
Razwan Faraz ist britischer Lebensberater und Familien-Coach. Er bietet Einzelberatung, Workshops und Retreats rund um das Thema Selbstfindung, Lebensführung und Erziehung an. Insbesondere das Thema Männlichkeit findet Anklang bei seinen überwiegend männlichen Klienten. Wir unterhielten uns mit ihm über seine Arbeit und einige der brennenden Fragen unserer Zeit.
Islamische Zeitung: Lieber Herr Faraz, wie sieht Ihre Arbeit typischerweise aus?
Razwan Faraz: Ich coache hauptsächlich Männer. Vor einiger Zeit habe ich auch angefangen, Mütter zu coachen. Neben dieser Tätigkeit bin ich Organisationsberater. Ich helfe Organisationen, sich zu vergrößern, neue Kunden anzuwerben und sich weiter auszubauen. Meine Klienten suchen mich etwa alle sechs Wochen auf. Als Coach unterstütze ich Leute, nicht nur ihre Ziele zu erreichen, sondern auch, festzustellen, womit sie zu kämpfen haben und woran sie arbeiten müssen, um gewisse Probleme zu bewältigen.
Die dritte Sache, der ich nachgehe, sind Workshops und Retreats, bei denen meine Klienten zusammenkommen und ich zu einem ausgewählten Thema ein Programm anbiete. Meist sind es Muslime, die mich aufsuchen, weil dies die Community ist, mit der ich am häufigsten Erfahrung und Kontakt habe. Aber auch Nichtmuslime können mit meiner Arbeit etwas anfangen, da ich nicht dogmatisch vorgehe und das, was man aus meinen Gesprächen mitnehmen kann, universell verstanden und umgesetzt werden kann. Meine Arbeit hat eine spirituelle Dimension, die nicht als bedrohlich für die eigene Weltanschauung angesehen wird. Weder ein Christ noch ein Atheist wird sich von meinen Worten angegriffen fühlen.
Islamische Zeitung: Suchen Leute Sie auf, weil sie sich in psychologischen Krisen befinden, oder einfach, um ein wenig Hilfe in gewissen Lebensbereichen zu bekommen?
Razwan Faraz: Ja, einige suchen mich wegen psychologischer Probleme auf. Oft decken sie die Tiefe dieser Probleme, die oft in ihre eigene Kindheit zurückreichen, erst durch unser Gespräch auf. Und sie stellen dann fest, dass sie nun als Erwachsene auf andere Menschen so reagieren, weil sie unbewältigte Krisen ihrer Kindheit nicht aufgearbeitet haben. Dann gibt es auch solche, die einfach Hilfe etwa bei Kleidungsfragen, bei Bewerbungsgesprächen oder im öffentlichen Sprechen benötigen.
Islamische Zeitung: Sie müssen großes Vertrauen in Sie haben, wenn Sie sie aufsuchen…
Razwan Faraz: Ja, ich werde fast täglich von Menschen kontaktiert, die Hilfe brauchen. Jedoch brauchen manche keinen Berater oder Coach, sondern einen Therapeuten. Jemand, der einen Coach aufsucht, weiß zumeist, was er will. „Dorthin möchte ich hingelangen, und Sie sollen mir dabei helfen.“ Jemand, der jedoch einen Therapeuten benötigt, hat ein Problem und weiß oft nicht wirklich, was sein eigentliches Anliegen ist, er muss vieles erst aufarbeiten, um sein Problem richtig benennen zu können. In diesem Fall rate ich oft dazu, einen Psychologen aufzusuchen.
Islamische Zeitung: Sie coachen auch Mütter und Väter. Wie sieht diese Aufgabe aus?
