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„IZ-Begegnung“ mit Emran Feroz über die Bedeutungen der Ereignisse in Afghanistan

(iz). Der Autor und Journalist Emran Feroz wurde 1991 als Kind afghanischer Eltern im österreichischen Innsbruck geboren. Feroz, der sich auch als „Austroafghane“ bezeichnet und 2021 mit dem Concordia-Preis für eine Reportage ausgezeichnet wurde, erwies sich in den letzten Jahren als hellsichtiger Kritiker des „War on Terror“, des fragwürdigen weltweiten Einsatzes von Kampfdrohnen in aller Welt sowie der westlichen Politik in Afghanistan, das er regelmäßig und vor Ort bereiste.

Kurz vor dem Fall Kabuls an die Taliban hat Emran Feroz sein drittes Buch veröffentlicht: „Der längste Krieg“. Darin beschäftigt er sich mit dem beinahe 20-jährigen Militäreinsatz des Westens am Hindukusch, seine humanitären Kosten und warum er schlussendlich gescheitert ist. Mit ihm sprachen wir über das Land seiner Eltern, eine vom Krieg zerrissene Gesellschaft sowie über mediale Stereotypen und Fehleinschätzungen.

Islamische Zeitung: Lieber Emran Feroz, was bedeuten die Ereignisse der letzten Wochen und Monate für die Afghanen und ihr Land? Was leitet sich daraus für Sie ab?

Emran Feroz: Es ist so eine Sache, für die Afghanen zu sprechen. Zum Beispiel gibt es genug Provinzen, in denen der Abzug schon vor Jahren stattgefunden hat. Die verbliebenen Truppen, die jetzt gingen, waren ein paar tausend Mann. Und das wurde jetzt alles in jederlei Hinsicht mit den ganzen Evakuierungskommissionen so schlecht koordiniert. Wir konnten das bei den letzten US-Soldaten sehen, die am Flughafen Kriegsgerät und Helikopter zerstört haben, damit die Taliban sie nicht benutzen können. Die mit ihnen verbundenen Bilder, als sie von den Taliban zum Abflug eskortiert wurden, dokumentieren in jederlei Hinsicht einfach ein totales Versagen.

Was das jetzt für viele Afghanen bedeutet, lässt sich schwer zusammenfassen. Ich denke, dass dieses Kapitel abgeschlossen wurde und viele gleichzeitig jetzt in eine sehr ungewisse Zukunft blicken. Afghanistan als Staat kann ohne ausländische finanzielle Hilfe nicht überleben. Und von dieser Hilfe sind Millionen abhängig. Das sind jetzt die Sorgen, mit denen sich eigentlich die meisten sowohl auf dem Land als auch in den Städten beschäftigen. Und diese anderen Sachen, von denen man in diesen Tagen in Medien hört, wie individuelle Freiheiten, Menschen- und Frauenrechte, kommen noch hinzu. Was den Großteil der Gesellschaft vereint, ist einfach, dass man eigentlich vor einer humanitären Katastrophe steht und dass die verhindert werden muss. 

Islamische Zeitung: Es gibt verschiedene Organisationen, die in den letzten Wochen davon sprachen, dass rund 12 Millionen Menschen vor Lebensmittelunsicherheit stünden und zwei Millionen Kinder akut mangelernährt seien. Was sagen Ihre Kontakte vor Ort über die akute Belastung der Menschen?

Emran Feroz: Ja, das ist so. Heute haben die Taliban ein exemplarisches Bild aus dem Präsidentenpalast gepostet. Auf dem sieht man, wie sie auf dem Boden essen. Das sah sehr wie ein durchschnittliches afghanisches Essen aus – also Gemüse, ein bisschen Fleisch. Und die haben das natürlich inszeniert. Die Botschaft lautet: Wir sind nicht wie die alten Eliten, sondern sitzen alle auf dem Boden. Und der Führer sitzt ja auch da. Und wir essen alle das Gleiche. Viele haben kritisiert, dass es momentan viele gibt, die bald gar nichts mehr zu essen haben. Es gibt Regionen Afghanistans, in denen Hungersnot herrscht. Das sind Gegenden, die total isoliert sind, oder die von den Taliban besetzt wurden, wo die Nahrungsmittelreserven ausgehen. In der Region Pandschir, die offiziell von den Taliban erobert wurde, aus der aber noch Kämpfe berichtet werden, ist die Informationslage sehr undurchsichtig. Es ist sehr unklar, was da eigentlich passiert. Das liegt auch daran, dass sie keine Medien hereinließen. Irgendwie sind von dort trotzdem Berichte durchgesickert, wonach die Nahrungsmittel ausgehen und dass sich die Menschen nur noch von Brot und irgendwelchen Resten ernähren. Und ich denke schon, dass in vielen Regionen des Landes das Ganze immer mehr auf so eine Richtung zusteuert, wenn nicht bald Hilfe von außen das Land erreicht.

Islamische Zeitung: Das heißt, Sie würden aus Ihrer Sicht auf die Dinge auch dafür sein, dass es zumindest minimale Gespräche gibt und dass die Hilfslieferungen und -projekte weitergehen können?

Emran Feroz: Ja, auf jeden Fall. Und noch einen Zusatz zur letzten Frage: Natürlich sind auch die Preise für Grundnahrungsmittel und so weiter gestiegen. Sie sind höher als sonst und viele stehen unter Druck. Man merkt auch, dass vielen Bargeld ausgeht. Wir sahen, was vor den Banken, Western Union und MoneyGram los war. Viele Afghanen haben bisher Geld aus dem Ausland bekommen. Die meisten haben Verwandte im Ausland und sind gerade sehr von ihnen abhängig. Auch für mich war es in den letzten Tagen schwierig, ihnen Geld zu schicken. Mittlerweile sind sie wieder geöffnet, aber dort ist im Moment die Hölle los.

Es ist jetzt so, dass sie an der Macht sind und es darf nicht der Fehler gemacht werden, den man in den 90ern gemacht hat, nämlich das Land – was die Taliban natürlich selbst zu verschulden hatten – wieder in eine Isolation zu treiben. Die Bevölkerung wurde kollektiv bestraft. Und genau das darf sich jetzt nicht wiederholen. Dass die Taliban an der Macht sind, hat viele Gründe und hat auch Gründe in Teilen der Bevölkerung. Im Großen und Ganzen hatten die Afghanen mit dem Abzug und dem Friedensdeal nicht viel zu tun. Es wäre meiner Meinung nach nicht in Ordnung, wenn sie jetzt alle sanktioniert werden würden. Es ist ein Unterschied, wie man mit den Taliban umgeht und der Bevölkerung im Ganzen. Und wenn man da jetzt Hilfslieferungen stoppt oder das Land sanktioniert, bestraft man in erster Linie die Bevölkerung. 

Islamische Zeitung: Sie sind Journalist und beobachten, was im Land vor sich geht; aber auch, was hier im Westen geschrieben wird. Beinahe schon wütend machte es, dass direkt ab dem 16. August von „unserer Niederlage in Afghanistan“ gesprochen wurde. Geopolitisch und militärisch mag das eine Niederlage gewesen sein, obwohl es de facto seit 2014 keinen Kampfauftrag mehr in Afghanistan gab. Ist das nicht eine unheimliche Egozentrik, dass man das so sagt und die Niederlage der Afghanen selbst verschweigt?

Emran Feroz: Ja, natürlich. Das ist ein Problem, das sich durch die jüngste Berichterstattung gezogen hat. Man sprach von „unserer Niederlage“ und „unseren Soldaten“. Und man hat sich gleichzeitig für wichtige Fehlentwicklungen gar nicht verantwortlich machen wollen und wiederum die Afghanen beschuldigt. Das klingt an in Sätzen wie: Wir haben unser Bestes gegeben, aber die afghanische Armee wollte nicht kämpfen. Die meisten Menschen, die in diesem Krieg gelitten haben, die vor Ort gekämpft und viele Opfer gebracht haben, waren Afghanen. Die Armee wurde in den letzten Jahren, Monaten und Wochen im Grunde verpulvert. Man hat arme Männer in den Krieg geschickt und gleichzeitig mit Leuten zusammengearbeitet, die korrupt waren und sich persönlich bereicherten.

Islamische Zeitung: Es gibt Stimmen, die dieses Narrativ, die afghanische Armee und Polizei hätte nicht gekämpft, geradegerückt haben. Ab 2014 lag die Hauptlast der Bodeneinsätze bei Armee und Polizei. Sie haben mindestens 74.000 Tote zu verzeichnen gehabt. Dass sie nicht gekämpft hätten, ist so nicht wahr, oder?

Emran Feroz: Genau richtig. Allein die Anzahl der Todesopfer der Sicherheitskräfte war in den letzten Jahren mindestens drei bis viermal so hoch wie die der Zivilisten. Das war mindestens eine fünfstellige Zahl, die jedes Jahr zustande kam. Es wurde gekämpft, obwohl grundlegende Dinge fehlten. Das letzte Mal habe ich im Frühling afghanische Soldaten an der Front gesehen. Denen fehlt es an allem Möglichen. Sie wurden auch nicht regelmäßig entlohnt und haben trotzdem gekämpft. Das war zum Beispiel in einer Provinz im Nordosten, aus der die Amerikaner vor fast 10 Jahren abgezogen sind. Und dort hat für diese Menschen der Abzug keine große Rolle gespielt, weil die meisten sowieso schon allein waren. Aber gleichzeitig hat man gemerkt, wie tief die Gräben zwischen diesen Soldaten und den herrschenden Politikern waren. Es ist auch verständlich, wenn sie irgendwann kampfesmüde wurden und sich sagten: Okay, ich kann nicht mehr. Wieso schickt Person X nicht ihre Kinder? Die sind alle im Ausland und studieren.

