, erwächst im Zentrum der größten Not ein Mann, der in den Augen vieler mit nichts Geringerem als mit „Hoffnungsgestalt“ bezeichnet werden kann: Imran Khan. Lahore, die ehemalige Kaiserstadt und ­jahrelanges Zentrum der Partei des diskreditierten Nawaz Sharif, wurde von einem menschlichen „Tsunami“ getroffen. Eine ­Welle nach der anderen flutet auf den Platz des Minar-e-Pakistan. Mit sich führen sie die grün-rote Fahne der Tahreek-e-Insaaf, der neuen, erfolgversprechenden Partei unter Führung des charismatischen Khans, der 1952 als Nachkomme des respektierten Niazi-Stammes im Punjab zur Welt kam. Zwei Wochen später sammelten sich ebenfalls hunderttausende in Karatschi um den dynamischen ­Imran Khan, der den unterschiedlichsten ­Menschen als einziger Ausweg gilt. „Ich verspreche euch, dass wir die große Korruption binnen 90 Tagen ausschalten“, rief er der Menge zu. Laut einer ­Umfrage vom Ende Dezember gilt er bei ­Weitem als die beliebteste politische Figur im Land. 81 Prozent der Befragten bezeich­neten ihn als die Person, die ihr Land führen kann.

„Meine Zeit ist gekommen“, sagte Imran Khan im Gespräch mit der britischen Tageszeitung „The Daily Telegraph“. Jahrelang ­wurde er von Journalisten abgeschrieben, weil seine Partei eine Wahlniederlage nach der anderen einstecken musste. Im Vorfeld der kommenden Wahlen surft er aber auf einer Welle der populären Unterstützung. Nichtsdestotrotz sei ihm bewusst, dass es auch zu Schmutzkampag­nen gegen seine Person kommen ­werde. „Sie werden alles mögliche gegen mich einsetzen“, war seine realistische, wie sto­ische Einschätzung gegenüber der britischen Zeitung.

Der Volksheld Imran Khan, dessen Beliebtheit damit begann, als er Pakistans Cricketteam zum Weltmeistertitel führte, gründete später eine gemeinnützige Krebsklinik und sammelte deutlich mehr Spenden für die Flutopfer als Ministerpräsident Gilani. Khan reist – in einem Land mit gewohnheitsmäßigem politischen Terrorismus – übri­gens in unge­panzerten Fahrzeugen. Es werde keinen Selbstmordanschlag auf seine Autos geben, erklärte er dem „Tele­graph“. Die Leute wissen, „dass ich ein stolzer, pakis­tanischer Nationalist bin – und keine amerikanische Marionette.“

Die Stimmung auf jeder ­Versammlung in Lahore, Karatschi und anderen Orten verweist auf eine Führungsgestalt, der die Leute vertrauen, so wie sie ihm ­früher als pakistanischem Teamchef vertrauten. Heute ist er für sie die einzige Hoffnung, nachdem sie Jahrzehntelang allein gelas­sen wurden. Diese Unterstützung der Menschen wird durch Hoffnung beflügelt: Sie glauben an ihn, denn er hat den hartnäckigen Willen zum Erfolg. Das beste Maß eines Mannes in Pakistan ist das seines Glaubens.

Die Gefahr der Paranoia

Prof. Manfred Schneider lehrt Ästhetik und Literarische Medien am Lehrstuhl für Neugermanistik an der Ruhr-Universität Bochum. In seinem neuen Buch „Das Attentat. Kritik der paranoischen Vernunft“ befasst er sich mit der Psychologie des Attentäters, der Rolle des Attentats in der heutigen Zeit und der Reaktion von Politik und Gesellschaft darauf, sowie mit dem Wesen der Paranoia. Wir sprachen mit Prof. Schneider über die Thesen des Buches.
Islamische Zeitung: Herr Prof. Schneider, wie kamen Sie dazu, ein Buch über Attentäter zu schreiben?
Manfred Schneider: Ich möchte zurückfragen: Wie kann man im Augenblick kein Buch über Attentate schreiben? Es vergeht ja fast kein Tag ohne Nachrichten von Attentaten, versuchten Attentaten, Warnungen vor Attentaten oder von politischen Maßnahmen, um Attentate zu verhindern. Oder von Selbst­mordattentaten, vor allem im Nahen Osten oder Afghanistan. Es ist also augenscheinlich ein großes Thema. Ich bin ein Beobachter der politischen Ereignisse, und ich muss sagen, dass für mich persönlich das Attentat auf John F. Kennedy 1963, als ich ein junger Student war, ein einschneidendes Ereignis war, und prägend war auch später die Geschichte der RAF im Deutschland der 70er Jahre mit den vielen Attentaten und politischen Morden. Das brachte mich zu der Vorstellung, die sich heute bewahrheitet – nämlich dass Attentate ein Mittel des Politischen geworden sind, das wir nicht mehr loswerden.
Islamische Zeitung: In Ihrem Buch findet sich eine Widmung mit einem Nietzsche-Zitat – „nicht der Zweifel, die Gewissheit macht wahnsinnig“. Ist es diese radikale Subjektivität, welche Ideologen aller Couleur verbindet?
Manfred Schneider: Das Zitat soll einen Akzent setzen, dass der Wahnsinn der Paranoia, den ich allerdings nicht als klinischen Wahnsinn beschreiben will, eine Gestalt der Gewissheit ist. Eine Gestalt extremer Gewissheit und unerschütterbarer Überzeugung. Zugleich ist sie eine Form der Rationalität. Es gibt eine sehr interessante Bestimmung der Paranoia von einem Psychiater des 19. Jahrhunderts, der sagt, der Paranoiker sei jemand, der alles verloren hat außer seiner Vernunft. Das heißt, diese extreme Gewissheit ist eine Haltung zur Welt, ob sie nun politisch, wissenschaftlich oder religiös ist, die nur aus Überzeugung besteht, die nicht das Element des Zweifels, der Skepsis oder auch die Fähigkeit, den entgegengesetzten Standpunkt wenigstens zu denken, mehr kennt. Das sind die Gewissheitshaltungen, die ich in dem Buch ausdrücklich in Frage stelle. Von solchen versteinerten Überzeugungen geht sehr viel ideologisches Unheil aus.
Islamische Zeitung: Ihr Buch ist ja auch eine Geschichte des Attentäters. Haben die modernen Medien, hat die Medienwelt, in der wir leben, auch die Verhaltensmuster des Attentäters ­verändert?
Manfred Schneider: Es ist eine der Hauptthesen meines Buches, dass die modernen Medien, seien es Zeitungen, Fotografie, Kino, TV, die Nachrichten aus der Politik verbreiten, den Attentäter mit hervorbringen. Das Paradoxe ist, dass der Attentäter eigentlich die Medien verachtet, weil sie in seinen Augen lügen, die Dinge verstellen, die Bilder fälschen, die wahren Tatsachen abschirmen; andererseits will er aber selbst in den Medien erscheinen. Er wünscht sich, dass sein Bild als das wahre Bild eines Helden, eines Befreiers, eines Opfers von allen gesehen wird. Eigentlich ist dieser Wunsch, gesehen zu werden, ganz alt; es gab ihn bereits vor den modernen Medien. Aber die modernen Medien haben diese beiden Seiten: An ihnen hängt einmal die Vorstellung, dass sie lügen, und gleichzeitig will der Attentäter selbst als das wahre Bild, als Bild der Wahrheit in den Medien erscheinen. Das ist ein Phänomen der Moderne.
Islamische Zeitung: Sie beschreiben auch das Verhältnis des einzelnen Attentäters und seiner so hilflosen wie destruktiven politischen Tat zum Macht­apparat. Warum wird diese Figur heute wichtiger, und ist sie gar bereits integrierter Teil unseres modernen politischen Lebens geworden?
Manfred Schneider: Ein großes Problem unseres politischen Lebens ist unser Umgang mit der Macht. Wir wissen natürlich, welche Macht es in der Welt gibt und dass sie sich in den Händen weniger Leute befindet, in den Händen von Politikern, Militärs, Polizei, von Unternehmern, aber eben auch von Medien, Zeitungen, Fernsehen und so weiter. Tatsächlich aber ist das Problem, dass man die Macht nicht sehen kann. Das, was wir von der Politik und von der Macht sehen, wie zum Beispiel diese kluge, aber doch unscheinbare Kanzlerin oder diesen Armeechef oder jenen Intendanten – wir können uns nicht vorstellen, dass diese Alltagsmenschen über solche Macht verfügen. Das Schauspiel, das uns die Politik und die Mächtigen bieten, steht für uns in einem Missverhältnis zu der ungeheuren Macht, von der wir wissen und die wir bisweilen spüren, wenn die Dinge für uns selbst schief laufen. Und das ist die Quelle des Verdachts, der irgendwie in uns allen lebendig ist, nämlich dass hinter den Kulissen doch etwas ganz anderes gespielt wird, dass ganz andere Mächte im Hintergrund wirken, obwohl wir ja eigentlich als Volk, als Demokraten selbst die Macht sind und sie verkörpern. Von daher ist der Attentäter wie ein Delegierter dieser Beunruhigung durch die Macht, die uns umtreibt. Obwohl er von uns nicht beauftragt ist, handelt er als unser Delegierter, der diese Macht, die ganz fern von uns, unsichtbar und verdachtsbeladen ist, für einen Augenblick sichtbar macht.
Islamische Zeitung: Wir haben gerade wieder in Stockholm die Tat ­eines muslimischen Attentäters erlebt. Wie können wir verhindern, dass unsere Gesellschaft angesichts dieser an­dauernden Bedrohungen „paranoid“ wird?
Manfred Schneider: Da liegt eine große, um nicht zu sagen gewaltige Verantwortung auf uns allen. Das kollektive Verständnis einer Gesellschaft kann schnell umschlagen in eine paranoide Auffassung vom Grund oder der Ursache bestimmter Übel, mit denen sie es zu tun hat. Es gibt einmal diesen primitiven Denkmechanismus, der für die Ursache von Übeln Sündenböcke sucht. Das ist gewissermaßen alltäglich. Gefährlich und paranoid wird es, wenn eine einzige Ursache und womöglich eine einzige Personengruppe für sämtliche Übel verantwortlich gemacht wird. Früher waren dies einmal die Linken, noch früher waren es die Juden, heute sind neue Gruppen aufgetaucht, wie Migranten, Muslime oder Hartz IV-“Faulpelze“, denen diese störenden, unangenehmen und gefährlichen Dinge, mit denen wir zu kämpfen haben, zugerechnet werden. Es geht darum, zu sehen, dass wir es bei Attentätern zumeist mit besessenen, aus der Bahn geratenen Einzeltätern zu tun haben – auch dann, wenn sie einmal in einer Gruppe auftreten. Das dürfen wir nicht aus dem Blick verlieren.
Islamische Zeitung: Wo würden sie die Trennlinie zwischen „normaler“ Angst und Paranoia ziehen?
Manfred Schneider: Angst ist nicht Paranoia, auch wenn sie sehr intensiv ist. Paranoia ist eine Einstellung, die – wenn auch aus Angst heraus – für bedrückende Erlebnisse, Sorgen, politische Probleme eine einzige Figur, einen einzigen Grund, eine einzige Ursache sieht und dann möglicherweise Gewalt mobilisiert, um diese Ursache zu beseitigen. Natürlich sind Menschen in unterschiedlicher Weise ängstlich, das ist eine Erfahrungstatsache. Die Angst schlägt eben in Paranoia um, wenn für dieses Übel eine einzige Ursache gesehen wird. Die politischen und sozialen Übel heutzutage sind jedoch immer komplex und schwierig und setzen sich aus vielen Teilaspekten und Teilproblemen zusammen, und die Vereinfachung, diese auf einen einzigen Grund zu reduzieren, ist paranoisch.
Islamische Zeitung: Häufig wird hinter dem gegenwärtigen Terrorismus ein weltweites Komplott von ­“Islamisten“ vermutet. Ist das aus ­Ihrer Sicht ein reales Bild?
Manfred Schneider: Nein, das ist in meinen Augen eine völlige Verzerrung. Natürlich gibt es mehr oder weniger prominente Angehörige des Islams, die Krieg gegen „Ungläubige“, gegen den Westen oder gegen Feinde des Islams predigen. Und es stimmt natürlich auch, dass diese häufig Stichworte für Einzelattentäter liefern, von den Männern des 11. September bis hin zu diesem armseligen Mann, der sich kürzlich in Stockholm in die Luft gesprengt hat. Aber wenn man richtig hinschaut, sind es zumeist ohnmächtige Großsprecher, die nicht als Teil eines großen Verschwörer-Rings agieren. Diese Komplott-Theorie ist eine vor allem in den USA kultivierte Vorstellung, für die es in meinen Augen keine Anhaltspunkte gibt, so schlimm bisweilen einzelne Aktionen auch sind, die im Namen des Islams begangen werden.
Islamische Zeitung: Kann Paranoia auch politisch genutzt werden?
Manfred Schneider: Ja, natürlich. Das Lehrstück dafür hat die amerikanische Regierung nach dem 11. September aufgeführt, indem sie eine ganze Gesellschaft in einen paranoiden Zustand versetzt hat. Das kam in vielen Details zum Ausdruck und war wirklich Besorgnis erregend. Das hat sich in den letzten Jahren aber wieder entspannt. Ein anderes Beispiel, das uns die deutsche Geschichte bietet, ist der Antisemitismus im Dritten Reich, bei dem sich sowohl Wissenschaftler als auch Politiker und ein großer Teil der Bevölkerung auf eine vollkommen absurde, abwegige, unhaltbare Theorie von der „jüdischen Rasse“ eingeschworen hatten und sich zu diesen schrecklichen Taten ermächtigt sahen. Den Hintergrund dafür bildete das Zusammenspiel zwischen Wissenschaft und Politik, und da heißt es eben besonders aufmerksam zu sein.
Islamische Zeitung: In Ihrem Buch klingen Zweifel an, ob es das Schicksal als Erklärungsmodell überhaupt gibt. Schicksalsglaube ist natürlich ein wichtiger Teil der Religionen. Sind diese Religionen – aus Ihrer Sicht – insofern „paranoid“?
Manfred Schneider: Das würde ich in dieser Form natürlich nicht behaupten. Wenn ganze Völker oder Gesellschaften Elemente einer solchen religiösen Vorstellung zu ihrer Überzeugung erheben und viele Menschen daraus ihre Weltsicht beziehen, dann ist es ein Element der Kultur selber. Andererseits neigen Sekten dazu, paranoide Vorstellungen zu entwickeln. Und die ausgeprägte Paranoia ist stets religiös. Zum anderen zeigen ja die großen Weltreligionen, dass sie ungeheure Auslegungsspielräume bieten und erlauben, an eine feste Bestimmung des Schicksals zu glauben oder auch den Glauben an die Freiheit eröffnen. Das war ja in der christlichen Ära der Gegensatz zwischen protestantischer und katholischer Religiosität. Von daher sind Religionen nicht grundsätzlich paranoide Systeme. Wobei man auch sehen muss, dass Paranoia eine Einstellung ist, die Erlösungsfunktion auf einzelne lebendige Personen verlegt. Wenn es wie zum Beispiel in der jüdisch-christlichen Tradition ein Messias ist, ein Gottgesandter, ein Dritter, der dies übernimmt, dann ist das etwas anderes, als wenn einzelne, lebendige Menschen auftreten und selbst die Messiasfunktion beanspruchen. Das ist der Unterschied.
Islamische Zeitung: Lieber Prof. Dr. Schneider, vielen Dank für das ­Gespräch.