Razwan Faraz: Meine Arbeit als Coach begann als Unterstützung für Väter, und inzwischen auch Mütter. Sie suchen mich aus verschiedensten Gründen auf. Viele arbeiten sehr hart und haben dadurch die Verbindung zu ihren Kindern verloren, und wissen oftmals nicht, wieso die Kinder sich schlecht benehmen. Viele sind geschieden und ihre Kinder haben Probleme damit. Der Sohn eines meiner Kunden war im Gefängnis und der Mann musste seine eigenen Fehltritte aufarbeiten, um an seiner Aufgabe als Vater arbeiten zu können. Er hat sich als Versager gefühlt, weil sein Sohn diese Fehler begangen hat. Dieser Vater musste verstehen, dass die Realität eines anderen Menschen nicht seine Schuld ist. Erst dann sehen wir, was wir füreinander tun können, und das ist alles, was wir tun können. Er hat gelernt, wieder eine Verbindung zu seinem Sohn aufzubauen, ihn nicht anzugreifen oder abzulehnen, sondern für ihn da zu sein und ihn zu akzeptieren.
Meist hat ein Vater, der Probleme mit seinen Kindern hat, auch Probleme in anderen Beziehungen. Oft muss die Person erst einmal verstehen, wie sie sich selbst sieht und wie andere sie sehen, um zu verstehen, wo das Problem ist. Einer meiner Kunden wollte sich niemals verletzlich fühlen, weil er als Kind verletzt wurde, und ist somit sehr harsch mit anderen umgegangen, um sich zu schützen. Erst nach dieser Erkenntnis konnte er sein Verhalten umstellen und aus dem alten Narrativ ausbrechen.
Islamische Zeitung: Glauben Sie, dass wir heute in einer Erziehungskrise stecken?
Razwan Faraz: Ich denke, dass einige Elemente, die wie eine Krise aussehen, kürzlich hervorgetreten sind. Wir sind an eine patriarchische Familienstruktur gewöhnt. Zuerst kommt Gott, und Er sei männlich, dann der Vater, dann die Mutter, dann die Kinder. Diese Hierarchie ist sehr anfällig für den Missbrauch von Machtstrukturen, in denen Kinder und Frauen misshandelt werden. Die entgegengesetzte Weltanschauung setzt darauf, dass es keine Hierarchien geben soll und das Individuum sich frei entfalten kann, und alle gleichberechtigt sind. Man sagt, die politisch Linke gehe in diese Richtung, während die Rechten das konservative Familien- und Gesellschaftsmodell förderten. Beide haben jedoch ihre Schwächen und Herausforderungen.
Nach der Industriellen Revolution und den Weltkriegen wurde durch den Kapitalismus alles, was wir bisher kannten, auf den Kopf gestellt und dies hat das Individuum sehr anfällig gemacht, da wir unseren spirituellen Kern verloren haben. Wir müssen uns daher eingestehen, dass wir keinen blassen Schimmer haben, worauf wir uns zubewegen. Und diese Ungewissheit ist in Ordnung. Nur ein Narzisst möchte unbedingt und haargenau wissen, was nach diesem Leben kommt. Wozu willst du es wissen? Ergebe dich einfach und akzeptiere, dass, wo auch immer wir landen werden, die wichtige Sache ist, was wir hier und jetzt tun.
Früher hatten wir den Vater, der arbeiten ging, und die Mutter war mit den Kindern. Heute arbeiten meist beide Eltern, wer verbringt also Zeit mit den Kindern? Früher gab es die Gemeinschaft, man kannte seine Nachbarn, den Milchmann, die Verwandten. Das haben wir heute nicht mehr, unser Umgang mit anderen ist geschäftlich geworden, es ist immer ein etwas für etwas – was bekomme ich?
Wir brauchen also einen neuen Weg, Beziehungen aufzubauen, um das zu ersetzen, was nicht mehr da ist. Ein Vater etwa ist heute gestresst allein durch die Tatsache, dass er nicht kochen kann, und den Haushalt sauber halten kann. Deswegen sage ich, Männer müssen kochen und putzen lernen. Es ist wichtig für ihn, diese Fertigkeiten zu lernen, um freier zu sein, und sich selbst Stress zu ersparen. Es ist von Bedeutung, dass zwei Menschen in einer Partnerschaft zusammenkommen, die beide unabhängig sind, statt voneinander abhängig.