Islamische Zeitung: … beziehungsweise betreiben Restaurants in Dubai, von denen Sie einige Fälle beschrieben haben… 

Emran Feroz: Richtig. Genau diese Perspektive wird gerne ausgeblendet. Man sucht gerne die Schuld bei anderen und redet von der eigenen Niederlage, obwohl man gar nicht versteht, was die letzten und auch die kommenden Jahre eigentlich für die meisten Afghanen bedeuteten und weiterhin bedeutend werden.

Islamische Zeitung: Wenn man Erinnerungen westlicher Soldaten liest, die 2007 oder 2008 in Helmand oder Kandahar eingesetzt waren, sprechen diese von teilweise intensiven und blutigen Gefechten. Wie sah der innerafghanische Krieg aus? War das eine sehr blutige Angelegenheit? 

Emran Feroz: Ja. Allerdings auf beiden Seiten; Sowohl von Seiten der Taliban als auch der Armee und verschiedenen Milizen, die in den letzten Jahren aufgebaut wurden. Das hat sich in manchen Gebieten auch auf verschiedene Stammesfehden und damit verbundenen Strukturen bezogen. Es konnte dort wie (???) beschrieben werden, wenn in einem Dorf Talibankämpfer oder ein Kommandeur vermutet wurde und das ganze Dorf blindlings bombardiert wurde, zu vielen Toten kommen. Auf der anderen Seite hat sich Vergleichbares ereignet, wenn die Taliban irgendeinen Ort erobert haben. Dann konnte die ganze Verwandtschaft von Angehörigen eines Soldaten oder eines Mitglieds des Sicherheitsapparates getötet werden. Es gab zusätzlich viele verschiedene Strukturen. Nicht nur die afghanische Armee, sondern die Polizei sowie verschiedene Milizen, die von der CIA aufgebaut wurden und einen Geheimdienst mit eigenen Milizen, sodass es zum Teil sehr unübersichtlich war. Man hat oft Exempel statuiert und sich gegenseitig massakriert.

Islamische Zeitung: Es wird häufig so gesprochen, als wären die Afghanen in den letzten 20 Jahren keine Akteure gewesen. Das sind Menschen, die haben gehandelt, die haben sich gefreut, haben gelitten, sind gestorben und haben gelebt. Also braucht es da nicht auch einen Perspektivwechsel, der den Menschen vor Ort keine Handlungsfähigkeit abspricht?

Emran Feroz: Das ist ganz wichtig, weil man in den letzten Jahren in vielen Analysen bis jetzt sieht, dass das immer noch oft versucht wird. Es wird versucht, Probleme mit irgendwelchen Verschwörungstheorien zu externalisieren. Da gibt es viele Fake News. Ich habe ja den Fall Pandschir beschrieben. Da hat sich in den letzten Tagen viel Aufmerksamkeit drauf gerichtet. In den ersten Tagen nach der Stürmung durch die Taliban haben Propagandisten der Gegenseite Gerüchte gestreut von pakistanischen Drohnen und Einsatzkräften, die die Taliban unterstützt hätten. Es wird ja von einer Taliban-ISI-Achse gesprochen, wonach Pakistan die Taliban unterstützt und auch in den 90er Jahren unterstützt hat. Das ist ein offenes Geheimnis, aber oft wird es dann so vermengt, dass am Ende selbst viele Afghanen denken, diese Taliban seien eigentlich gar keine Afghanen, sondern wie Aliens von einem anderen Ort. Man sagt dann, dass seien Pakistaner oder Punjabis. Ich habe unter den Taliban bisher keinen einzigen Pakistaner oder Punjabi getroffen. Da herrscht oft ein verzerrtes Bild. Das wurde dann alles als Fake News entblößt, die indische Medien gestreut haben. Jeder seriöse Beobachter weiß eigentlich sofort, was Sache ist. Aber viele sind leider darauf reingefallen. Das ist nur ein aktuelles Beispiel, was sich jetzt wiederholt hat. Ein Grund hierfür war, dass man den Menschen diese Handlungsfähigkeit und die eigene persönliche Agenda aberkannt und sie auch nicht wirklich gekannt hat. Auch, wie die Taliban die ganzen Provinzhauptstädte und Kabul einnehmen konnten, hat viele überrascht, weil sie einfach nicht einsehen wollten, dass diese Leute nicht irgendwelche Ausländer sind, die von irgendwo herkommen, sondern Menschen aus diesem Land. Irgendwie muss man damit klarkommen. Anstatt das zu machen, wurde man halt von dieser Realität und von vielen anderen eingeholt. 

Islamische Zeitung: Wir sind darauf angewiesen, komplexe Vorgänge mit einer langen Geschichte in Form von Bildern zu erklären. Derzeit werden über Afghanistan sehr viele stereotype Bilder gezeichnet mit Begriffen wie „Mittelalter“, „Moderne“ und ähnlichem. Dabei dauert die oft gewaltsame „Modernisierung“ und Zentralisierung Afghanistans seit mehr als 100 Jahren an. Dann wird gerne von Stämmen geredet, obwohl selbst Paschtunen bei genauem Blick keine Einheit sind. Und es gibt den Gegensatz von Stadt und Land. Kurzum, es ist von außen sehr schwer, sich ein angemessenes Bild zu machen. Um es in einer Frage zusammenzufassen: Was haben die Taliban denn mit dem afghanischen Mittelalter zu tun? 

Emran Feroz: Es ist immer lustig, wenn es um Mittelalter oder Steinzeit geht. Und dann sieht man die Taliban-Spezialkräfte, die mittlerweile wie amerikanische Spezialeinheiten aussehen. Ich denke, von solchen Bildern sollten wir uns verabschieden. Die Taliban leben im 21. Jahrhundert. Sie haben ein anderes Wertesystem, total andere Vorstellungen als viele Menschen hier im sogenannten Westen und auch als viele andere in Afghanistan. Aber sie sind auch modernes oder postmodernes Phänomen. Natürlich gab es in den letzten Jahrzehnten oder Jahrhunderten Kriege in Afghanistan wie die mehreren anglo-afghanischen. Dort ließen sich natürlich auch gewisse Akteure finden, die den Taliban nicht unähnlich waren. Aber die gelten heute unter den meisten Afghanen trotzdem als Nationalhelden, weil sie die Briten verjagt haben.

Etwas, was solche Akteure immer in Afghanistan gestärkt hat – egal ob bei den Briten, den Sowjets oder den Amerikanern –, lässt sich mit dem Tiroler Volkshelden Andreas Hofer vergleichen. Der lebte im frühen 19. Jahrhundert und wurde 1809 hingerichtet. Ich versuche, in meinem Buch und auch mit dem von Pankaj Mishra zu verdeutlichen, dass es solche Bewegungen auch hier gegeben hat und vielleicht sogar auch heute geben könnte, wenn die Umstände andere wären. Hofer hatte damals einen Bauernaufstand gegen Napoleon und die Bayern angezettelt. Er hat sich als Verteidiger bestimmter Werte inszeniert – hier eines konservativen Katholizismus. Auf der Gegenseite gab es Leute, die sagten: Ihr lebt im Mittelalter und wir klären euch jetzt auf. Dann ist aber genau das Gegenteil eingetreten, was sie wollten. Die Menschen haben umso mehr an diesen Werten festgehalten und gewisse Aufstände unterstützt. Man kann diese Werte – in diesem Fall Liberalismus, Demokratie etc. – nicht von außen aufzwingen. Ähnliches wurde in den 70er und 80er Jahren von den Sowjets versucht.

Islamische Zeitung: Ist dieses Projekt der Modernisierung von oben in Afghanistan nicht viel älter? Fand das nicht schon unter Königen wie Amanullah statt? 

Emran Feroz: Ja, genau. Natürlich ist es viel älter. Es gab die großen Versuche von außen, aber dann auch jene von innen wie dem Amanullah Khan, der das durchsetzen wollte – auch mit Gewalt. Das muss man auch bedenken. Er war nicht der superdemokratische Reformer. Er setzte auf paschtunische Stämme, denen er diese Dinge überstülpen wollte. Die hat er dann zum Teil wirklich erniedrigt und niedergemetzelt. Und da sind dann auch wieder viele Feindschaften entstanden. Aber im Großen und Ganzen ist jeder gescheitert, der es von innen oder außen mit Gewalt versuchte. Und gleichzeitig wurden Kräfte stärker, die den Taliban gar nicht so unähnlich waren.

Islamische Zeitung: Wir können bei manchen jungen Muslimen im Westen beobachten, wie sie sich teils auf eine „glorreiche“ Vergangenheit beziehen, die dann aber auch eine konstruierte ist. Was ist diese „Tradition“, auf welche sich die Taliban überhaupt beziehen? Lässt die sich aus der realen Vergangenheit begründen oder ist sie eher die Folge von 42 Jahren Krieg und Konflikt?

Emran Feroz: Ich denke, in Teilen lässt sich das aus der Vergangenheit begründen. In Teilen ist es aber auch Folge aus diesen Kriegen.

Islamische Zeitung: Die Taliban haben gerade eben ihr Übergangskabinett vorgestellt. Jetzt müssen sie einen Staat betreiben. Es gibt ein Phänomen, das wir auch aus der Russischen Revolution kennen. Am Ende haben in den Folterkammern weiterhin die Leute vom zaristischen Geheimdienst gearbeitet oder im Militär zaristische Offiziere. Jetzt werden die Taliban wahrscheinlich nicht umhinkommen, auch auf das bisherige Personal zu setzen. Sind sie auf die bisherigen Beamten angewiesen, um das Ganze halbwegs am Laufen zu halten? 