Mitten aus Deutschland: Reportage über den Umgang mit einer vergessenen Gruppe Menschen. Von Lydia Jalil

Berlin (iz). Samstag, den 26.11.2010, 16.30 Uhr: Ich fahre einen neunjährigen Jungen mit seiner Mama zum Notdienst. Es wimmert jammervoll vom Rücksitz: Mittelohrentzündung und hohes Fieber. Ich versuche zu trösten, sage, dass wir gleich da sind.

In der Eifel sind die Wege für alle weit, für die Mutter hinter mir sind sie weiter: Demütige Kurdin aus dem Gebiet zwischen dem Libanon und der Türkei, 4 Kinder, der Mann und Alleinernährer starb vor 10 Jahren, die Wohnsituation erschreckend, Armut, Isolation, ­geduldet, nicht willkommen. Es ist schon fast dunkel, als wir uns geduldig tröstend der Stadt nähern. Mein Vordermann bremst: 2 Männer mit dicken Plastiktüten kommen aus dem Wald. Scheue Blicke in die grellen Scheinwerfer, erschöpfte Gesten. Da kommt noch ein Mensch: die Tüte zerrissen, schief beladen mit Kartoffelnetz, Manda­rinen, Zuckerpackungen, aus einer Mehltüte rieselt es auf seine ärmliche Kleidung. Hände und Hose sind schlammbeschmiert. Offensichtlich ist er gestürzt.

Mein Vordermann gibt wieder Gas. Ich fahre an den Männern vorbei, mein Kopf voller Fragen: Was machen „die“ mitten im Wald? Pralle Tüten, so ge­nannte „Männer mit südländischem Aussehen“ (…) ich beschließe aus den Ge­danken auszusteigen, bevor ich bei den Tankstellenüberfällen ankomme. Vorurteile. Das Kind wimmert immer noch und wir müssen zum Krankenhaus.

Donnerstag, den 19.01.2012, 8.30 Uhr: Ich begleite ein anderes Kind zu einer Therapie im Krankenhaus. Im Wartezimmer liegt die gestrige Ausgabe der lokalen Tageszeitung. Wir warten auf die Therapeutin. Das Kind malt, ich lese einen Artikel zum Integrationsgipfel: jetzt sind die Deutschen gefordert, eine Willkommenskultur soll entstehen. Ich ­lächle ungläubig in die Zeitung: Wie lange wohne ich schon hier? Ich sehe nicht nur deutsch aus, ich bin es auch. Doch die Türen werden hier wenn überhaupt nur langsam geöffnet, aber umso schneller geschlossen, wenn man Anzeichen entwickelt, die nicht ins Schema karnevalis­tischer Frohnatur passen. Ich höre auf zu lächeln und versuche Anflüge von Selbstmitleid herunterzuschlucken. Die Thera­peutin kommt.

Auf dem Heimweg durch die kältestar­ren Eifelwälder: Rauch steigt auf aus dem Schornstein des mitten im Wald errichteten Krematoriums. Ich versuche wegzusehen und fahre weiter. Plötzlich sehe ich sie wieder: Männer mit Plastiktüten stehen frierend vor einer rostigen Schranke. Ich bremse. Die kahlen Bäume geben die Sicht auf mehrere ärmliche Häuschen frei. Menschen – hier draußen? Von Deutschland weiter entfernt als die neue Leichenverbrennungsanlage. Zwei Müll­autos donnern an mir vorbei zur Kreisde­ponie direkt um die Ecke.

