
Von den Engeln: Erster Teil eines Essays von Ahmet Aydin über einen Aspekt der unsichtbaren Welt.
(iz). Es gibt Dinge, die man nicht sieht. Und doch wirken sie. Gedanken zum Beispiel. Zärtlichkeit. Hoffnung. Oder Licht, das man nicht direkt sieht, sondern nur an dem, was es berührt. Die alten Griechen sahen nicht bloß eine Sonne. In ihrer Vorstellung lenkte jemand namens Helios einen Feuerball.
Die Sehnsucht nach solch einer Vorstellung bringt Schiller in seinem Gedicht „Götter Griechenlands“ zum Ausdruck: „Wo jetzt nur, wie unsre Weisen sagen, / Seelenlos ein Feuerball sich dreht, / Lenkte damals seinen goldnen Wagen / Helios in stiller Majestät.“
Und heute ist alles wissenschaftlich vermessen und berechnet. Was sich nicht berechnen lässt, wird verworfen, als abstrus erklärt und ins Land der Feen und Märchen abgetan. Muslime stehen seit der Aufklärung vor der Herausforderung, zu prüfen, ob ihr Glaube der Vermessung der Natur standhält.
Manche Muslime sagen, dass sie das nicht müssen. Wieder andere Sagen, dass die Büchse der Pandora geöffnet wurde. Das heißt: Es glaube, wer noch glauben kann.
Und damit könnten wir wieder zur Tagesordnung zurückkehren. Eigentlich. Wenn da nicht die Quantenphysik wäre. Wenn da nicht ein Elektron wäre, das sich wie eine Welle verhält und durch zwei Spalte zugleich geht. Doch dasselbe Elektron verhält sich anders, wenn es beobachtet wird. Beobachtet verhält es sich nun wie ein Teilchen: es geht nur durch einen Spalt, als hätte es sich „entschieden“.
Wenn ein Blick auf ihm ruht, verhält es sich anders. Als hätte es ein Bewusstsein, das die Beobachtung wahrnimmt. Ein Blick verändert die Wirkung. Also auch ein Blick gehört zu den Dingen, die wirken.
Zu wissen, dass Helios die Sonne lenkt, verzauberte das Leben. Zu wissen, dass Neptun auf den Meeren wacht, verzauberte das Leben. Zu wissen, dass ein Halbgott namens Herkules sich abmüht, um in den Olymp aufzusteigen, war der Glaube, der die Spartaner zu Höchstleistungen anspornte.
Auf ihn führten sie ihre Abstammung zurück. Seine Tugenden galten ihnen als vorbildlich. Was spornt uns heute zu Höchstleistungen an?
Der Glaube vieler in unserer Zeit ist der Kapitalismus. Er ist eine Folge der Vermessung und Berechnung der Welt. Er ist eine Folge der Entzauberung der Welt. Auf der Erde ist kein Gott mehr geblieben. Gott greife nur dort, wo wir uns Dinge nicht erklären können.
Aber da uns nichts verboten ist, zu vermessen, und wir die Fähigkeit haben, alles zu vermessen, ist auch kein Gott mehr. Gott ist uns in den Himmel geflohen. Ja, nicht einmal mehr dorthin, denn auch der Himmel und das Universum werden vermessen.
Ohne Glaube an Herkules, keine Spartaner. Was also bleibt uns im Kapitalismus? Der Glaube an die eigenen Träume hat den Glauben an Götter ersetzt. Der Traum, mein Ziel im Leben, ist das, was mich antreibt. Es zu erreichen und mir und allen zu beweisen, dass ich es kann, das ist die Glaubensmode unserer Zeit. Als Leser Shakespeares bliebt mir eine Frage: Gibt es noch mehr Dinge im Himmel und auf Erden, als der Kapitalismus sich träumt?
„Ich glaube, dass ihm ein Engel erscheint“
Nachdem Muhammed, Allah segne ihn und schenke ihm Frieden, nach eigener Aussage erst nach Jerusalem und dann in den Himmel gereist ist, machten sich die Mekkaner über ihn lustig. Sie suchten Abu Bakr auf. Er war einer der ersten Muslime und ein angesehener Geschäftsmann.
Jetzt nach so einer Absurdität müsse doch auch Abu Bakr einsehen, dass Muhammed, der Sohn von Abdullah, den Verstand verloren habe. Schließlich wisse Abu Bakr, wie man Geld verdient, und wer das weiß, könne doch kein Idiot sein. Die Antwort Abu Bakrs war sehr ernüchternd: „Ich vertraue ihm darin, dass ihm ein Engel erscheint und ihm Botschaften von Gott überbringt. Was ist das schon im Vergleich?“
Wenn Muhammed, Gott segne ihn und schenke ihm Frieden, sagt, er sei in einer Nacht nach Jerusalem und zurück, dann ist es wirklich geschehen. Das war Abu Bakrs Überzeugung.