Emran Feroz: Auf jeden Fall. Sie können nicht mal definieren, was genau der Unterschied sein soll zwischen der Islamischen Republik Afghanistan, die in den letzten 20 Jahren existiert hat, und dem Islamischen Emirat, wie sie es propagieren. Und es wurde jetzt auch offiziell immer noch nicht umbenannt. Es sind noch viele Fragen offen. Die Taliban müssen sich auf jeden Fall in vielerlei Hinsicht öffnen. Sie sind auf solches Personal angewiesen. Diese Interimsregierung ist nicht mal für die traditionell konservativen Verhältnisse Afghanistans inklusiv. Wenn man betrachtet, welche afghanischen Gelehrte miteinbezogen wurden, ist das alles andere als inklusiv. Es gab Stimmen, die den Eindruck hatten, sie wären jetzt progressiv. Sie stehen vor großen Problemen. Es gibt sehr wohl in ihren Reihen Leute, die wissen, wie schwer dieser Spagat ist. Sie hätten ja, wenn wirklich Inklusivität gewollt wäre, zum Beispiel eine Regierung aufstellen können, in der man Gesichter aus der alten Regierung sieht, in der man mehrere Frauen sieht, in der man auch ehemalige korrupte Politiker wie Karzai sieht. Das hätte vielleicht auf der internationalen Bühne besser ausgeschaut als das jetzige Ergebnis.

Aber sie hätten so wahrscheinlich viele in ihren eigenen Reihen verloren. Selbst der durchschnittliche Fußsoldat hätte sich die Frage gestellt, wofür sie denn gekämpft haben. Dieser Spagat ist sehr schwierig. Und ich denke allerdings, dass sie ohne diese anderen Experten nicht umhinkommen. 

Islamische Zeitung: Glauben Sie, dass sich die Taliban akut und zukünftig in einem Vakuum befinden, sodass sie Knowhow aus Staaten wie China, Pakistan oder den Iran beziehen müssen? 

Emran Feroz: Ich denke schon. Die genannten Staaten werden immer mehr eine dominante Rolle in Afghanistan einnehmen. Die Taliban sind jetzt in einer Situation, in der sie abhängig sein werden. Der Punkt ist auch, dass sie ein bisschen vor einer ideologischen Krise stehen. Was die meisten innerhalb der Taliban zusammengehalten hat, war die Präsenz der ausländischen Truppen, war die Korruption. Das ist jetzt weg. Das heißt, dass viele auch viel mehr hinterfragen werden, was ihre Führer machen. Aber das eröffnet die Gefahr einer weiteren Radikalisierung.

Das ist der nächste Punkt. Wir haben immer noch den IS in Afghanistan. Sie wissen ganz genau: Wäre das Szenario einer inklusiven Regierung mit Leuten wie Abdullah, wie Karzai und so weiter eingetreten, wären Abspaltungen vorstellbar. Und die sieht man am Ende dann beim IS.

Islamische Zeitung: Es mag ein bisschen abstrus klingen, aber müssen die Taliban nicht jetzt den Habitus des Widerstandskämpfers aufgeben und beispielsweise auch Uniformen tragen, um überhaupt den von ihnen kontrollierten Staat repräsentieren zu können?

Emran Feroz: Die müssen jetzt den Staat zum Laufen bringen, was natürlich so eine Sache ist. Die müssen erkennbar sein. Viele von ihnen tragen jetzt auch Uniformen. Erkennbarkeit ist wichtig. Das wird schon mehr in diese Richtung gehen. Natürlich sieht man noch viele Soldaten, die man am Turban und mit ihrer Waffe erkennt, wenn sie patrouillieren. Wenn sie den Staat führen in jeglicher Hinsicht und ernst genommen werden wollen, dann wird sich das mehr in eine solche Richtung bewegen. Ich denke aber, dass sie damit auch überfordert sein werden. Wie gesagt, bis vor Kurzem waren sie eine Guerillagruppierung. Dort, wo sie regiert haben, konnten sie das Vakuum aufgrund der Korruption schnell fühlen. Aber das alles fällt jetzt weg und die ganze Verantwortung liegt bei ihnen. 

Islamische Zeitung: Zu den sechs Kernpunkten, die Sie in „Der längste Krieg“ als Momente des Scheiterns der westlichen Intervention in Afghanistan identifizieren, gehört ein Versagen beim Thema „Frauen“ beziehungsweise die Instrumentalisierung der Frage. Jenseits der realen Lage von Frauen im neuen Afghanistan, welche Funktion hatte die „Befreiung der Frau“ für die Intervention und die folgende Besetzung?

Emran Feroz: Wir müssen eines bedenken und das ist dieses Bild von der Befreiung der Frau. Es wurde immer wieder rekonstruiert. Auch die Medien haben es ständig angerufen, dass man nach Afghanistan geht um dort die afghanische Frau zu befreien. In den 80ern haben die Sowjets gleich argumentiert wie zuvor auch die Briten. Per se wird dem afghanischen Mann unterstellt, dass er ein zurückgebliebener Barbar sei, der nicht wisse, wie er mit seiner Frau umzugehen hat.

Als Folge davon konnten wir in den letzten Jahren und eigentlich auch bis jetzt Beiträge zum Thema aus verhältnismäßig privilegierten Stadtteilen Kabuls sehen, in denen ein liberales Leben geführt wird. Hier werden Künstlerinnen oder Regisseurinnen gezeigt, was den Eindruck erweckt: All das wurde durch die Intervention geschaffen und würde jetzt durch die Taliban zunichte gemacht.

Das ist halt falsch. Die dargestellten Szenen repräsentieren nur einen Bruchteil der weiblichen Gesellschaft. Diese kleine urbane Elite hat sich in den letzten 20 Jahren entwickelt und von dieser militärischen Besatzung auf die eine Art und Weise profitiert. Und so wird versucht, dieses Bild auf alle Afghaninnen anzuwenden. Die meisten von ihnen, die auf dem Land leben, sind in einer komplett anderen Realität aufgewachsen. Und das hat viel zu tun mit Armut, mit wirtschaftlicher Ungleichheit, mit fehlender Entwicklung, die dort halt nicht stattfand und den ganzen verschwundenen Hilfsgeldern. Es hängt auch mit der betriebenen Kriegswirtschaft sowie dem Kriegsgeschehen selbst zusammen.

Es macht für viele westliche Akteure die Sache einfacher, diese Dinge jetzt nicht zu erklären oder nicht auf diese komplexen Realitäten einzugehen. Stattdessen werden Bilder aus irgendeinem Stadtteil gesendet, nicht einmal aus ganz Kabul, wo es auch eher ländliche und ärmliche Distrikte gibt. Man will den Leuten weismachen, diese Dinge seien für die Mehrheit repräsentativ. Ähnliches findet sich aus den 80ern in den Propagandafilmchen der afghanischen Kommunisten und Sowjets. Dort wurden Frauen präsentiert, die einen sehr westlichen Lebensstil pflegten oder daheim Alkohol tranken. Da wurde vieles so sehr propagandistisch inszeniert.

Islamische Zeitung: Was in der Berichterstattung vor und nach dem Fall Kabuls auffällt, ist die teils vollkommende Abwesenheit der zehntausenden Frauen und zehntausenden Mädchen, die von Anfang bis Ende der Besatzung durch Bombardierungen, Drohnen und nächtliche Überfälle auf ihre Dörfer ums Leben kamen beziehungsweise verstümmelt wurden…

Emran Feroz: Ich will niemandem Böses unterstellen, vor allem nicht irgendwelchen Kollegen. Aber mir ist in den letzten Wochen auch aufgefallen, auch nach dem Erscheinen des Buches, dass man hier überhaupt keine Ahnung hatte, mit was für Menschen man dort zusammenarbeitete. Da war beispielsweise Asadullah Chalid. Der hielt sich entführte Mädchen als Sexsklaven und wahrscheinlich auch Jungen. Er hat viele Menschen sexuell missbraucht, ermordet und gefoltert. Der Mann hatte seine eigene Villa, in der er machen konnte, was er wollte, während er von den Alliierten hofiert wurde. Vor ein paar Jahren wurde er durch einen mutmaßlichen Angriff der Taliban schwer verletzt und in den USA behandelt, wo ihn Obama persönlich besuchte.

Wenn man solche Details kennt, ist es heuchlerisch, wenn man beim Lesen immer wieder auf die gleichen Narrative stößt, als ob man mit irgendwelchen Saubermännern zusammengearbeitet hätte. Und jetzt kommen halt die bösen Taliban und das ganze Projekt ist gescheitert. So war es nicht. Ich denke, viele wollten sich mit solchen Fällen nicht beschäftigen, weil sie das Narrativ nicht unterfüttern.

Und dieses Narrativ war wirklich wichtig. Ich habe in meinem Buch den Fall einer Aischa aufgezeichnet, die von ihrem Ehemann verstümmelt wurde. Sie war auch auf dem Cover des „Time Magazine“ zu sehen. Als Unterschrift konnte man lesen, was passieren werde, wenn wir Afghanistan verlassen. Das ist einige Jahre her. Und in dem Text wurde das explizit wiederholt. Später wurde dann klar, was afghanische Lokaljournalisten berichteten und berichtigten, dass es nicht die Taliban waren. Vielmehr wurde sie Opfer familiärer Gewalt.