Ich beschließe, das Kind erstmal nach Hause zu bringen. Meine Gedanken ­bleiben bei den Menschen da draußen an der rostigen Schranke. Das Thermometer zeigt 16 °C Minus. Höhnisch grinst das Wort „Willkommenskultur“ aus der alten Tageszeitung. Ich schäme mich plötzlich für meine eigenen Vorur­teile, die Blindheit, meine/unsere „Willkommenskultur“. Entsetzlich! Ich ringe um Fassung, rufe einen Freund an. Erzähle. Er reagiert irritiert, kann es nicht glauben, fragt nach dem Standort. Ja, das neue Krematorium, er weiß Bescheid. Dürfen die daneben überhaupt Menschen unterbringen?

Als ich sage, dass das Lager direkt neben dem Bleibach liegt, schweigen wir beide: Bleibach bedeutet Schwermetallverseuchung aus den alten Stollen der Bleibergwerke. Blei, Zink, Nickel, Cadmium und Kobalt in derart hoher Konzentration, dass die Schwermetallfrachten noch Erft und Rhein nachweislich belasten. Bleiwerte von 3955 mg/kg im Gartenboden (der „Prüfwert“ für Blei in der Bundesbodenschutzverordnung be­trägt 200 mg/kg, Empfehlungen den das Spielen von Kleinkindern auf dem Boden zu verhindern oder eine unbelastete Bo­denschicht aufzubringen). Kurzes Googlen bestätigt unsere Vermutung: das so genannte Übergangsheim steht an der alten Elisabethhütte.

Als ich beschließe, noch einmal hin zu fahren, ist es schon später Nachmittag. Ich parke mein Auto und laufe über die Straße. Kinder spielen zwischen den Unterkünften. Das Gelände wird von einem Wall aus Bauschutt und Abraum gesäumt. Ein Junge im Alter meines ­Sohnes kommt mit einer dünnen Hose und einer roten Plastiktüte an die Schranke. Ich sage Hallo und frage ihn, ob er Deutsch spricht. Er lächelt vorsichtig. Ja, natürlich, er ist doch hier geboren. Ich zeige auf die Tüte und frage, wohin er will. Einkaufen muss er und er ist einver­standen, dass ich ihn begleite. Wir machen uns auf den Weg und er erzählt, dass seine Eltern aus Tschetsche­nien kommen, von der Schule, dass er nie Freunde mitbringen darf, dass er ger­ne Fußball spielt. Es ist inzwischen wieder so kalt, dass mir langsam die Gesichtsmuskulatur einfriert. Ich frage ihn, ob er auch friert. Es kommt ein cooles „Geht schon.“, aus dem blaugefrorenen Kinder­gesicht. Wir blinzeln gemeinsam in die grellen Scheinwerfer. Es ist dunkel, als wir den Pfad in den Wald erreichen. Ich bleibe stehen, aber er grinst nur ­verfroren und schüttelt den Kopf: „Nein, das hier ist nichts für Frauen. Die gehen besser an der Straße lang. Das ist zwar weiter, aber sicherer.“ Ich verkneife mir ein La­chen, als er nach einem halben Kilometer zugibt, dass seine Eltern ihm die Ab­kürzung auch verboten haben.

Wir erreichen den Supermarkt. Wärmen uns. Er kauft ein. Auf dem Rückweg frage ich ihn, ob er sich hier willkommen fühlt. Er sieht mich an, senkt den Blick und schweigt. Es ist spät, wir verabschieden uns an der Schranke.

Den nächsten Tag – die Kältewelle hält unvermindert an – treffe ich auf Abdullah aus Afghanistan. Nachdem wir uns begrüßt und uns auf ein Verständigungs­gemisch aus Englisch, Arabisch und Deutsch geeinigt haben, erzählt er mir über seine Isolationshaft im deutschen Wald: Die Heizung fällt oft aus, der Haus­meister sei zwar freundlich, aber das Sozialamt bewillige kein Geld für eine Reparatur. Auch das Wasser sei oft kalt. Er zeigt in Richtung Krematorium: „Der Rauch, Schwester, er macht mich krank. Ich kann nicht essen, wenn ich gerade eine Leiche einatme!“ Er dreht sein Ge­sicht zur Seite: „Ich will weg, aber die lassen mich nicht. Wenn du einen schwarzen Kopf hast, dann hast du es schwer hier!“ Seine Mitbewohner aus dem Iran und dem Irak nicken. Ich frage nach den Kindern. „Natürlich spielen hier alle draußen. Die Hütten sind viel zu klein. Das Wasser im Bach, der Boden, nein, wir wissen nichts Genaues.“

Er bringt mich zu einer tschetschenischen Großfamilie. Familie Sultygov bewohnt mit ihren fünf Kindern die letzte Unterkunft vor dem Wald. Draußen steht ein Spielhäuschen auf der Wiese am (schwermetallverseuchten?) Abraumwall. Die Jüngste ist 11 Monate alt, das älteste Mädchen 10 Jahre. Alle Kinder sind in Deutschlandland geboren. Nach wenigen Sätzen füllt Verzweiflung die engen Zimmer: seit 11 Jahren lebt er hier, erzählt Herr Sultygov. Zuerst wohnten sie noch mit zwei anderen Familien in der Hütte. Seine Frau zeigt mir die Kü­che. So winzig, ich kann es nicht glauben. Ich frage sie nach Deutschland. „Der Kindergarten ist schlimm“, meint sie: „Ich laufe mit den drei Kleinsten früh eine ganze Stunde. Es ist dunkel. Es ist kalt. Wenn Schnee liegt muss ich auf der Bundestraße laufen, der Weg wird nicht geräumt. Es ist viel Verkehr. Die Autos rutschen. Aber wenn ich den Kindergarten nicht schaffe, dann werden sie dort böse und schimpfen!“ Das Geld für Le­bensmittel reicht fast nie, dann ist die „Tafel“ die einzige Rettung. Nein, willkommen fühlt sie sich nicht, im Gegenteil: oft hat sie Angst, wenn Deutsche ihre Bierflaschen nach den Menschen werfen. „Es gibt hier auch Mäuse im Haus, Schlangen, Ratten und Wildschweine draußen. Einmal haben Männer versucht, die Fenster einzuschlagen. Ich habe mich mit den Kindern versteckt und gebetet… Wer soll uns hier draußen helfen?“, schluchzt sie.

Herr Sultygov bietet mir einen Sitzplatz an und sagt leise, fast unhörbar zu mir: „Gut, dass sie gegen die Fenster geschlagen haben. Die Wände sind nur aus dünnem Gipskarton, sie wären sofort drin gewesen!“ Gegen die Mäuse, die über die Kinderbetten und durch die Küche rennen und Schmutz und ­Abfälle aus dem großen gelben Container mit den Ratten (ver-) teilen, hat er eine Katze angeschafft. Und er hat seiner Frau gesagt, dass die Katze auch die Schlagen vertreibt.

Ich frage wegen dem Boden. Sie ­wissen nichts. „Aber,“ meint er: „wir wollen sowieso nach Hause. Wenn sie mir nur meine Papiere geben, irgendwann. Tschetschenien ist besser als das hier. Ich kann nicht arbeiten und meine Frau mit den Kindern hier alleine lassen. Das ist viel zu gefährlich. Aber ohne Arbeit finde ich keine andere Wohnung. Wir haben es schon versucht, es geht einfach nicht. Keiner hilft uns!“ Ich frage noch wegen dem Krematorium. „Keiner hat uns gefragt. Es ist so ekelig. Im Sommer stinkt es hier sowieso wegen den Tümpeln oder der Deponie. Das ist genug. Was soll aus uns werden?“

Vor mir sitzt der Vater einer Großfamilie. Sein Rücken ist gebeugt, die Wangen sind eingefallen. Hoffnungslos. Al­lenfalls geduldet.

Wulff-Nachfolger: Mit Joachim Gauck einigten sich die Bundestagsparteien auf einen Kandidaten der Vergangenheit. Von Sulaiman Wilms

„Experten vermuten, dass die Kanzlerin Gauck vor allem als Übergangskandidaten sieht. Sie verweisen darauf, dass Merkel ihm bereits ihr volles Vertrauen ausgesprochen hat. Üblicherweise muss ein Politiker zwei bis vier Wochen nach so einer Erklärung seinen Posten räumen.“ (Titanic)

„Kurz: Die Personalie Gauck zeigt, was dabei rauskommt, wenn in diesem Land so gut wie alle einer Meinung sind (…). So bekommt dieses Land demnächst einen Winkeaugust, der die Vorzüge seiner Vorgänger in sich vereinigt (…). Schade ist nur, dass er nicht gleich am Donnerstag auf der Gedenkfeier für die Opfer der Nazimorde anstelle von Wulff in die Bütt gehen wird. Andererseits: Der nächste Dönermord oder eine andere Gelegenheit, um Ausländern die Meinung zu geigen, (…) und klarzustellen, dass Nationalsozialisten auch nur Sozialisten sind, findet sich ganz bestimmt.“ (Deins Yücel, Tageszeitung, 20.2.2012)

Berlin (iz). Die Geschichte, so eine banale Weisheit, wiederhole sich ein Mal als Tragödie und ein Mal als Farce. Braucht jemand noch einen Beweis dafür, wenn wir auf die Verhandlungen der letzten Stunden um die Nachfolge von Christian Wulff blicken? Ein Bundespräsident kann nicht durch seine reale Macht, sondern durch seine herausgehobene Position, sich in Debatten einschalten zu können, auf unser Land einwirken. Die letzten beiden Bundespräsidenten agierten leider mehr als nur unglücklich, was dazu führte, dass ihre Amtsperiode nicht fristgemäß zu Ende ging.