Dieser Mann lüge nicht. Er war in der Gesellschaft immer als der Vertrauenswürdige bekannt. Er war sein bester Freund und als bester Freund und Kenner seiner Geheimnisse, wusste er, dieser Mann schauspielert nicht. Der Botenengel Jibril besucht ihn. Und wenn er will bringt er ihn innerhalb einer Nacht bis nach Jerusalem und wieder zurück.
Das glaubt nicht nur Abu Bakr. Das glauben auch alle Muslime. Wenn es ein Mensch nicht tut, ist er kein Muslim. Ohne die Kenntnis des Lebens von Muhammed, Allah segne ihn und schenke ihm Frieden, wäre das, was Islam genannt wird, jedoch nicht nachvollziehbar.
Einige Vorschriften herauszupicken und dann den gesamten Glauben schlecht zu reden und für absurd zu erklären, das ist die Sitte der heutigen Öffentlichkeit in Deutschland.
Goethe, Herder, Wieland und Schiller waren mal weiter. Aber mit diesen weisen Menschen hat die heutige deutsche Gesellschaft ebenfalls nichts mehr gemein. Wir haben es, wie Wieland in seiner Geschichte der Abderiten bereits satirisch darstellte, mit Korinthenkackern zu tun. Menschen, die sich über Vereinsamung beklagen, sich aber gleichzeitig über Muslime lustig machen, wenn sie im Ramadan regelmäßig zusammenkommen und ebenfalls die Gesellschaft der Engel bezeugen.
Erklären und Staunen zugleich
Der moderne Mensch ist ein Geschöpf des Sichtbaren geworden. Er vertraut dem, was sich zählen, messen, abbilden lässt. Und doch beginnt gerade die moderne Naturwissenschaft, dieses Vertrauen zu erschüttern.
Die Quantenphysik zeigt: Die Welt ist nicht fest, nicht klar, nicht logisch im alten Sinn. Ein Teilchen kann sich gleichzeitig an zwei Orten befinden. Licht ist mal Welle, mal Teilchen. Und manchmal entscheidet erst die Beobachtung, was es eigentlich „ist“.
Als Muslim kann ich die Welt vermessen und erklären, warum der Himmel blau aussieht, und gleichzeitig kann ich Gott lobpreisen für das schöne Blau des Himmels, die Sterne und jede Nacht erneut über die Schönheit des Mondes staunen und denken: „Allah, mein Herr, du hast all das nicht ohne Grund erschaffen.“
Wir Muslime Leben in der nachklasssichen Form der Philosophie, wie sie Frank Griffel in seinem Buch „The Formation of Post-Classical Philosophy in Islam“ dargelegt hat. Das ist eine Philosophie der Weisheit, eine Philosophie der Synthesen, des Sowohl-als-auch“. Es ist keine Philosophie des „Entweder-oder“.
Frank Griffel legt dar, dass die nachklasssiche Philosophie der Muslime, nicht mit einem Entweder-oder arbeitet, sondern mit einem Sowohl-als-auch. Gott ist jenseits der Welt – und in ihr gegenwärtig. Der Mensch handelt – und doch ist jedes Handeln durch Allah erschaffen. Die Wahrheit ist nicht immer logisch. Sie ist tiefer.
Engel in der modernen Welt
Engel gehören zu diesen unsichtbaren Wirklichkeiten. Nicht als Symbol, sondern als real erschaffene Wesen: aus Licht, ohne Ego, ohne Eigenwille, ganz im Dienst, als Teil einer göttlichen Ordnung.
Während wir Menschen durch den Alltag gehen, begleiten uns zwei Engel: Sie heißen Kirâman Kâtibîn – edle Schreiber –, und sie zeichnen jede Tat auf. Nicht symbolisch, sondern wirklich. Es ist eine stille Gegenwart. Eine Art göttlicher Erinnerung, die immer bei uns ist.
Es gibt Engel, die bewachen. Engel, die stützen. Engel, die uns Gläubige im Gebet umgeben. Wenn sich Menschen versammeln, um Allahs zu gedenken, sitzen Engel bei uns, sagen „Friede sei mit euch“, und sie steigen empor mit dem Duft dieser Erinnerung. Und dann sind da Engel, die uns erschrecken.
Jibril ist einer von ihnen. Engel, deren Licht gespenstig stark ist, weil sie mit Wahrem und Schönem kommen. Ihre Nähe ist kein Mythos, sondern Geschichte. Rilke hat sein stärkeres Dasein im Gedicht „Mohammeds Berufung“ versucht, erfahrbar zu machen.
Elektronen verändern sich, wenn sie von einem Messgerät beobachtet werden, das Bewusstsein von Engeln angesehen zu werden, verändert uns Menschen. Wie? Darum wird es im zweiten Teil über die Engel gehen.