Man hat oft versucht, das dominante Narrativ zu nähren und erhalten. Das merkt man auch jetzt in diesen Tagen. Alle Stories wollen immer sortieren und herausfinden, was die Verbindung zu den Taliban dabei ist. Gleichzeitig will man sich nicht damit auseinandersetzen, dass es dort eigentlich kein Gut und Böse gab, dass die Lage dort viel komplexer war. Und dass man sich nicht nur mit Menschenrechtsverbrechern und Frauenfeinden gemein machte, sondern selbst so in den betroffenen Gebieten agierte, die von Drohnenangriffen, Spezialeinheiten und so weiter heimgesucht wurden.

Islamische Zeitung: Nach 42 Jahren Schweigen – von Ausnahmen abgesehen – die Waffen in Afghanistan. Halten Sie es für möglich, dass dies ein Moment ist, in dem die Menschen zur Ruhe kommen können und vielleicht auf lokaler Ebene auch so etwas wie eine Heilung eintreten könnte? 

Emran Feroz: Manche sind da recht nüchtern, und ich bin es meistens auch. Wenn man es von den Zahlen her betrachtet, ist es tatsächlich eine große Sache, dass in den letzten Wochen in Afghanistan so wenig Menschen getötet wurden oder generell, dass die Gewalthandlungen so stark abgenommen haben. Man muss aber bedenken, dass die Taliban auch terroristisch gegen die eigene Bevölkerung vorgegangen sind und in den Städten Selbstmordanschläge und so weiter verübt haben. Und die bekämpfen jetzt niemanden mehr als den IS. Aber das ist jetzt weniger ausschlaggebend und nicht so dominierend.

Man muss aufpassen, dass man nicht zu sehr auf das Narrativ der Taliban eingeht. Gerade ließen sie propagandistisch die ganzen Betonmauern in Kabul abbauen, die oft für viel Verkehrschaos gesorgt haben und die Sicherheit von irgendwelchen Politikern und deren Häusern gewährleistet haben. Es wurde alles abgebaut und die Taliban wollen damit sagen: So, jetzt gibt’s hier Frieden. Aber das wurde ja aufgebaut, weil solche Angriffe stattgefunden haben. 

Viele Menschen nehmen das auch als einen Unterschied wahr. Aber ob die politischen Entwicklungen in diese Richtung gehen, wird sich noch zeigen müssen. Das hat vieles einfach mit dem Handeln der Taliban zu tun, aber auch mit dem Verhalten der internationalen Staatengemeinschaft. In den Teilen der afghanischen Gesellschaft, vor allem in den Städten, in denen die Taliban Probleme mit ihrer Art von Regierung haben, hat in den letzten 20 Jahren ein sozialpolitischer und technologischer Fortschritt stattgefunden. Und da wird es sicher weiterhin zu Demonstrationen und irgendeiner Art von politischem Aktivismus gegen sie kommen. Und das ist auch gut und wichtig. Der Punkt ist halt, ob sich die Taliban an ihre Ankündigungen halten oder totalitärer werden. Mein Optimismus oder Pessimismus hängen auch davon ab, welche Richtung sie einschlagen werden. Pessimismus hat man mir nicht so leicht austreiben können. 

Afghanistan steht vor einer humanitären Katastrophe. Es gibt viele Binnenflüchtlinge. Es gibt auch viele andere Menschen, die einfach raus wollen. Und dieses ganze Gerede von den Taliban kurz nach ihrer Machtübernahme wurde auch von vielen westlichen Medien irgendwie für gut befunden. Alles, was sie bis jetzt so gemacht haben, und vor allem die Art, wie sie ihre Regierung aufgestellt haben, die hat nicht nur bestätigt, dass man ihnen eben keinen großen Vertrauensvorschuss geben sollte und dass das Ganze sehr schnell ausarten könnte.

Islamische Zeitung: Lieber Emran Feroz, wir bedanken uns für das Gespräch.

Taliban stellen Übergangskabinett vor

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Die Taliban hatten betont, dass sie eine Regierung nicht nur aus ihren eigenen Mitgliedern bilden werden. Mit den ersten Besetzungen werden sie dieser Ansage nicht gerecht. Überraschend ist, wer Premierminister wird.

Kabul (dpa/iz). Die Taliban haben Teile eines Übergangskabinetts für Afghanistan vorgestellt. Demnach wird der öffentlich wenig bekannte Mullah Mohammed Hassan Achund amtierender Vorsitzender des Ministerrats, was dem Amt eines Premierministers gleichkommt. Das erklärte Taliban-Sprecher Sabiullah Mudschahid am Dienstag bei einer Pressekonferenz in Kabul.

Die Ernennung Achunds als Regierungschef gilt als Überraschung. Er ist eines der Gründungsmitglieder der Taliban, war zuletzt im Führungsrat, der Rahbari Schura, und gilt als enger Vertrauter des Taliban-Führers Haibatullah Achundsada. Achund, der in Afghanistan Mullah Hassan genannt wird, hielt bereits während der ersten Taliban-Herrschaft wichtige Posten: UN-Angaben zufolge war er Außenminister und Gouverneur der Provinz Kandahar, aus der er stammt. Achund gilt als gemäßigt. Seit 2001 steht er im Zusammenhang mit den Handlungen und Aktivitäten der Taliban auf einer UN-Sanktionsliste.

Die Taliban hatten nach massiven militärischen Gebietsgewinnen Mitte August die Macht in Afghanistan übernommen. Der bisherige Präsident Aschraf Ghani war kurz davor aus dem Land geflohen. Seit ihrer Machtübernahme bemühen sich die Islamisten um eine gemäßigtere Außendarstellung als zu Zeiten ihrer Schreckensherrschaft zwischen 1996 und 2001. Es besteht dennoch weiter die Sorge, dass die militante Gruppe ihre Herrschaft auf Unterdrückung und drakonischen Strafen gründen könnte.

Taliban-Sprecher Mudschahid sagte, man habe sich darauf geeinigt, ein Übergangskabinett zu ernennen und bekanntzugeben, „um die notwendigen Regierungsarbeiten durchführen zu können“. Insgesamt besetzten die Taliban 33 Posten. Die Besetzung der verbleibenden Führungspositionen von Ministerien und Institutionen werde man sukzessive bekanntgeben, sagte Mudschahid weiter.

Zu einem von zwei Stellvertretern Achunds wurde Mullah Abdul Ghani Baradar ernannt, der bisherige Vizechef der Taliban. Er wurde nach seiner Freilassung aus pakistanischer Haft im Jahr 2018 das öffentliche Gesicht der Gruppierung und unterzeichnete 2020 für die Taliban das Abkommen mit den USA unter anderem über ein Ende des US-geführten Militäreinsatzes in Afghanistan. Er telefonierte auch mit dem damaligen US-Präsidenten Donald Trump.

Die Ernennung von Achund zeige, „wie wenig wir im Westen über die Taliban wissen und ihre Entscheidungen voraussagen können“, sagte der Afghanistan-Experte Thomas Ruttig von der Kabuler Denkfabrik Afghanistan Analysts Network. Vor der Bekanntgabe waren die allermeisten Beobachter davon ausgegangen, dass Mullah Baradar Regierungschef wird.

Andere Personalien sind weniger überraschend. Mullah Jakub, der älteste Sohn des langjährigen, verstorbenen Taliban-Chefs Mullah Omar, wird Verteidigungsminister. Er soll etwa Mitte 30 sein und als Taliban-Vizechef die Milizen gesteuert haben. Siradschuddin Haqqani, der dritte Vizechef der Taliban und Chef des berüchtigten Haqqani-Netzwerkes, wird Innenminister. Es wird für einige der grausamsten Anschläge in Afghanistan verantwortlich gemacht. Die USA suchen den etwa Mitte-40-jährigen Haqqani mit einem siebenstelligen Kopfgeld.

Als Aufsteiger innerhalb der Taliban-Reihen sehen Beobachter Amir Chan Motaki. Er war Bildungs- und Informationsminister während der Taliban-Herrschaft 1996 bis 2001 und wird nun Außenminister. Er gilt als eine der versöhnlichsten Figuren innerhalb der Bewegung und leitete bislang die Aussöhnungskommission der Taliban. Mit Abdul Hak Wasik wird ein ehemaliger Guantánamo-Häftling Chef des Geheimdienstes.

Ein Frauenministerium findet sich bisher nicht auf der veröffentlichten Liste. Dafür wurde ein Ministerium für „Einladung, Führung, Laster und Tugend“ eingeführt, das die Afghanen vom Namen her an das Ministerium „für die Förderung der Tugend und die Verhütung des Lasters“ erinnern dürfte. Diese Behörde hatte während der ersten Taliban-Herrschaft von 1996 bis 2001 Menschen zum Gebet gezwungen oder Männer dafür bestraft, wenn sie keinen Bart trugen.

Kritik an der Zusammensetzung des Kabinetts folgte prompt. Die Islamisten hatten zuletzt immer wieder betont, eine „inklusive Regierung“ ernennen zu wollen. Kurz nach ihrer Machtübernahme hatten sie regelmäßig andere Politiker des Landes wie etwa den Ex-Präsidenten Hamid Karsai oder den bisherigen Leiter des Hohen Versöhnungsrates, Abdullah Abdullah, zu Gesprächen getroffen. Ihrer Ankündigung wurden sie nun aber nicht gerecht: Bei allen bisher bekannten Besetzungen handelt es sich um Taliban-Mitglieder.