Wulffs Vorgänger, der Ex-Banker Köhler, scheiterte an seinem Amt [man munkelt, er habe sich geweigert, bestimmte Maßnahmen zur Bankenrettung zu ratifizieren].

Der eben zurückgetretene Niedersachse hingegen machte manches richtig: Mit einem klugen Einwurf griff er in die vergiftete Sarrazin-Debatte ein, erinnerte in seiner Lindauer Rede an die anhaltenden Gefahren einer unbegrenzten Finanzwirtschaft und setzte sich aktiv für Respekt gegenüber den Angehörigen der Opfer ein, die von der NSU-Terrorzelle ermordet wurden. Wulff musste wegen des unsouveränen Umgangs mit seinen mutmaßlichen Verfehlungen den Hut nehmen, nicht wegen seiner Amtsführung. Seine gelegentlichen, positiven Aussagen rechtfertigen allerdings auch nicht das kritiklose Lob, das ihm von einigen Muslimen und Migrantenverbänden ausgesprochen wurde.

Nun haben sich sämtliche Bundestagsparteien – mit Ausnahme der LINKEN – im alten Stile der Blockparteien auf Joachim Gauck in einer viel beachteten Verhandlungsrunde geeinigt. Sicherlich half es, dass der einflussreichste deutsche Medienkonzern nicht nur Wulff aus dem Amt schrieb, sondern auch in einer Blitzaktion den neuen mit aller Macht dahin bringen wollte, wo er nun zu landen scheint. Ein kurzer Blick auf den einstigen Bürgerrechtler macht deutlich, dass er ein Mann der Vergangenheit, und nicht der Zukunft sein wird.

Anders als Wulff (der sich bereits in Osnabrück und als Ministerpräsident um die Integration bemühte) – das lässt zumindest Gaucks Einschätzung von Thilo Sarrazin (dem er „Mut“ attestierte“) vermuten – hat der 72-jährige keinerlei nennenswerte Erfahrungen im Umgang mit Deutschlands Muslimen und den vielen Bundesbürgern, die einen Migrationshintergrund haben. Dies lässt Zweifel aufkommen, ob er überhaupt in der Lage sein wird, bei erhitzten Debatten um diese Themenfelder ausgleichend und klärend einzugreifen Bleibt zu hoffen, dass seine Bewunderung für den „Mut“ eines Sarrazins nicht für eine Akzeptanz dessen kruden Thesen steht.

Aber nicht nur Gaucks ungeklärtes Verhältnis zur muslimischen Minderheit, der die meisten Neubürger aus dem Osten bisher fremd geblieben sind, steht zur Debatte. Seine abwertende Kritik an der Occupy-Bewegung, an einer fundamentalen Kritik des Finanzkapitalismus und seine Äußerungen zu Harz-IV-Empfängern hatten viele im Laufe des Tages dazu bewogen, ihn als „neoliberalen“ Wunschkandidaten einzustufen. Umso ungläubiger blickt man auf die Unterstützung Gaucks durch die SPD und die GRÜNEN. Ist ihnen entgangen, dass ein Teil ihrer Mitgliederbasis keine oder nur geringe Gemeinsamkeiten mit den Ansichten des zukünftigen Bundespräsidenten hat?

Unterzieht man die Äußerungen Gaucks einer kritischen Untersuchung kann man zu dem Schluss kommen, dass sich seine Positionen seit 1989 in einem Zustand der Regression befinden. Er trat auf die bundesdeutsche Bühne als respektiertes Mitglied der so genannten „Bürgerrechtler“ der ehemaligen DDR (so wurde er zumindest in der BRD wahrgenommen), wurde zum mächtigen und einflussreichen Leiter der nach ihm benannten Behörde der Staisunterlagen ernannt und ist nun als Mitglied der einflussreichen „Atlantikbrücke“ im neoliberalen Lager gelandet.

Wie Gaucks Positionen mit seiner Herkunft als evangelischer Pfarrer zu vereinen sind, wird der zukünftige Bundespräsident sicherlich am besten wissen. Es stellt sich die Frage, wie der Nachfolger von Christian Wulff bei potenziellen Konflikten und Krisen der nahen Zukunft (Kriegsgefahr im Nahen Osten, der Angriff auf den Euro-Raum und die immer noch nicht geklärten Verwicklungen in der „Zwickauer Zelle“) positiv agieren kann, wenn seine polarisierenden Ansichten bereits vorab derart dokumentiert sind.

Es bleibt zu hoffen, dass der 74-jährige Wunschkandidat in der Lage sein wird, Christian Wulffs Format im Umgang mit Migranten und Muslimen zu übernehmen. Ansonsten besteht die Gefahr, dass Joachim Gauck spalten, und nicht versöhnen wird.

Weiterführender Link:
Joachim Gauck: transatlantischer Wunschkandidat der neoliberalen SPD

Verfassungsschutzbericht über die Muslimische Jugend in Deutschland hält gerichtlicher Prüfung nicht stand

„Eigentlich erfüllen die bundesweit rund 9.000 Mitglieder der MJD alles, was die Mehrheitsgesellschaft von Muslimen verlangt: Sie sprechen perfekt Deutsch, die meisten gehen aufs Gymnasium oder zur Universität, sie nehmen aktiv am gesellschaftlichen Leben teil. Die 1994 gegründete MJD wendet sich ausdrücklich gegen Gewalt und radikales Gedankengut.“ (Jan Kuhlmann, Stuttgarter Zeitung, 17.2.2012)

Berlin (iz/MJD). Das Berliner Verwaltungsgericht entschied bei einem wegweisenden Verfahren „zum größten Teil“ zugunsten der Muslimischen Jugend in Deutschland e.V. (MJD), die sich in dieser Instanz gegen das Bundesamt für Verfassungsschutz durchsetzen konnte, verlautbarte die MJD in einer Pressemitteilung vom 16.2.2012. „Die MJD begrüßt die Entscheidung des Verwaltungsgerichts Berlin vom 16.02.2012, welches feststellt, dass die Vorwürfe des Bundesamtes für Verfassungsschutz gegen die MJD zu großen Teilen rechtswidrig sind. Das Gericht ordnete eine Überarbeitung der Berichterstattung aus dem Jahr 2009 an.“

Die Richter haben „bei allen Punkten klar gestellt“, dass sich das Bundesamt für Verfassungsschutz bei einer Berichterstattung auf belegbare Tatsachen stützen müsse. Diese Mindestanforderung wurde in den besagten Punkten nicht erfüllt. Dadurch sieht das Gericht die Rechte der MJD als verletzt und somit das Klagebegehren als begründet an. „Wir begrüßen die Entscheidung des Gerichts und fühlen uns dadurch bestätigt, mit der Erhebung einer Klage einen richtigen Schritt gegangen zu sein. Die überwiegend positive Entscheidung des Gerichts zeigt, dass wir als religiöse Minderheit weiterhin Vertrauen in unser Rechtssystem haben dürfen“, äußerte sich Hischam Abu Ola, Vorsitzender der MJD e.V.

Es mache fassungslos, dass die Verfassungsschutzämter einerseits bei einer um Integration bemühten muslimischen Jugendorganisation mit Akribie nach Vorlagen für denunziatorische Erwähnungen suchen würden, auf der anderen Seite jedoch gewalttätige Rechtsextremisten über Jahre nur unzureichend ins Visier nehmen.

Das Berliner Urteil ist eine wichtige Entscheidung, weil es die beliebte Gleichsetzung von radikalem Gedankengut mit einer religiös-konservativen Einstellung als nicht rechtmäßig eingestuft hat. Es muss auch in Deutschland möglich sein, mit einer inneren religiösen Intensität als rechtstreue Bürger zu gelten.

Gerade auch im Lichte des Naziterror-Debakels mehrerer Landesverfassungsschutzämter sollte die Debatte über die Zukunft der Dienste, die keine Verfassungsorgane sind [Vergleichbares schrieb von einigen Tagen Heribert Prantl, Kommentator bei der SZ] geführt werden. Es kann nicht sein, dass in Deutschland mehrheitsfähige, muslimische Ansichten stigmatisiert und de facto kriminalisiert werden, die im europäischen Kontext – beispielsweise in Großbritannien – kein Problem sind.

Die Frage muss erlaubt sein, ob die, Muslime beobachtende Experten eine Beobachterrolle haben, oder durch ausgrenzende Definitionen selbst zu handelnden Akteuren werden und somit politische Entscheidungen vorwegnehmen.

Interview mit dem Philosophen Alfred Denker

Martin Heidegger sorgt heute immer noch für viele Irritationen und Polarisierungen. Die einen lieben ihn, andere wiederum halten ihn für einen Nazi-Philosophen. Aber sowohl Kritiker und Verteidiger Heideggers geben zu, dass man an ihm als Philosophen des letzten Jahrhunderts nicht vorbeikommt. Sein Hauptwerk „Sein und Zeit“ ist für jeden, der sich mit der Philosophie beschäftigt, eine Pflichtlektüre. (Das Gespräch führte Eren Güvercin)

Frage: Wieso polarisiert ein Denker wie Heidegger heute immer noch die Menschen?