Man sagt, die Revolution der Frauen sei äußerlich, gesellschaftlich. Ich denke, die der Männer ist eine innere, eine Rückkehr in das Häusliche. Für eine gerechte Gesellschaft ist es notwendig, dass Frauen aktiv und vollkommen gleichberechtigt sind, dass ihnen dieselben ökonomischen Chancen zustehen wie Männern. Dafür braucht es aber auch eine Entwicklung der Männer zuhause, die damit zurechtkommen, etwa die Kinder zu erziehen und daheim zu bleiben, wenn sie es möchten und es der Familie so besser geht. Wir haben nicht mehr das ganze Dorf, welches sich um die Kinder kümmert, doch unsere Gesellschaft hat diesen Wandel noch nicht vollzogen. Der Mann muss draußen, in der Welt, ein Kämpfer sein, das kann er jedoch nicht auch zuhause sein. Dort muss er liebevoll sein. Und viele schaffen diesen Wandel vom Äußeren zum Inneren nicht. Ebenso sind viele alleinerziehende Frauen recht männlich im Verhalten, weil sie überleben und ihre Kinder schützen müssen. Auch das ist nicht gesund für sie, auch da muss ein Wandel stattfinden und eine bessere Situation für Frauen geschaffen werden, damit sie sicher und sie selbst sein können.
Islamische Zeitung: Sollten Geschlechter zusammenarbeiten, anstatt sich in Schubladen zu stecken?
Razwan Faraz: Absolut! Vielleicht ist die Frau besser darin, Geld zu verdienen, und der Mann ist besser darin, zuhause zu bleiben und sich um die Kinder zu kümmern? Wieso sollte man das ächten? Wenn jemand sich selbst am besten zum Ausdruck bringt, in einer nicht-traditionellen Art, wieso sollte er oder sie es nicht tun?
Islamische Zeitung: Sind dies die Gründe, wieso es heute so schwer ist, ein Mann zu sein? Man denkt in vorgefertigten Mustern?
Razwan Faraz: Im Moment werden alle Verständnisse auf den Kopf gestellt und Leute sind verwirrt. Ich denke, das Wichtigste ist, authentisch zu sein. Das ist alles. Sei du selbst, sei echt. Wenn wir nur darauf hören, was Gesellschaft oder Gemeinschaft von uns sehen wollen, können wir am Ende vollkommen unfähig sein, zu handeln. Weil unser wahres Ich diesen Anforderungen nicht entspricht. Es ist leicht, in der Arbeitswelt jemandem zu kündigen, da er nicht gut genug performt. Wenn das aber zuhause passiert, weil ein er gerade Probleme hat, keinen Job findet, und die Familie ihn dafür tadelt und als schwach bezeichnet, dann ist es zerstörerisch.
Ein Mann ist also kein Mann, wenn er eine schwere Zeit durchmacht? Wenn er nicht ständig produktiv ist? Das ist eine gefährliche Einstellung. In meiner Familie wurde ich dafür ausgelacht, weil ich meinem Sohn die Windeln gewechselt habe. Dies sei nicht Aufgabe eines Mannes. Wieso sollte es unmännlich sein, das eigene Kind sauberzuhalten?
Islamische Zeitung: Wie würden Sie den Vers interpretieren, dass die Männer die Beschützer und Versorger der Frauen sind?
Razwan Faraz: Gute Frage. Ich würde es so verstehen, dass die Aufgabe des Mannes es ist, alle Hindernisse zu entfernen, die seine Frau davon fernhalten, ein Leben zu führen, in dem sie ihrem Schöpfer auf die für sie beste Art und Weise dienen kann. Sie hat allein ihrem Schöpfer zu dienen, sonst niemandem. Ein Mann, der ihr das erleichtert, ist jemand, der diesem Vers gerecht wird.
Wenn jemand weiß, dass sein Freund seine Frau misshandelt, beleidigt, sie nicht leiden kann, dann sollte er ihn dazu ermahnen, sich zu bessern oder sich scheiden zu lassen und sie gehen zu lassen, statt sie zu unterdrücken. Ein Mann sollte es anderen Männern auch nicht erlauben, auf respektlose Art über Frauen zu sprechen, sie plump anzumachen, zu belästigen, usw. Der Schutz der Männer gegenüber Frauen hat viel damit zu tun, dass andere Männer sie nicht belästigen.
Islamische Zeitung: Lieber Razwan Faraz, vielen Dank für das Gespräch!