Auch ethnisch geht es bisher einseitig zu. Der Afghanistan-Experte der Denkfabrik International Crisis Group, Ibraheem Bahiss, schrieb auf Twitter, soweit er dies beurteilen könne, seien bis auf zwei Tadschiken und einen Usbeken alle Postenträger Paschtunen. Mitglieder der Minderheit der Hasara etwa fehlen völlig.

Die Frage der Inklusivität ist relevant, da viele westliche Regierungen davon abhängig machen, ob sie die künftige Regierung anerkennen und das Land, das massiv von ausländischen Hilfsgeldern abhängig ist, unterstützen werden. „Mit so einem Taliban-Kabinett wird die Welt Afghanistan nicht mal mit einem Dollar helfen“, schrieb ein afghanischer Journalist auf Twitter.

Der ehemalige Gouverneur von Balch, Mohammed Atta Nur, kritisierte die Zusammensetzung unter anderem für einen Mangel an Professionalität und Frauen. Sie widerspreche zudem dem Geist der gültigen Verfassung des Landes.

Die Ankündigung zur Übergangsregierung erfolgte nur Stunden, nachdem die Taliban in der Hauptstadt Kabul in die Luft feuerten, um Hunderte Demonstranten auseinanderzutreiben. Die Menschen waren gegen eine mutmaßliche Einmischung Pakistans in Afghanistan auf die Straßen gegangen. Indirekt kritisierten sie aber auch die Islamisten. Die Taliban hatten zudem mehrere Journalisten für mehrere Stunden festgenommen.

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US-Generalstabschef: Bürgerkrieg in Afghanistan ist wahrscheinlich

Washington/Ramstein (dpa/iz). US-Generalstabschef Mark Milley hat sich besorgt darüber geäußert, dass Afghanistan nach der Machtübernahme der Taliban und dem Abzug der internationalen Truppen in einen Bürgerkrieg abgleiten könnte.

„Ich weiß nicht, ob die Taliban in der Lage sein werden, ihre Machtstellung zu festigen und eine Regierung zu etablieren“, sagte Milley dem Sender Fox News am 4. August in einem Interview auf dem US-Luftwaffenstützpunkt Ramstein in Rheinland-Pfalz. „Meine militärische Einschätzung ist, dass sich die Lage wahrscheinlich zu einem Bürgerkrieg auswachsen wird.“

Eine solche Entwicklung könnte wiederum dazu führen, dass Terrorgruppen das Machtvakuum in Afghanistan für sich nutzen, warnte Milley. Zu befürchten sei, dass sich Al-Qaida neu formiert, die Extremisten des Islamischen Staats (IS) ihren Einfluss ausbauen „oder eine Vielzahl anderer Terrorgruppen“ sich am Hindukusch breit machen. „Es könnte sein, dass wir binnen 12, 24 oder 36 Monaten sehen werden, wie ausgehend von dieser Region der Terrorismus aufs Neue erstarkt. Und wir werden das beobachten.“

Mit dem Abzug der letzten US-Soldaten vom Flughafen Kabul war in der Nacht zu Dienstag der internationale Afghanistan-Einsatz nach fast 20 Jahren zu Ende gegangen.

Als wichtigstes Argument für den Truppenabzug hatte die US-Regierung angeführt, dass das Terrornetzwerk Al-Qaida faktisch zerschlagen und nicht mehr in der Lage sei, von dort aus Ziele in den USA anzugreifen. Nach Einschätzung der Vereinten Nationen war Al-Kaida bereits vor dem Abzug der internationalen Truppen in fast jeder zweiten afghanischen Provinz präsent.

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Taliban an der Macht verstärken uigurische Befürchtungen

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(iz). Gerade eben verkündeten die siegreichen Taliban nach dem Abzug des letzten US-amerikanischen Soldaten, Afghanistan sei nun wieder eine „souveräne Nation“. Ihre Übernahme des Landes hat nicht nur zu Fragen geführt, wie die Gruppierung ihre Macht im Inland nutzen wird. Trotz verschiedener Signale an das Umfeld bleibt es offen, wie seine direkten und indirekten Nachbarn auf den jetzigen Sieg reagieren  oder wie die Machthaber in Kabul verfahren werden.

Das erste Mal seit 2001 steht die Hauptstadt unter ihrer Kontrolle. Momentan sind die verschiedenen Kommandoebenen – in Doha, Pakistan sowie Kommandeure im Land – im Prozess einer Regierungsbildung. Jenseits von Ankündigungen in Pressekonferenzen und -gesprächen.

Bisher richtet sich der weltweite Fokus vorrangig – und verständlich – auf die Perspektive von Afghanen in Hinblick auf die neuen Herren in Kabul. Immerhin sind sie direkt von ihrer Politik und ihrem konkreten Verhalten als erste und am stärksten betroffen. Von der deutschen Öffentlichkeit unbeachtet sehen Exiluiguren eine angedeutete Annäherung zwischen Kabul und Peking mit Sorge.

In einem Fachreader der International Crisis Group (ICG) vom 26. August zu Reaktionen und Optionen von Nachbarländern beschäftigt sich die China-Expertin Amanda Hsiao mit einem zukünftigen Verhältnis Pekings zu den Taliban.

Nach Ansicht verschiedener Beobachter und Medien liegen seine Interessen in drei Bereichen: afghanische Rohstoffe, seine Integration in die Road-and-Belt-Initiative (Projekt Neue Seidenstraße) sowie Sorgen um die regionale und innere Sicherheit Chinas. Hsiao betont in ihrem Text vor allem die chinesische Angst vor einem Übergreifen der Unsicherheit – sowohl auf das eigene Gebiet als auch Drohungen gegenüber eigenen Bürgern und Projekten in Pakistan. China setze „vor allem durch diplomatischen und ökonomischen Austausch“ auf die Förderung von Stabilität in Afghanistan.

Darüber hinaus hinterlasse der westliche Rückzug vom Hindukusch ein Vakuum. Das gäbe China mehr Freiraum in Zentralasien. Für Peking könne sich das als zweischneidiges Schwert erweisen. Die Abwesenheit der USA in Afghanistan mache regional Platz. Allerdings stünden Washington nun neue Ressourcen im indopazifischen Raum zur Verfügung, um dort Druck auf China ausüben zu können.

Für Uiguren, insbesondere Exilanten in Zentralasien, ist relevanter, dass Peking  auch in Afghanistan unter dem Deckmantel eines „Kampfes gegen den Terror“ Druck auf die verfolgte Minderheit ausüben werde. Nach Ansichten von Hsiao hätten die Taliban hier beschwichtigende Signale bezüglich der kleinen Extremistenbewegung ETIM (die auf einige hundert Uiguren geschätzt wird) in Afghanistan gesendet.

„Peking wird die Taliban-Regierung anerkennen wollen, wahrscheinlich nachdem oder gleichzeitig mit Pakistan, aber bevor ein westliches Land dies tut, obwohl der Zeitpunkt dieses Schrittes zum Teil davon abhängen könnte, ob es gelingt, von den Taliban zusätzliche Zusicherungen in den beiden Fragen zu erhalten, die ihm am wichtigsten sind“, lautet die Einschätzung der ICG-Expertin.

Am 24. August berichtete der US-amerikanische Sender Radio Free Asia, wie Exiluiguren in Afghanistan auf den Erfolg der Taliban reagieren. Sie seien „voller Schrecken“. Diese Machtübernahme könne bedeuten, dass sie nach China ausgeliefert würden, wo ihnen „harte Strafen“ drohten. Menschenrechtsgruppen befürchteten „das Schlimmste“ für die geschätzten 2.000 Uiguren, die derzeit leben würden.

Nach Angaben eines Mannes, dessen Eltern bereits in Afghanistan geboren wurden, seien die rund 80 uigurischen Familien in der Hauptstadt verwirrt und fürchteten um ihr Leben. Er selbst sei bei einem Gang zum Bäcker von einzelnen Taliban geschlagen worden. Exiluiguren in der Türkei hätten mittlerweile von Kontakten in der nördlichen Stadt Mazar-e-Sharif berichtet, wonach Taliban in Privatwohnungen eindringen und Mädchen entführen würden. „Kasachstan fliegt Kasachen aus Afghanistan, Usbekistan nimmt Usbeken, die Türkei und alle anderen Länder nehmen ihre Bürger mit, aber niemand (…) hilft unst“, sagte ein Kabuler Uigure.

Bereits am 11. August veröffentlichte das Uyghur Human Rights Project (UHRP) einen neuen Bericht, wonach Pakistan und die nun gestürzte afghanische Regierung „Komplizen“ Pekings in der grenzübergreifenden Unterdrückung von Uiguren seien. Das chinesische Vorgehen gegen Exilgemeinschaften in den beiden Ländern würde die Menschenrechte und weltweite Standards verletzen, so die Autoren.

Seit 1990 gab es 60 Ausweisungen von Uiguren durch pakistanische Sicherheitskräfte im Windschatten des internationalen Antiterror-Kriegs. China hält den Druck auf Exiluiguren aufrecht, die über Pakistan, Afghanistan und andere Staaten in den Westen fliehen. In den letzten 10-15 Jahren soll sich die Stärke der dortigen Gemeinschaft von rund 3.000 Menschen auf bloß 100 Personen reduziert haben.