Alfred Denker: Mit Wittgenstein ist Heidegger der einflussreichste Philosoph des 20. Jahrhunderts. Selbst wenn man seine Philosophie für bedeutungslos halten würde, kann man die Geschichte der Philosophie des 20. Jahrhunderts ohne sein Denken nicht verstehen. Seine Philosophie war in ganz verschiedenen Bereichen einflussreich. Neben der Philosophie vor allem in der Theologie, Psychiatrie, Literaturwissenschaft oder der Ökologie, und selbst Naturwissenschaftler wie Heisenberg und von Weizsäcker hat sein Denken angeregt. Gerade in Frankreich hat er einen ungeheuren Einfluss gehabt: von Sartre und Levinas zu Ricoeur und Foucault. Im Lichte von Heideggers Rektorat stellt sich die Frage, ob und inwieweit er im Nationalsozialismus verstrickt war und welche Folgen das für die von Heidegger inspirierte Philosophie hat. Dazu kommt, dass er in bestimmter Hinsicht ein Existentialist „avant la lettre“ war und als Person höchst interessant ist. Denken Sie nur an die Liebschaft mit Hannah Arendt. Er ist einer der Menschen, die man hasst oder liebt. Deshalb polarisiert er auch heute die Menschen.

Frage: Sie haben sich sehr intensiv mit dem Philosphen Martin Heidegger beschäftigt. Jüngst ist Ihr Buch „Unterwegs in Sein und Zeit“ erschienen. Es ist eine Art Einführung in die Person und das Denken Heideggers. Wie stehen Sie zu den Vorwürfen, dass Heidegger in den Nationalsozialismus verstrickt gewesen sei? Der französische Philosoph Emmanuel Faye bezeichnet ihn ja sogar als Vordenker des Nationalsozialismus.

Alfred Denker: Erstens muss jeder, der sich ernsthaft mit Heidegger befasst, die Vorwürfe ernst nehmen. Dazu kommt zweitens, dass ich den Nationalsozialismus verabscheue und mich nicht so intensiv mit Heidegger befassen würde, wenn er tatsächlich ein Nazi gewesen wäre. Es ist wichtig, genau zu untersuchen, wie Heidegger sich in die Nähe des Nationalsozialismus bewegt und wo er sich wieder kritisch davon trennt. Wir können so auch verstehen lernen, warum der Nationalsozialismus so viele Menschen begeistert hat. Es ist ganz schwer sich in die Lage von 1933 zurück zu versetzen. Die Behauptung, dass Heidegger ein Vordenker des Nationalsozialismus gewesen sei, ist leicht zu widerlegen. Selbst wenn Hitler Heidegger gelesen hat, hätte er nur politisch völlig uninteressante Texte lesen können. Von Heideggers Dissertation, Habilitationsschrift und Sein und Zeit gibt es keinen Weg zu Mein Kampf.

Frage: In seinen späteren Werken reflektierte Heidegger über das Wesen der Technik. Was für einen Bezug oder Beitrag kann Heideggers Spätwerk auf das Verständnis einer sich immer mehr als Einheit zeigenden neuen Welt, zwischen der Raserei der Globalisierung und der Quasi-Offenbarung des Internet, haben?

Alfred Denker: Der Beitrag, den Heideggers Denken immer leisten kann, ist das Fragen. Er stellt das für uns Selbstverständliche in Frage. Ein gutes Beispiel ist seine Behauptung, dass die Wissenschaft nicht denken kann. Damit meint er, dass für die Wissenschaft die existentiellen Fragen des menschlichen Lebens unlösbar sind. Meine Berufswahl, ob ich heirate oder nicht, usw. sind keine wissenschaftlichen Probleme. Es ist wunderbar, dass wir heute in einer Sekunde unendliche Informationen abrufen können. Heidegger würde aber sagen, dass Information keine Erkenntnis ist. Was wir von Heidegger auch lernen können, ist, dass die Globalisierung ein Prozess ist, der nicht vom Menschen gesteuert wird und dass dieser sich unserer Macht entzieht. Dies bedeutet, dass es keine einfache Lösung geben kann, was für Politiker schade ist, da sie alle Probleme innerhalb von vier Jahren lösen müssen.

Frage: Kann jemand, der Heideggers Werk studiert, überhaupt noch ein „blinder Parteigänger“ sein? Immerhin sieht er die Lösung der Grundfragen unserer Zeit eben nicht in alten politischen Ideologien. Im legendären Spiegel-Interview von 1976 sagte er: „Nur noch ein Gott kann uns retten.“

Alfred Denker: Was ich Heidegger abnehme, ist, dass ich als Philosoph immer weiter fragen soll und immer wieder das Selbstverständliche in Frage stellen soll. Eine Ideologie ist eine nicht mehr in Frage gestellte Theorie und deshalb gefährlich. Einfache Lösungen gibt es leider nicht und ein Rezept für den Himmel auf Erden auch nicht. Tod und Krankheit gehören zur menschlichen Existenz. Ewig leben können wir als Menschen nicht. Die Aussage „Nur noch ein Gott kann uns retten“ ist m.E. unglücklich, weil sie nicht ausgewiesen werden kann. Dazu kommt, dass wir in unserer Zeit die Gefahr von religiösen Ideologien kennen gelernt haben. Von „Nur noch ein Gott kann uns retten“ zu „Nur dieser Gott kann uns retten“ ist es ein kleiner Schritt. Ich würde lieber sagen (und das wäre m.E. Heideggers Gedanke): „Kein Mensch kann uns retten“. Nur wir endliche Menschen in unserem Zusammenleben können versuchen, diese Problemen zu lösen. Das ist nicht viel, aber zumindest etwas.

Frage: Kann man in Zeiten der größten Finanzkrise, die wir gerade erleben, Heideggers Technikanalyse in Zusammenhang mit den modernen Abgründen der Finanztechnik bringen? Wenn man sich die Auswüchse der globalen Finanztechnik betrachtet, kann man sich des Eindrucks nicht erwehren, dass „nicht wir die Technik in der Hand haben, sondern sie hat uns in der Hand“, um mit Heidegger zu sprechen…

Alfred Denker: Es ist eine wichtige Aufgabe, Heideggers Denken aufzugreifen, uns weiter zu entwickeln in Richtungen, die Heidegger nicht gegangen ist. Die Finanztechnik könnte als neue Erscheinung des „Gestells“ gedeutet werden. Vielleicht könnten wir dann sagen, dass das Geld vom Mittel zum Zweck geworden ist und gerade deshalb sein Wesen verfehlt. Heidegger würde sagen, dass die Krise der Finanztechnik finanztechnisch unlösbar ist. Die Versuche, Griechenland finanztechnisch vom Bankrott zu retten, belegen dies. Dies würde bedeuten, dass eine Systemänderung notwendig wäre, und diese könnte nur politisch durchgesetzt werden.

Kleine Zeitungen haben es schwer. Gut, dass es sie noch gibt. Von Abu Bakr Rieger

(iz). Was wäre unsere Medienlandschaft ohne all die ­kleinen Zeitungen, ungewöhnlichen Magazine und abseitigen Nischenprodukte? Was wäre die Meinungs­freiheit wert, wenn Minderheiten nicht mehr die Möglichkeiten hätten, sich selbst öffentlich und möglichst professionell darzustellen? Na klar, dann ­würde nicht nur das Salz in der Suppe fehlen, sondern wir hätten bald auch einen ziemlich faden Einheitsbrei. So sehen es zumindest die kleinen Verlage selbst. Es muss also auch weiter kleine Zeitungen geben! Wer hätte sonst so klar formuliert, dass der Islam auch ökonomische Lösun­gen anbietet, die Lehre nichts mit Selbstmordattentätern zu tun haben will und dass es auch deutsche Muslime gibt?

Bei über drei Millionen Muslimen im Lande sollte auch ein islamisches Medium seine Daseinsberechtigung haben. Aber man mache sich andererseits ­keine Illusionen: Für die Kleinen ist das Überleben heute noch schwieriger geworden. Man kann sich als Nischenprodukt betriebswirtschaftlich aufstellen, wie man will, der Berg der Rechnungen wird immer nur größer. Leider. Aber auch der Vertrieb kann Kummer machen. Im Internet gibt es die „billige“ Konkurrenz hunderter Nachrichtenseiten von ­Profis und Amateuren und eine Abo-Zeitung benötigt eben Abonnenten und davon gibt es immer zu wenige. Also ein guter Moment, zunächst den Abonnenten zu danken, die uns auch mit kleinen Geldbeuteln die Treue halten. Ohne sie, unsere AbonnentInnen gäbe es keine 200. Ausgabe und ohne einige mehr, unter uns gesagt, wird es auch die 300. Ausgabe, bei allem Gottvertrauen, wohl eher nicht geben.

Aber das sind die Sorgen von morgen. Heute freuen wir uns, dass es die Islamische Zeitung als ein unabhängiges Sprachrohr der Muslime in Deutschland überhaupt gibt. Wir bemühen uns jedenfalls, trotz einiger dunklen Wolken am Horizont der „kleinen“ Zeitungsmacher, weiter ein Qualitätsprodukt auszuliefern. Also eine Zeitung, die lieber differenziert als polemisiert, auf Grundlagen Wert legt, den Unterschied zwischen Ideologie und Lebenspraxis begreift und so nicht über jedes Stöckchen zwischen den Polen der Moderne und der Tradition springt. Eine Zeitung eben, mit der all diejenigen gut leben ­können, die die Offenbarung fasziniert, unser Prophet begeistert und mit der Vielfalt der Muslime ganz gut leben können. Gerne ärgern wir auch die Kritiker weiter, die sich ein dumpfes Bild der Muslime wünschen. Kurzum, die Islamische Zeitung ist längst Teil der deutschen Kulturlandschaft – gerade auch dank der vielen AbonnentInnen, die gar keine Muslime sind. Hier ist die Ausgabe 200, viel Spaß beim Lesen!