„Pakistan und Afghanistan werden zu chinesischen Klientenstaaten“, sagte UHRP-Direktor Ömer Kanat. „Auf Geheiß der chinesischen Behörden werden in Islamabad und Kabul gefährdete Uiguren schikaniert, inhaftiert und deportiert. Einige der ins Visier genommenen Uiguren sind in China gefoltert und hingerichtet worden, während andere die Zerschlagung ihrer Familien und die rigorose Überwachung ihrer Gemeinschaften erlebt haben. Chinas wirtschaftliche Großzügigkeit kann jede Art von Komplizenschaft bei der Gewalt gegen Uiguren erkaufen.“

Für das Fachmedium „Bitterwinter“ beschäftigte sich die Analystin Ruth Ingram mit den Auswirkungen der Machtübernahme für Uiguren in der Region. Bereits vor ihrem Sieg hätten die Taliban gegenüber Peking versprochen, dass sie keinen antichinesischen Terror auf ihrem Gebiet zulassen würden. Sie würden bei der Abschiebung von „problematischen“ Uiguren kooperieren. Damit hätten sie der Kommunistischen Partei eine weitere Waffe für ihr Arsenal im sogenannten Krieg gegen den Terror gegeben. Dieser verlasse sich auf die Zusammenarbeit mit engsten Nachbarn und „dem Schweigen der muslimischen Staaten“.

Exiluigurische Organisationen sowie westliche Forscher hätten seit Jahren dokumentiert, dass der Verweis auf die Terrororganisation ETIM, wenn es sie denn überhaupt gäbe, keine faire Repräsentation von Uiguren insgesamt sei. Und Uiguren sollten nicht durch Aktionen geschmäht werden, welch die ETIM in ihrem Namen beginge.

Die Uiguren seien zu den Opferlämmern auf dem Altar von Pekings unaufhaltsamem wirtschaftlichen und politischen Marsch nach Westen geworden. Die KPCh habe sich Loyalität, Schweigen und Komplizenschaft mit Versprechungen für Hilfe, Wohlstand und Schutz erkauft. „Pakistans unerschütterlicher chinesischer Verbündeter Imran Khan leugnet jede Kenntnis von der Notlage der Uiguren vor seiner Haustür, und das neue Taliban-Emirat ist bereit, seinen Stolz zugunsten von Bergen von Geld für Bau- und Schürfrechte herunterzuschlucken“, so Ingram.

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Kommentar: Warum Afghanistan auch für deutsche Muslime wichtig ist

(iz). Seien wir ehrlich: Die allermeisten von uns haben sich nur dann tiefer mit Afghanistan und seinen Menschen beschäftigt, wenn es in den letzten Jahren zu einer Krise gekommen ist […]

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Woran ist man gescheitert? Zur Niederlage des Westens am Hindukusch

Die Entscheidung von Präsident Biden, die US-Truppen endlich aus Afghanistan abzuziehen, war richtig und sicherlich überfällig. Die mangelnde Vorbereitung auf einen geordneten und sicheren Abzug war jedoch ein weiterer schrecklicher […]

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Interview: Wie sehen Deutschafghanen die aktuelle Lage?

(iz). In Deutschland gibt es sowohl eine exilafghanische Community, die wegen der Krisenspitzen der letzten Jahrzehnte nach Deutschland gekommen ist. Darüber hinaus leben hier auch viele Menschen mit afghanischen Wurzeln, die teil schon in der dritten oder vierten Generation in Deutschland ihre Heimat fanden.

Nach der rapiden Einnahme von afghanischen Provinzhauptstädten und schließlich dem plötzlichen Fall der Hauptstadt Kabul sind diese Menschen umso betroffener, als die allermeisten noch Angehörige in dem Land haben. Mit einigen haben wir in den letzten zwei Wochen gesprochen. Im Folgenden sprechen wir mit mit Belal el-Mogaddedi. Er ist seit Langem, wie viele Deutschafghanen, unter anderem in der muslimischen Community aktiv und Vorsitzender der Deutschen Muslim-Liga e.V.

Islamische Zeitung: Lieber Belal El-Mogaddedi, in Deutschland leben Afghanen bzw. Deutschafghanen seit den 1950ern oder kamen in verschiedenen Krisenpunkten der letzten Jahrzehnte hierher. Wie reagiert die Community bzw. Ihr Umfeld auf die jüngsten Ereignisse?

Belal el-Mogaddedi: Nun, die Reaktionen sind höchst unterschiedlich. Wie sollte es auch anders sein. Es gibt diejenigen, die auf die Straße gehen und gegen die Machtübernahme der Taliban in Afghanistan demonstrieren. Andere dagegen begrüßen diese Machtübernahme, behalten ihre Sympathien für die Taliban aber für sich, um in der Öffentlichkeit nicht anzuecken. Und die dritte Gruppe besteht aus den Menschen, die jetzt erst einmal abwarten, die Lage genau beobachten, sie studieren und sagen, dass man den aktuellen Entwicklungen erst einmal etwas Zeit geben soll, bevor man ein abschließendes Urteil fällt.

Islamische Zeitung: Nach den letzten Tagen zeigten sich Politiker und Experten sehr überrascht. Kam die Implosion der afghanischen Regierung ebenso plötzlich für Exil- und Deutschafghanen?

Belal el-Mogaddedi: Der Vormarsch der Taliban ist für viele Afghanen, die ihr Land gut kennen, sicherlich nicht überraschend gekommen, nachdem im vergangenen Jahr zwischen der Regierung Trump und den Taliban in Doha ein Abzugsabkommen geschlossen worden ist. Friedensabkommen kann man das dünne Papier, das in Doha unterzeichnet worden ist, ja nicht nennen.

Was mich persönlich etwas überrascht hat, ist die Tatsache, dass die Taliban im Norden Afghanistans die Provinzzentren so schnell einnehmen konnten, bevor sie in ihren eigentlichen Einflusszonen im Südosten Erfolge erzielten. Der Zusammenbruch der afghanischen Regierung unter Aschraf Ghani ist für Kenner des Landes sicherlich auch nicht überraschend gekommen, weil diese Regierung kein besonders hohes Ansehen in der Bevölkerung genoss.

Dass sich der Zusammenbruch aber derart schnell, also innerhalb weniger Tage, vollzog, hat kaum jemand voraussehen können. Spätestens nach dem Fall von Ghazni hätte aber jeder wissen müssen, dass das Überleben der Regierung von Herrn Ghani nur noch eine Frage von wenigen Wochen und nicht Monaten sein konnte. Und als dann die nur wenige Kilometer von Kabul entfernte Provinzhauptstadt von Logar, Pul-i-Alam, fiel, war eigentlich klar, dass die Regierung Ghani Geschichte ist.

Islamische Zeitung:  Wie erlebt man eine solche Situation als Person und als Familie, wenn die Zukunft der Angehörigen so ungewiss ist?

Belal el-Mogaddedi: Ich stehe seit dem Fall Kabuls, der ja – Gott Sei Dank – im Vergleich zu den Kriegsszenarien der vergangenen 20 bzw. 43 Jahre Krieg in Afghanistan relativ friedlich erfolgt ist, mit in Afghanistan lebenden Verwandten und sehr guten Freunden in fast täglichem Kontakt. Selbstverständlich macht man sich Sorgen um Freunde und Familie. Aber man erfährt durch sie auch, dass Kabul eben viel mehr ist, als uns die auf den Flughafen konzentrierte mediale Berichterstattung weismachen will.

Das Leben geht weiter; anders, aber es geht weiter. Die meisten Geschäfte sind geöffnet. Die öffentliche Sicherheit, wen verwundert es, ist besser als noch vor zehn Tagen. Niemand kann mit Sicherheit sagen, wie schnell sich das zukünftige politische System in Afghanistan etablieren kann und inwieweit es eine wirkliche inklusive Regierung geben wird.

Man muss Geduld aufbringen, und meine Verwandten und Freunde beobachten die Entwicklungen sehr genau. Was ich allerdings immer wieder in meinen Telefonaten erfahre, ist, dass keiner das Land momentan verlassen will. Ein sehr guter Freund sagte mir vor drei Tagen: Einmal im Leben Flüchtling sein zu müssen, hat mir gereicht. Ich bleibe! Das bewegt und beeindruckt mich sehr.

Afghanistan bleibt auch für mich immer mein Sehnsuchtsland, so dass ich sehr gut verstehen kann, warum dieser sehr gute Freund, ein studierter Jurist, in Afghanistan bleiben will. Um es mal salopp mit einem abgewandelten Zitat von Franz Müntefering zu verdeutlichen: Flüchtling zu sein, ist Mist!      

Islamische Zeitung: Viele Exil- und Deutschafghanen, gerade die hier geborenen, haben das Land noch nie oder nur selten gesehen. Was bedeutet Afghanistan für die Community? Gibt es da einheitliche Bilder?

Belal el-Mogaddedi: Da muss man sicherlich zwischen denen unterscheiden, die Afghanistan nur aus den Erzählungen ihrer Eltern kennen und das Land nicht besucht haben, und denen die zu unterschiedlichsten Zeiten seit dem Fall der kommunistischen Machthaber in Afghanistan in unterschiedlichsten Eigenschaften das Land privat besucht oder dort sogar gearbeitet haben.

Die Bilder sind hier sehr unterschiedlich. Da ist die ganze Bandbreite von Bildern vorhanden. Da gibt es das nostalgische Bild eines Afghanistans unter dem König Zahir Shah, in dem alles gut und geordnet war, was natürlich nicht der Realität entspricht. Und dann gibt es das Bild, dass in den vergangenen 20 Jahren dort alles bestens war, und auch dieses Bild ist nicht richtig.

Ich klammere ganz bewusst die Zeit des Bürgerkrieges von 1992-1996 und die sich daran anschließende Herrschaft der Taliban hier einmal bewusst aus. Jeder hat seine eigenen Eindrücke und Bilder im Kopf.

Viele nehmen Afghanistan nur durch ihre Besuche in Kabul wahr, aber Kabul ist nicht Afghanistan, genauso wenig wie Berlin Deutschland ist. Es ist viel mehr als die Hauptstadt. Afghanistan ist reich an Ethnien, Kulturen, Lebensweisen mit allen Vorteilen und Herausforderungen, die so ein Reichtum mit sich bringen kann. 

Islamische Zeitung: Die Medien zeichnen oft sehr holzschnittartige Bilder von Afghanen – von der hippen, befreiten Frau über die gesichtslosen Opfer bis zum düsteren Talib. Finden sich die Menschen da wieder?

Belal el-Mogaddedi: Nein, natürlich nicht. Medienvertreter reisen in den seltensten Fällen durch das Land. Haben Sie schon einmal einen Bericht über die wunderbare Stadt Herat in den Hauptnachrichten gesehen, über die pulsierende Stadt Jalalabad, über das Leben in Kandahar, Kundus und Mazar-i-Scharif? Ich habe keinen gesehen.

Differenzierung in der Berichterstattung ist nicht gerade die Stärke westlicher Medienvertreter in Afghanistan, die sich aus ihrem Kokon in Kabul kaum herauswagen.

Die Bandbreite des Denkens und der Lebensvorstellungen bzw. -einstellungen sind in Afghanistan, wie in jedem anderen Land in dieser Welt, sehr groß. Dazu muss man aber auch mal einen Blick über den Kabuler Tellerrand hinaus wagen, durch das Land reisen, Stimmen auf dem Land einfangen, sich von Vorverurteilungen lösen und der Vorstellung der eigenen kulturellen Überlegenheit distanzieren.   

Islamische Zeitung: In Deutschland reden wir meist von „Afghanen“, während die dortige Gesellschaft weitere ethnischen und kulturellen Ausprägungen kennt. Spielen diese Differenzen eine Rolle für Deutschafghanen?

Belal el-Mogaddedi: Mit den ethnischen und kulturellen Ausprägungen ist in den vergangenen Jahren sehr viel gespielt worden, und hätten sich bestimmte politische Akteure während des Bürgerkrieges in den 1990er Jahren durchgesetzt, wäre Afghanistan in drei Teile zerfallen. Ich betrachte jeden, der einen afghanischen Pass in der Tasche trägt, als Afghanen; genauso wie jeder, der einen deutschen Pass in der Hand hält, ein Deutscher ist. Und zwar ohne Wenn und Aber.

Natürlich gibt es Akteure in der afghanischen Community im Ausland, also auch hier in Deutschland, die sich auf ihre ethnische Zugehörigkeit etwas einbilden, und einen Vorteil für sich daraus ziehen wollen. Ich habe mit diesem Denken nie etwas anfangen können, es ist mir sehr zuwider. Ganz gleich ob wir Hazaras, Uzbeken, Tadschiken oder Paschtunen sind, ob wir Juden, Hindu, Sikhs oder Muslime sind, wir können nur in der Einheit für Afghanistan arbeiten, zum Wohle und im Interesse aller Afghanen. Für mich als Muslim ist das mehr als nur eine Überzeugung, es ist mein religiöser Auftrag so zu denken und so zu handeln.

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Den Afghanen geht das Bargeld aus

Kabul (dpa/iz). Nach der Machtübernahme der Taliban in Afghanistan geht den Menschen zunehmend das Bargeld aus. Einwohner Kabuls berichteten der Deutschen Presse-Agentur, die Geldautomaten in der Stadt seien praktisch leer. Banken und auch der Geldwechslermarkt seien seit einer Woche geschlossen. „Alle in der Stadt beschweren sich mittlerweile, dass sie kein Geld abheben können“, sagte ein Bewohner.

Ein Mann sagte dem lokalen TV-Sender ToloNews, seine Bank habe zudem eine Obergrenze für Abhebungen eingeführt. Wenn denn ein Geldautomat doch noch befüllt sei, könne man nur 10.000 Afghani (rund 100 Euro) abheben. Viele drücke die Sorge, dass sie angesichts der aktuellen Krise überhaupt nicht mehr an ihr Geld kommen.

Auf der Facebook-Seite des Finanzministeriums hieß es in der Nacht zu Sonntag, die Zentralbank, private Banken und andere Finanzinstutionen nähmen bald wieder ihren Betrieb auf. Gleichzeitig wurde das „technische Personal“ des Ministeriums aufgerufen, zur Arbeit zurückzukehren.

Andere Ministeriumsmitarbeiter sollten eine Entscheidung der Finanzkommission der Taliban abwarten. Es hieß zudem, alle zivilen Staatsangestellten würden ab dem Beginn der „neuen islamischen Regierung“ wieder wie früher bezahlt werden.

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Zurück bleibt das Chaos: Safran-Bäuerinnen aus Herat berichten

Die Zukunft Afghanistans ist nach der Machtübernahme der Taliban ungewiss. Im Folgenden dokumentieren wir einen Text des Berliner Projekts Conflictfood von Safran-Bäuerinnen aus Herat.

Das junge Unternehmen möchte durch fairen Handel die Lebens- und Arbeitsbedingungen seiner Handelspartner in verschiedenen Ländern durch den Verkauf hochwertiger Lebensmittel verbessern helfen. „Wir möchten einen positiven Beitrag zur Veränderung leisten und Bewusstsein schaffen für die globalen Zusammenhänge und einen politisch motivierten Konsum“, heißt es auf der Firmenseite. Deshalb würden die Macher selbst an die Konfliktherde dieser Welt reisen, wo sie nach landestypischen Spezialitäten suchen und mit Bäuerinnen und Bauern vor Ort handeln. „Ehrlich. Direkt. Und fair.“

Berlin/Herat (Conflictfood). Wie ihr wisst handeln wir seit 5 Jahren mit Safran-Bäuerinnen in Afghanistan. Natürlich verfolgen wir die aktuellen politischen Geschehnisse vor Ort und sorgen uns um unsere Projektpartner*innen und ihre Familien. Heute haben wir sie endlich telefonisch erreicht – allen geht es gut! Sie bleiben in ihren Häusern und gehen aktuell nicht ihrer Arbeit nach. Sie bleiben in den Dörfern und haben nicht vor nach Turkmenistan oder in den Iran zu fliehen.

Derzeit ist es vollkommen unklar, wie es weiter geht und die Frauen warten ab, wie sich die Situation entwickelt. Laut offiziellen Verlautbarungen heisst es, Frauen dürfen künftig zur Arbeit gehen und ihrer Ausbildung nachkommen. Die Wahrheit einer Absicht ist die Tat und wir können nur abwarten, ob wir diesen Worten glauben schenken können.

Taliban & Opium

Die Frage steht im Raum: Können die Bäuerinnen im Oktober auf ihre Felder, um Safran zu ernten!? Die Frauen haben die Befürchtung, dass sie in Zukunft wieder Schlafmohn auf ihren Feldern anbauen müssen. 

Der Opiumhandel bleibt, nebst dem Abbau von wertvollen Erzen und Seltenen Erden, eine der wichtigsten Einnahmequellen für die Taliban. Obwohl das Geschäft mit Drogen unislamisch ist und im Zuge der ersten Machtergreifung, vor über 20 Jahren, von der Führungsriege verboten wurde, war der Westen letztes Jahr bereit den Taliban 400 Millionen USD für das Afghanische Opium zu zahlen.

Die Präsenz der Taliban ist für die Bäuerinnen grundsätzlich nichts Neues, weil diese de-facto schon über zwei Jahrzehnten in Herat und in anderen Provinzen vertreten sind. Die afghanische Regierung und die westlichen Truppen haben nie mehr als die Hälfte des Landes kontrolliert.

Der mutige Umstieg der Bäuerinnen, von der Opiumherstellung zum Anbau von Safran, war von den Taliban geduldet. Die Frauen konnten ihnen in den letzten Jahren aus dem Weg gehen oder sich mit ihnen arrangieren. Neu ist heute: die Machtposition der Taliban, ihre Ausdehnung in die Großstädte und die künftige Teilhabe an der afghanischen Regierung.

Die Rolle des Westens

Sowohl der politische Umschwung, das Komplettversagen der NATO, die sich um ihre Verantwortung drückt und als erste das sinkende Schiff verlässt, und das Land im Chaos hinterlässt, als auch der komplette Rückzug der deutschen Entwicklungszusammenarbeit, stellt alle Menschen in der Region vor neue, große Herausforderungen. Nun scheint es, dass die Guten das Land verlassen, in das sie vorher völkerrechtswidrig einmarschiert sind, und die Bösen die Macht übernommen haben – so ganz stimmt dieses nicht.

Die NATO-Staaten sind gescheitert und eine ehrliche Reflexion dieses schandvollen „Krieg gegen den Terror“ wird es nicht geben. Die deutsche Bundesregierung und alle Parteien haben jedes Jahr für diesen Einsatz gestimmt, den die Grünen und die SPD 2001 erst mit ermöglicht haben. Das selbsternannte internationale „Friedensbündnis“ wird seine eigenen Kriegsverbrechen nicht aufarbeiten. Dieses Bündnis hat mit Menschenrechtsverletzern und Drogenbaronen zusammengearbeitet, hat eine korrupte Regierung jahrelang gestützt, hat selbst gefoltert und über 200.000 Zivilist*innen in seinen Einsätzen getötet.

Wie geht es weiter?

Unsere Mission – durch Handel einen Wandel zu erwirken – ist nun wichtiger denn je!