Kommentar: Die Westdeutsche Landesbank will Muslime mit einem neuen Fonds anlocken. Von Sulaiman Wilms

(iz). Muslime und Ökonomie, geht das zusammen? Darauf sind zwei Antworten möglich. Einerseits muss man dies bejahen: Muslime sind auch Verbraucher, Kunden, Unternehmer und Investoren. Außerdem – was oft unterschlagen wird – besteht das islamische Recht erheblich aus ökonomischen Bestimmungen [arab. Mu’amalat, im Gegensatz zur rituellen Anbetung, ‘Ibadat]. Andererseits ­könnte man vom medialen Standpunkt diese Frage verneinen, denn dieser Zusammen­hang wird in der Debatte unterschlagen. Von jenen, die im Namen der Muslime sprechen – „Konservativen“ wie „Liberalen“ – war in der Vergangenheit kaum oder nichts zu essenziellen ökonomischen und monetären Fragen zu hören.

Nimmt ein Muslim heute die verpönte „Scharia“ bejahend in den Mund, ist ihm Kritik sicher. Ironischerweise sind Banken und Fondsmanager die einzigen, die sich auf dieses ansonsten unbeliebte Wort berufen. Dieser Widerspruch wurde bisher übersehen. In Krisenzeiten ist die „unsichtbare Hand“ der Finanzmärkte aber darauf angewiesen, auf bisher un­er­schlos­sene Geldquellen (auch die der ­Muslime) zurückzugreifen.

Der Markfachmann Wolfgang Raum geht in seinem Newsletter davon aus, dass Muslime in Deutschland jährlich bis zu zwei Milliarden Euro in konventio­nellen Bank- und Versicherungsproduk­ten anlegen. Auch ihre Sparquote liege über dem deutschen Durchschnitt. Anders als vielen konsumbewussten Biodeutschen sieht man es vielen ­ehemaligen „Gastarbeitern“ nicht immer an, ob sie Immobilien oder große Sparvermögen besitzen. Ein muslimischer Brancheninsider bezifferte im Gespräch die ­Summe der von Muslimen in Deutschland gehal­tenen Vermögenswerte auf rund 70 Milliarden Euro.

Trotz des seit Jahren beworbenen ­Hypes um Halal-Industrie und das vermeintliche „Islamic Banking“ blieb es hier eher ruhig, soweit es die Masse betrifft. Obwohl einige Banken Investment­fonds unter dem Etikett „Scharia-Kompatibilität“ anboten, richteten sie sich eher an ausländische Investoren; insbesondere aus reichen Rohstoffstaaten. In Ermangelung großer Angebote ­versuchen kleinere Agenturen nun, diese Lücke zu füllen und Muslime im Direktmarketing anzusprechen.

Düsseldorfer preschen vor
Die in Düsseldorf ansässige Westdeutsche Landesbank Girozentrale (WestLB) scheint nun als einer der ersten die ­Lücke füllen zu wollen. Wie Raum selbst, PR-Agenturen und die „Welt“ am 16.1. berichteten, ging am 20.1. auf den ­Börsen in Frankfurt und Stuttgart ein „Islamic-Stragie-Zertifikat“ an den Start. In dem vom Zentralrat der Muslime (ZMD) zertifizierten Fonds offerieren die Düsseldorfer „ein risikoreduziertes Investment in die zehn größten islamkonformen Unternehmen Deutschlands“. Als ­Maßgabe, welche DAX-Unternehmen in den Fonds einfließen, dient der WestLB-eigene Index, WestLB Islamic-Deutschland. Welches Unternehmen auf dem Index geführt wird, entscheidet am Ende IdealRatings, eine USA-Firma, die sich auf den „islamischen Finanzmarkt“ spezialisiert hat.

Angeblich werde das Risiko von Verlusten durch eine „Stopp-Loss-Strategie“ reduziert. Verliert der Fonds auf Schlusskursbasis acht Prozent oder mehr gegen­über dem Anfangspreis ­beziehungsweise dem Schlusskurs zum letzten Anpassungszeitpunkt, solle das Kapital am ­folgenden Handelstag vollständig in ein unverzinsliches Geldkonto umgeschich­tet werden. Vor einer weiteren Krise sind auch muslimische Anleger nicht gefeit. Gerade der vermeintliche „islami­sche Finanzmarkt“ kann, wie das Beispiel Dubai zeigt, scheitern, wenn Inves­titionen oder Sicherheiten an die allge­meinen Märkte gekoppelt sind. Bei Gold, Silber und werthaltigen Rohstof­fen hätten die großen Fonds nicht derartige Kapitalsummen vernichtet, wie es ab 2008 der Fall war.

Es bleiben Fragen offen
Nach Angaben von Frank Haak, Leitender Direktor bei der WestLB für „Equity Markets“, erfolgte die Zertifizie­rung „durch drei Gelehrte, die im ­Namen des Zentralrats der Muslime in Deutschland e. V. (ZMD), die Zertifizierung übernommen haben“. Namentlich seien dies: Mufti Abdul Kadir Barkatulla (London, Imam Finchley Mosque), Scheich Haytham Tamim (London, Utrujj Fundation) und Michael Saleh Gassner (Zürich, Islamic Finance-Experte). Nach Angaben von Haak benennt die zertifizierende Einrichtung jedes Jahr eine ­gemeinnützige Einrichtung, die fünf Prozent der Divi­dende erhalten soll.

Die anvisierten deutschen Unterneh­men wie Adidas, BASF, Bayer, E.ON, RWE, SAP, Siemens und ThyssenKrupp machen angesichts ihrer Bekanntheit Eindruck. Das Auftauchen der Energie­oligarchen RWE und E.ON dürfte wegen ihrer Beteiligung an der Atomenergie für Kritik sorgen. Es ist dem zertifizierten Anspruch des Paketes, islam-kompatibel zu sein, wohl auch eher abträglich, dass Adidas in der Vergangen­heit mit inhumanen Arbeitsbedingungen in der Dritten Welt in Verbindung gebracht wurde. Dass ThyssenKrupp am europäischen Werftenverbund ThyssenKrupp Marine Systems (TKMS) beteiligt ist, und somit zu den ­modernsten Produzenten maritimer Militärtechnologie zählt, muss den Finanz-Gelehrten entgangen sein.

Noch gravierender ist, dass die WestLB als integraler Bestandteil der krisengeschüttelten europäischen Finanzlandschaft bisher Teil des Problems, und nicht der Lösung war. Wie die „Welt“ richtig einschätzt, schützt auch eine „Stopp-Loss-Strategie“ nicht vor einer eventuellen Pleite der Düsseldorfer, da es sich bei dem Index um eine Schuldverschreibung handle. „Die Ratingagentur Fitch bewertet die WestLB mit ‘A-’. Die Versicherungsprämie für das Risiko eines Kreditausfalls der WestLB liegt laut Scope aber mit aktu­ell 401 Basispunkten deutlich höher als bei den meisten anderen Emissionshäusern“, findet sich in der „Welt“.

Muss man sich die Frage stellen, welchen Kenntnisstand die zertifizierenden Gelehrten bei ihrer Rechtsmeinung hatten? Immerhin übersahen sie, dass die WestLB selbst ein versuchter Player am Kasinokapitalismus (eigentlich nicht ­islam-konform) sein wollte. 2006 verzeichnete die Bank laut Wikipedia ­einen Eigenverlust von einer Milliarde Euro. Man hatte sich beim Zocken mit Kursdifferenzen spekuliert. Und im „Februar 2008 mussten die Eigentümer (…) umfangreiche Rettungsmaßnahmen beschließen. Die Bank gliederte risikobehaftete Wertpapiere im Wert von 23 Mrd. Euro in eine den gesetzlichen Vorschriften zufolge gegründete Zweckgesellschaft außerhalb der Bank aus. Dadurch befreite sich die Bank von bilanzwirksamen Belastungen aus diesem Portfolio“, findet sich in dem online-Lexikon zur WestLB. In Folge ­verließen zwei Manager das Finanzinstitut.

Gefordert sind ­nachhaltige Investitionen
Ob der neue Index und die damit einhergehende Zertifizierung einen nachhaltigen Nutzen für Muslime, die Community und ihr Umfeld hat, bleibt offen. Investmentfonds und Anlagemöglichkeiten sind ohne Frage ökonomischer Alltag. Inwiefern dieses Geschäfts­modell mit dem Etikett „islamisch“ versehen werden sollte, kann in Frage gestellt werden.

Will man beides – Profite und allgemeinen Nutzen – miteinander in Einklang bringen, wären ebenso gewinnorientierte Immobilienfonds denkbar, die auf lokaler Basis Räumlichkeiten für Gemeindezentren, lokale Kliniken, Schulen etc. schaffen und vermieten. Ein Blick auf Großbritannien zeigt, dass dort viele die Notwendigkeit für Investitionen in eine lokale Entwicklung erkannten. Hierbei gelten muslimische Gemeinden auch als produktive Bestandteile der sozialen Kohäsion. Das deutsche Genossenschaftsrecht beispiels­weise lässt die Gründung einer Genossenschaft schon mit einer geringen Teilnehmerzahl zu. Mit diesem Geschäftsmodell sind diverse nachhaltige, ökonomische Konzepte denkbar. Offenkundig herrscht in Deutschland ein Vakuum, über das Muslime reflektieren und in das sie investieren sollten.

In der Vergangenheit bestand die einzige (von verbandsinternen Projekten großer Moscheeverbände abgesehen) kollektive Anstrengung deutscher Muslime aus der Sammlung von Spendengeldern für auswärtige Katastrophengebiete. Auf die Entwicklung einer für alle Seiten nützlichen Infrastruktur und die Mehrung eigener Ressourcen ­wurde bisher verzichtet. Hier schließt sich der Kreis: Während einzelne Moscheen und Verbände Zertifikate (für Banken und die Lebensmittelindustrie) ausstellen, gibt es ansonsten kein nennenswertes Interesse an den (siehe oben) Mu’amalat.

Erlauben wir es als Muslime ebenfalls nur noch Banken und Brokern, als ­einzige die „Scharia“ in den Mund zu nehmen?

Überlegungen zu den Herausforderungen von Eheanbahnungen bei jungen Muslimen. Vom Tasnim El-Naggar

(iz). Ein erfolgreiches Finden beginnt mit einer erfolgreichen Suche. Diese Worte sollen der Beginn einiger Überlegungen vor allem über die Suche sein – die Suche nach dem geeigne­ten Ehepartner. Man könnte meinen, heute ist eine ganze junge Generation auf der Suche. Auf der Suche nach Liebe. Auf der Suche nach Zuneigung. Auf der Suche nach Erfüllung. Auf der Suche nach Geborgenheit. Schlichtweg: auf der Suche nach der besseren Hälfte.

Schmachtend denken sie daran, wie sich in ihren jungen Jahren Pocahontas und John Smith fanden, wie Simba ­seiner Nala das Ja-Wort gab, wie Cinderel­la ihren Traumprinzen fand. Das war Disney-Liebe vom Feinsten. Später kam dann die nicht mehr ganz so unschuldige Hollywood-Liebe hinzu – etwa Nicholas Sparks mit seinen Liebes-Schnulzen á la „Das Leuchten der Stille“, „Message in a bottle“ oder „Wie ein einziger Tag“. Da schmolzen vor allem die Frauenherzen dahin. Wie ist das alles doch wunderbar! Gerade für junge Muslime kommt aber auch Bollywood dazu. Da wird immerhin die Familie einbezogen. Und ein Happy End ist garan­tiert – „in guten wie in schweren Tagen“. Egal wo man hinschaut oder -hört: ­Filme, Musik, Werbung, Freunde. Überall ist diese Suche nach der besseren Hälfte präsent. Und wir Muslime stecken mittendrin. Majnoon sucht Leyla, Leyla sucht Majnoon. Nicht wahr?

Aber was steckt dahinter? Steckt ­Disney, Hollywood, Bollywood und Co heutzutage tatsächlich so sehr in den Köpfen? Vor welchen Herausforderungen stehen wir Muslime, hier und ­heute? Was können wir tun, was sollen wir tun?

Fragen über Fragen, die unsere Suche stets begleiten. Alte Muster und „Vermittlungsmethoden“ sind inzwischen bei vielen gebildeten Muslimen weggefallen. Mama und Papa stehen oft ratlos im Flur. Sie können als Angehörige der ersten Generation ihren Kindern keine geeigneten Partner mehr vorschlagen. Nein, es soll doch eine Liebesheirat sein! Nein, er soll mich entdecken und erobern! Nein, er soll doch sehen, wie toll ich bin und auf mich und meine Familie zukommen!

Und er soll gebildet und religiös und wohlhabend und witzig und soft und stark und und und…sein! So stellen sich viele junge muslimische Frauen ihren Mr. Right vor. Und sie warten und ­warten und warten…

Anders herum steht manch ein ­junger Muslim ratlos vor großen Herausforderungen. Wie kann er diesen hoch intelligenten und gebildeten, überaus selbstbewussten und unabhängigen, sensiblen und aufmerksamen muslimischen ­Frauen noch gerecht werden? Wie kann er ­seine Prinzessin finden, wo sie doch oft so unnahbar und nichts und niemanden brauchend wirken? Und die jungen Männer zögern und zögern und zögern…

Irgendwann ist die Frustration groß, die Ratlosigkeit größer. Was sollen sie nur machen, die jungen Frauen, die sich doch schon lange die perfekte Liebesgeschichte ausgemalt haben, und die jungen Männer, die sich zuweilen alte Zeiten zurückwünschen, wo alles noch einfacher war? Wer kann ihnen Orientierung und Unterstützung in dieser Zeit des Umbruchs – zwischen alten Wertvorstellungen und neuen Medienbildern – geben? Dies ist eine Frage, vor der die gesamte muslimische Gemeinschaft zur Zeit steht, und die sowohl Nichtver­heiratete als auch Verheiratete etwas angeht, denn jeder Einzelne trägt bei der Bewältigung dieser Herausforderungen Verantwortung.

Wir müssen wir uns von Disney, Hollywood, Bollywood und Co. endgültig verabschieden. Eine Heirat auf Grund von Schmetterlingen im Bauch ist zwar sicher anfangs schön, ist aber keine ­Basis für eine Ehe von Dauer. Kein Mensch kann einen anderen komplett oder vollkommen machen, kann in ihm das ausfüllen, was ihm „immer schon gefehlt hat“. Das, was innerlich fehlt, kann nicht durch einen „Draußen“-Faktor – den Ehepartner – ausgeglichen werden. Mr. Right und Prinzessin adé!

Zuneigung und Sympathie ist unabdingbar, wichtig ist aber vor allem eine starke gemeinsame Basis. Um diese herstellen zu können, ist es notwendig sich selbst gut zu kennen, seine Wünsche und Vorstellungen klar vor Augen zu haben und zu wissen: Was brauche ich, ­worauf kann ich verzichten, worauf nicht? Nur so ist es auch möglich, sein Gegenüber wahrzunehmen und einzuschätzen. Da die Menschenkenntnis oft durch Gefühle überlagert wird, ist es an dieser Stelle von großer Bedeutung, Menschen als ­Berater einzuschalten, die beide Beteiligten einschätzen können, aufrichtig und ehrlich ihre Einschätzung preisgeben und ein realistisches Bild einer Ehe haben. Der Islam ebenso wie das Vorbild des Prophe­ten ist hier eine gute und starke Richtlinie, die uns Muslimen an die Hand gege­ben wurde.

„Suchende“ machen sich oft entweder zu viele Gedanken oder zu wenige. ­„Liebe macht blind“, so heißt es, und das nicht umsonst. Wer verliebt ist, sieht gut und gern über Dinge hinweg, vergisst die sozialen, finanziellen, kulturellen, ­religiösen Umstände – Hauptsache, die Gefühle stimmen. Doch jeder Mensch hat sein Umfeld, hat auch seine Schwächen und Fehler, die nicht unterschätzt werden dürfen, denn ändern kann man nur sich selbst, nicht aber seinen Partner. Ist einem dies nicht bewusst, kann man schnell hinfallen. In einem solchen Fall liegt es an der Person selbst, sich zu besinnen, aber auch an den Menschen in seiner Umgebung. Sie können ihr Bestes tun, ihm die rosarote Brille ein wenig von der Nase zu rücken und ihm mit einem Fingerzeig darauf hinzuweisen, was im ­Falle einer Ehe wirklich vor ihm läge.

Unter den Suchenden sind aber auch solche, die sich zu viele Gedanken machen und am Ende immer etwas finden, was sie von einer Eheschließung abhält. „Was, wenn…“, „ich bin nicht gut ­genug“, „er ist nicht gut genug“, „ich kann das nicht“ sind nur einige der ­vielen möglichen Gedankengänge. Eckart von Hirschhausen verglich dies einst mit einem Menschen, der so lange auf die Speisekarte schaut, um Essen zu bestellen, dass schließlich keines der Gerichte mehr gut genug für seinen Gaumen ist. Oft sind auch viele Ängste mit einer Eheschließung verbunden, da man möglicherweise in seiner Umgebung bereits viele tragische Ehegeschichten mitbekommen hat oder gar Tränen von gebro­chenen Herzen trocknen musste. Für diese Personen ist es wichtig, dass sie in Kontakt mit muslimischen Paaren kommen, deren Ehe glücklich und auf einem stabi­len Fundament gebaut ist. So kann die Zuversicht, eine Ehe bewältigen zu können, wieder wachsen.

Mein zweiter Aspekt ist die muslimische Gemeinschaft als Instanz der Partnersuche. Die „Suchenden“ sind mit ­ihrer Suche oft überfordert, fühlen sich alleingelassen, können sich aber auf Grund des Generationenunterschieds und der unterschiedlichen ­Vorstellungen nicht an ihre Eltern wenden oder sind konvertiert, sodass sie keine Eltern haben, die ihnen in dieser Hinsicht helfen können. Sie benötigen noch einmal im Besonderen den Schutz der Gemeinschaft, da sie keinen Wali haben, der verhindern kann, dass sie von Brüdern, die sie als „leichte Beute“ betrachten, ausge­nutzt werden.

Hier greifen vertrauenswürdige ­Brüder und Schwestern in der Umgebung der „Suchenden“. „Den Suchenden“ hilft es wenig, wenn sie dann hören müssen: „Nee, tut mir leid, ist mir zu viel Verant­wor­tung“ oder wenn sie daraufhin belie­bige „Streuanfragen“ per Mailverteiler bekommen, die dann entweder zum müden Wegklicken oder zum „Kennenlern-Marathon“ führen. Genauso gut ­könnte es sich um gebrauchte Möbel oder stinkende Schuhe handeln.