Wir glauben weiterhin an eine selbstbestimmte Zukunft für die Menschen im Land und halten dich auf dem Laufenden, sobald es weitere Nachrichten aus Afghanistan und vom Frauenkollektiv gibt.

Kontakt: https://conflictfood.com

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Führt die Machtübernahme der Taliban zu einer Wirtschaftskrise?

Afghanistan übernahmen die Taliban in Windeseile. Nun beginnen die Mühen der Ebene: das Regieren eines armen Landes. Wichtige Geber haben Hilfen erstmal eingefroren. Den Taliban könnte bald das Geld ausgehen – sie haben aber auch Trümpfe in der Hand. Von Jürgen Bätz

Washington/Kabul (dpa/iz). Nach der Machtübernahme ist vor der nächsten Krise: Afghanistans Wirtschaft steht ein schwerer Einbruch bevor, im Land sind Armut und Hunger verbreitet, der Regierung geht das Geld aus. Die Taliban haben in Kabul das Zepter übernommen, aber nun müssen die selbst ernannten Gotteskrieger erstmals seit einer Generation wieder ein Land regieren. Sie müssen versuchen, für Stabilität zu sorgen und für geschätzt 37 Millionen Menschen eine Grundversorgung sicherzustellen. Die gestürzte Regierung konnte dafür auf massive Hilfe aus dem Ausland bauen. Die Taliban hingegen könnten eher auf das brutale Eintreiben von Steuern und auf den Handel mit Opium setzen.

Ausländische Geber, allen voran die USA, Deutschland und andere Europäer, finanzierten in dem armen Land nach US-Angaben zuletzt rund 80 Prozent der Ausgaben der Regierung. Nun liegen milliardenschwere Hilfszusagen auf Eis. Auch auf eine andere mögliche Geldquelle, die im Ausland gehaltenen afghanischen Währungsreserven von rund neun Milliarden US-Dollar, haben die Taliban vorerst keinen Zugriff.

Für die Zukunft der Menschen in Afghanistan ist es nun entscheidend, welchen Weg die Taliban einschlagen werden: Wird es ein brutales Regime geben, das Afghanistan international zu einem Paria-Staat macht? Oder wird es eine zwar islamistische, aber dennoch etwas gemäßigtere Regierung geben, die auf eine Anerkennung durch die internationale Gemeinschaft setzt, um für die arme Bevölkerung Hilfen zu bekommen?

Seit dem Sturz der Taliban vor 20 Jahren ist die Wirtschaft sehr stark gewachsen. Die internationale Unterstützung für Afghanistan machte 2020 nach Angaben der Weltbank aber mehr als 40 Prozent der gesamten Wirtschaftsleistung des Landes von rund 20 Milliarden US-Dollar aus. Trotz der Hilfen gehört Afghanistan einem Entwicklungsindex der Vereinten Nationen (UN) zufolge weiter zu den ärmsten Ländern der Welt (Platz 169 von 189 Staaten). Aktuell ist die humanitäre Lage wegen einer schlimmen Dürre, der Corona-Pandemie und den Folgen des jahrzehntelangen Konflikts besonders kritisch. Etwa die Hälfte der Bevölkerung lebt UN-Angaben zufolge in Armut und ist auf Unterstützung angewiesen, darunter etwa zehn Millionen Kinder. Das Welternährungsprogramm (WFP) schätzt, dass rund 14 Millionen Menschen nicht genug zu Essen haben.

Von 1996 bis 2001 regierten die Taliban in Afghanistan mit einer extrem strikten Auslegung des islamischen Rechts, der Scharia. Frauen und Mädchen hatten damals kaum Rechte, Verbrechen wurden drakonisch bestraft – mit teils barbarischen Mitteln bis hin zu Steinigungen. Sollte es wieder so kommen, dürften die meisten ausländischen Geber fern bleiben. Im Fall einer humanitäre Katastrophe dürften mehr Afghanen die Flucht ins Ausland anstreben, auch nach Europa.

Eine isolierte Regierung der Taliban wäre jedoch keineswegs mittellos. In Gebieten, die sie schon bisher kontrollierten, standen sie im Ruf, Steuern und Zwangsabgaben konsequent – und teils auch brutal – einzutreiben. Außerdem haben sie im großen Stil Schutzgeld erpresst. Unter anderem mit diesen Einnahmen finanzierten die Islamisten auch den Kampf gegen die Regierung. Zudem haben die Taliban nun zwei Trümpfe in der Hand: den Handel und das Opium.

Die Einnahmen durch Zollgebühren, also aus dem Handel mit dem Iran, Pakistan und anderen Nachbarn, dürften wieder kräftig sprudeln, sobald im Land eine gewisse Stabilität eingekehrt sein wird. Hinzu kommt der illegale, aber lukrative Anbau von Schlafmohn, aus dem Opium hergestellt wird. Dabei geht es um viel Geld: Afghanistan produziert UN-Angaben zufolge rund 85 Prozent des weltweit hergestellten Opiums – Grundstoff von Heroin. Die Taliban können bei Anbau, Herstellung und Handel die Hand aufhalten und Gebühren einfordern. Gleiches gilt für die Herstellung der Droge Methamphetamin.

Während ihrer früheren Regierungszeit hatten die Taliban den Anbau von Opium zeitweise offiziell verboten. Berichten zufolge blieb der Handel mit dem Stoff aber stets eine extrem wichtige Einnahmequelle für sie. Bei der ersten öffentlichen Pressekonferenz des Taliban-Sprechers in Kabul vor wenigen Tagen versicherte Sabiullah Mudschahid, dass man vom Drogenanbau künftig Abstand nehmen werde. „Wir versichern unserer Nation und der Welt, dass Afghanistan nicht das Zentrum der Opiumproduktion sein wird“, sagte Mudschahid. Und fügte eine persönliche Note hinzu, um sein Anliegen zu unterstreichen: Es habe ihn sehr traurig gemacht, als er nach seiner Ankunft in Kabul Jugendliche sah, die Drogen nahmen.

Eine weitere Geldquelle ist der Bergbau und der Export von Mineralien und Edelsteinen. Auch müssen die Taliban künftig weniger für Waffen ausgeben, denn sie haben direkten Zugriff auf die Ausrüstung der zuletzt rund 300.000 Mann starken afghanischen Sicherheitskräfte – die über Jahre hinweg maßgeblich vom US-Militär hochgerüstet worden waren.

Doch Waffen und Nachtsichtgeräte kann man nicht essen. Das UN-Nothilfebüro (OCHA) warnte jüngst: „Die humanitäre Krise in Afghanistan verschärft sich rapide.“ Der Vormarsch der Taliban habe zu neuen Fluchtbewegungen geführt. „Die Menschen in Afghanistan brauchen unsere Hilfe jetzt mehr denn je“, hieß es in einem gemeinsam Appell der Helfer.

Die internationale Gemeinschaft setzt nun auf Abwarten und scheint zu hoffen, die Hilfsgelder als Druckmittel nutzen zu können, um zumindest eine Mäßigung der Taliban zu erreichen. Ohne internationale Anerkennung sei es schwer, das Land zu regieren und die Wirtschaft in Schwung zu bringen, sagte am Freitag der Sprecher des US-Außenministeriums, Ned Price. Die Anerkennung sei für jede künftige Regierung wichtig, denn „Afghanistan wird mehr als fast jedes andere Land der Welt auf internationale Unterstützung angewiesen sein“.

Möglich wäre auch eine Anerkennung nur durch Nachbarländer, darunter zum Beispiel Pakistan und die Großmacht China, denen vor allem an Stabilität in der Region gelegen ist. Das würde den Handel vereinfachen, große Hilfszahlungen wären aber wohl kaum zu erwarten.

Den größeren Teil der Hilfen für Afghanistan – die Entwicklungshilfe in Höhe von 250 Millionen Euro – hat Deutschland nach der Machtübernahme der Taliban eingefroren. Die humanitäre Hilfe für Notleidende läuft aber weiter. Die USA, der größte bilaterale Geber, hatten allein für nächstes Jahr mehr als drei Milliarden Dollar an Hilfen eingeplant. Und vom Internationalen Währungsfonds (IWF) sollte Afghanistan in Kürze eine Erhöhung der Reserven bekommen, die dem Land rund 450 Millionen US-Dollar Liquidität verschaffen sollte.

Weil in Afghanistan bislang deutlich mehr US-Dollar ausgegeben als eingenommen wurden, war die Zentralbank zudem auf regelmäßige Lieferungen von US-Bargeld angewiesen. Angesichts des Vormarsches der Taliban hat Washington den Nachschub aber gestoppt. Der Mangel an Devisen könnte zu Kapitalkontrollen, einer Begrenzung von Abhebungen und zu einem Verfall des Kurses der örtlichen Währung führen, des Afghani. Weil das Land viele Waren importiert, könnte dies auch die Inflation in die Höhe schnellen lassen – was vor allem ärmere Afghanen hart treffen würden. Zudem sind die Taliban bislang noch mit Sanktionen belegt, was jegliche Transaktionen erschweren dürfte.

US-Präsident Joe Biden machte am Freitag klar, dass humanitäre Hilfen für Afghanistan nun vom Verhalten der Taliban abhängen. Sie hofften, „eine gewisse Legitimität zu gewinnen“, sagte Biden. „Sie werden einen Weg finden müssen, wie sie das Land zusammenhalten.“ Mögliche Hilfen sollen davon abhängen, wie gut die Taliban die Afghanen behandeln, insbesondere Frauen und Mädchen, wie Biden betonte. Es werde „scharfe Bedingungen, starke Bedingungen“ geben.