Viel wichtiger und geeigneter sind hier „soziale Schnittstellen“, also Menschen, die in muslimischen Gemeinschafen aktiv sind, viele Leute kennen, eine gute Menschenkenntnis haben und sich im Klaren darüber sind, worauf es in einer Ehe ankommt. Diese Menschen können als Vermittler fungieren. Sie sollten sich aber davor hüten, „ins Blaue“ zu ­kuppeln und auch davor, ihre Verantwortung, die eben nicht mit dem ersten Kontaktaufbau beendet ist, zu vernachlässigen. Eine gesunde Einstellung ­zwischen „machen lassen“ und „sich einmischen“ ist in ­dieser Sache sinnvoll und kann den meist unerfahrenen „Suchenden“ enorm helfen.

Wird all dies beachtet, ist das Suchen erfolgreich, so kann es – mit der Erlaubnis Allahs – zu einem Finden werden. Ist der Glaube an Pocahontas und Smith, Simba und Nala, ­Leyla und Majnoon hiermit zunich­te gemacht, so kann es doch hoffentlich dem Vertrauen in ­Fatima und Ali, Sumayya und Mahmud, Karima und Ikram neuen Auftrieb verleihen!

Kommentar: Seit Tagen bestimmt eine Scheinaffäre die Tagesordnung. Von Yasin Bas

(iz). Weshalb debattiert Deutschland seit Kurzem so ausgiebig über Bundespräsident Christian Wulff und kaum noch über die rechtsextremistische Terrorbande und deren Verbindungen zu V-Leuten der Nachrichtendienste? Ist die von vielen Politikern als „Staatsaffäre“ und „Nachrichtendienstpanne“ bezeichnete Affäre denn aufgeklärt, sodass wir uns nun einem allbestimmenden Thema widmen? Wovon will man die Öffentlichkeit ablenken? Und wieso wird ein Bundespräsident Wulff derart erbarmungslos angegriffen?

Bundespräsident Christian Wulff ist ein CDU-Politiker. Wir wählen als Bürger Politiker, keine Päpste oder Heiligen. Die Bundesversammlung tut dasselbe, wenn sie einen Bundespräsidenten kürt. Wulff stammt aus Osnabrück, die sich selbst als „Friedensstadt“ bezeichnet. Wulff ist ein überaus toleranter und offener Mensch. Solche Politiker wie ihn gibt es nur selten. Ohne die Hilfe von Wulff gehörten heute weder der Volkswagenkonzern noch Porsche zu den größten Automobilunternehmen der Welt. Christian Wulff hat mit Geschick die Autofirmen vor der Übernahme ausländischer Unternehmen gerettet. Ohne seine Unterstützung wären heute unzählige Menschen in Niedersachsen arbeitslos.

Geprägt wurde Wulff sicherlich auch durch die multikulturelle und multireligiöse Atmosphäre in Osnabrück. In der „Friedensstadt“ herrscht ein vorbildliches Miteinander der Religionen und Ethnien. Die Arbeitsgemeinschaft der Religionen in Osnabrück (AROS) trifft regelmäßig zusammen. In ihr sind Mitglieder aller Religionsgemeinschaften und Konfessionen vertreten, die Osnabrück zu bieten hat. So zum Beispiel orthodoxe Christen und weitere Gruppierungen, die es außer den großen Religionen Judentum, Christentum und Islam noch gibt.

In der „Stadt des westfälischen Friedens“ Osnabrück wurde Christian Wulff auch von dem 2007 verstorbenen Yilmaz Akyürek geprägt. Akyürek engagierte sich in den 1970ern und 1980er Jahren als Vorsitzender des türkischen Elternrates vor allem dafür, dass Kinder türkischer Familien in Osnabrück ihren Platz im deutschen Schulsystem fanden. Er hat auch die Arbeit des Ausländerbeirates der Stadt Osnabrück beeinflusst, dem er mehr als zwanzig Jahre lang angehörte. Für seine vielseitigen interkulturellen und interreligiösen Verdienste wurde Akyürek 1999 durch die Verleihung der Osnabrücker Bürgermedaille gewürdigt. 2008 wurde sogar ein Platz in Osnabrück nach ihm benannt.

Wieso berichte ich hier von ihm? Christian Wulff und Yilmaz Akyürek waren enge Bekannte. Sie arbeiteten auch während der Zeit der Tätigkeit von Akyürek im Ausländerbeirat zusammen. Damals war Wulff noch Ratsherr und zeitweise auch Vorsitzender der CDU-Ratsfraktion Osnabrück. Wulff respektierte Akyürek derart, dass er sich bei einer Veranstaltung, bei der auch der Autor anwesend war, von seinem Stuhl erhob und Akyürek respektvoll begrüßte und ihn bat, neben sich Platz zu nehmen. Dieser Respekt gegenüber einem Menschen, ganz gleich welcher Herkunft er war, brachte Wulff Sympathien bei den Osnabrückern ein.

Auf lokaler Ebene hatte Wulff die Herzen der Menschen schnell gewonnen. Auf Landesebene setze er ein Zeichen, als er als Ministerpräsident von Niedersachsen die erste muslimische und türkische Ministerin Deutschlands in sein Kabinett berief. Dadurch bewies Wulff Weitblick und Fingerspitzengefühl. Er konnte schon – im Gegensatz zu Parteifreunden und anderen Politikern – recht früh die demographische Entwicklung des Landes deuten und dementsprechend handeln. In einem Land, in dem knapp 20 Prozent der Bevölkerung ausländische Wurzeln haben, in dem über drei Millionen Menschen türkischer Herkunft leben und in dem fast fünf Millionen Muslime heimisch sind, war Christian Wulff der erste, der auf die Idee kam, eine Muslimin zur Ministerin zu ernennen.

Damit schrieb der Bundespräsident Geschichte. Spätestens seit diesem Zeitpunkt wurde er in den Augen mancher nationalistischer Kreise zur Gefahr. Auch an der Einführung des islamischen Religionsunterrichts an niedersächsischen Grundschulen, sowie der Etablierung islamisch-pädagogischer Lehrstühle an staatlichen Universitäten war Christian Wulff beteiligt.

Der Wissenschaftsrat der Bundesrepublik Deutschland übertrug diese Initiative von Wulff auf ganz Deutschland. Bedauerlicherweise wurden Wulff und seine Gattin Bettina nach ihrer Heirat von fundamentalistisch-katholischen und evangelikalen Kreisen heftig angegangen, weil in der katholischen Lehre eine Scheidung und erneute Ehe verboten ist. In einschlägigen Internetforen kann man viele Anfeindungen und Beleidigungen nachlesen.

Nachdem er Christian Wulff zum Bundespräsidenten gewählt wurde, setzte er sich immer wieder für den interkulturellen und interreligiösen Dialog ein. Fast in jeder Rede, Neujahrsansprache und Grußmitteilung kamen diese Begrifflichkeiten vor. Wulff sprach von einer „Bunten Republik Deutschland“ und erinnerte auch die „Ewiggestrigen“ daran, dass sich Deutschland änderte. Auch wenn viele es nicht wahrhaben wollten oder konnten, Deutschland wurde schon seit Jahren und Jahrzehnten vielfältiger, verschiedener und bunter. Der Bundespräsident sah und sieht in jedem Menschen, der hier lebt, einen Staatsbürger. Ein bis zu dieser Zeit noch nie da gewesenes „Wir-Gefühl“ zog mit Wulff durch Deutschland. Durch diese neue Bewegung und Dynamik, durch diese moderne Denkweise haben Millionen Menschen ihre Liebe zu diesem Land wieder entdeckt.

Das Fass zum Überlaufen brachte für manche Kreise das Bekenntnis des Bundespräsidenten anlässlich des Tages der Deutschen Einheit, dass „auch der Islam ein Teil von Deutschland“ ist. Kein Politiker – bis auf den früheren Innenminister Wolfgang Schäuble (2009) – hatte so etwas bis dahin in den Mund genommen. Ähnlich wie jetzt wurde Wulff für diese wahren Worte wochenlang von Medien und bestimmten Politkern – leider auch aus der eigenen Partei – heftig angegriffen. Zuletzt kritisierte Wulff die versagenden Sicherheitsbehörden und Verantwortlichen im Kampf gegen den rechtsextremistischen Terrorismus -Verzeihung, der „Dönermörder“. Er empfing die Familien sowie Angehörigen der Opfer, von denen einige von fast allen Medien und Teilen der Behörden zuvor verdächtigt wurden, mit den Terrorakten oder Lynchmorden in Verbindung zu stehen.

Christian Wulff vergoss im Gegensatz zu anderen Politikern und Würdenträgern ehrliche Tränen anstatt Krokodilstränen. Das haben Millionen Menschen gespürt und gefühlt, davon haben auch die Medien der Migranten berichtet. Diese Anteilnahme hat man bei Landesministern oder Ministerpräsidenten vergeblich gesucht. Hätten nicht wenigstens die Ministerpräsidenten von Thüringen, Baden-Württemberg, Nordrhein-Westfalen und Bayern dieselbe Sensibilität gegenüber den Familien der Opfer zeigen und ihre Trauer teilen können?

In einer Zeit, in der die Aufklärung der rassistischen Morde gegenüber Türken, Muslimen und Ausländern den ersten Rang in der Presse und Tagesordnung einnehmen müsste, sieht man nun seit Tagen, dass ein anderes Thema – plötzlich (!) – die Tagesordnung einnimmt und zu dominieren versucht. Die Menschen in diesem Land sind nicht dumm.