
(iz). Im Jahr 2010 veröffentlichte der Wissenschaftsrat „Empfehlungen zur Weiterentwicklung von Theologien und religionsbezogenen Wissenschaften an deutschen Hochschulen“. In der umfassenden Studie wurde unter anderem die „Etablierung theologisch orientierter islamischer Studien in Deutschland“ empfohlen und gefordert. Gemeinsam mit dem Projekt zur Schaffung eines flächendeckenden bekenntnisorientierten islamischen Religionsunterrichts (IRU) an allgemeinbildenden Schulen wurde das Vorhaben von verschiedenen Seiten begrüßt.
Von Staat und Politik wurde die Idee mit Interesse und Zustimmung begrüßt. Denn es kam dem Interesse nach einer staatlichen „Einhegung“ von islamischer Religion und Muslimen entgegen sowie entsprach es dem Verlangen, über das Vehikel Bildungspolitik Einfluss auf die zukünftige Entwicklung der muslimischen Gemeinschaft(en) in Deutschland zu nehmen. Akademische Zirkel und einzelne Akteure sahen in der Theologie ein kommendes und sicheres Betätigungsfeld. VertreterInnen der muslimischen Selbstorganisation hofften ihrerseits jenseits eines inhaltlichen Interesses an Theologie, über Beteiligungsmodelle wie Beiräte eine Anerkennung seitens des Staates zu erlangen.
Heute, mehr als ein Jahrzehnt danach, hat sich das Fach, dessen Lehre und akademischen Strukturen an mindestens sechs Standorten (mit Berlin als ihrem jüngsten) etabliert. Längst haben tausende Studenten die verschiedenen Studiengänge durchlaufen oder belegen sie aktuell.
Wenn man einem Beitrag des Bloggers und Journalisten Akif Şahin folgt, dann könnten dem Studienfach neue Zeiten bevorstehen. Er spricht davon, dass diversen Fakultäten „ein harter Schnitt“ bevorstehe. Der Grund: Ende September sollen bisherige Förderungen von Lehrstühlen und Standorten durch den Bund auslaufen. Şahin fragt skeptisch, ob sie ohne die Mittel im jetzigen Ausmaße überlebensfähig seien.
Mit Ausnahme von Erlangen, dessen Fakultät erst 2012 an den Start ging, ende die Förderphase für die anderen vier: Frankfurt, Tübingen, Münster und Osnabrück. Eine Antwort der Bundesregierung auf eine Kleine Anfrage der AfD-Bundestagsfraktion von 2020 habe ergeben, dass der Bund bisher „knapp 28 Mio. Euro in die Fakultäten gesteckt hatte, um den Etablierungs- und Gründungsprozess zu unterstützen“. Nun müssten die Zentren für islamische Theologie „endgültig auf den Normalbetrieb“ umstellen. „Grundsätzlich zwingt das Auslaufen der Förderung zu Sparmaßnahmen, die an Universitäten häufig direkt bei der Personaldecke ansetzen. Denn (fest eingestelltes) Personal ist immer mit Folgekosten verbunden. Durch den Wegfall des Geldes vom Bund dürften an diversen Standorten keine neuen Professuren mehr vergeben werden. Erste wissenschaftliche Mitarbeiter*innen und Doktoranden kriegen diese Umstellung bereits mit“, beschrieb Akif Şahin die potenziellen Auswirkungen für das theologische Personal.
Nun muss man kein Fachmann, sondern eigentlich nur halbwegs aufmerksamer Beobachter der muslimischen Gemeinschaft(en) in Deutschland sein, um zu begreifen, dass die Frage des Auskommens von Absolvent:innen alles andere als klar ist. Nicht viele Gemeinden sind gewillt oder in der Lage, Anfangsgehälter zu bezahlen, die studierte Akademiker gemeinhin erwarten dürfen. Und ein Zurechtstutzen von Lehr- und Hilfspersonal an den theologischen Standorten könnte als Schlussfolgerung den Personalbedarf noch einmal deutlich reduzieren.
An diesem Scheidepunkt trifft es sich gut, dass die Akademie für Islam in Wissenschaft und Gesellschaft (AIWG) der Goethe-Universität Frankfurt/Main bereits im März 2020 etwas zum Studentenkorpus der islamischen Theologie und der beteiligten Motivationen veröffentlicht hat. Unter dem Titel „Wer studiert Islamische Theologie?“ geben die AIWG-Expert:innen einen Überblick über Herkunft, Zielen und Motivationen der angehenden Theolog:innen oder Religionslehrer:innen. Derzeit würden bis zu 2.500 Student:Innen an den verschiedenen Standorten entweder diesen Lehrgang studieren oder die thematisch verwandte Religionspädagogik.
Obwohl es sich bei den Student:Innen der Lehrstühle um Kommilitonen muslimischen Glaubens handle, hätten sie die „verschiedensten religiösen und kulturellen Hintergründe“. Sie differenzierten sich auch in den persönlichen Erwartungen an das Studium sowie an die Zeit nach ihrem hoffentlich erfolgreichen Abschluss. Die beiden am häufigsten genannten Berufsperspektiven seien Tätigkeiten als „Imame“ sowie als „Lehrer_innen für den islamischen Religionsunterricht“.
„Doch insbesondere die Vorstellung, das Studium der islamischen Theologie diene als Qualifizierung für den Beruf des Imams, erweist sich als nicht realistisch. Das mag die integrationspolitische Idee hinter der Einführung islamisch-theologischer Studien, nämlich die Ausbildung von in Deutschland studierten Imamen, zunächst dämpfen“, schränken die Autor:innen des Papiers allzu hohe Hoffnungen auf eine schnelle Karriere ein. Erfreulich sei allerdings, dass die Aspirationen angehender Theolog:innen weiter über „diesen beruflichen Fokus“ hinausgingen.
Universitätspolitisch sei die Gegenwart positiv einzuschätzen und die Einführung „der islamisch-theologischen Studien“ ein Erfolg. Diese habe die soziale Relevanz von Universitäten erweitert. „Fast drei Viertel der Studierenden der islamischen Theologie stammen nicht aus akademischen Elternhäusern, sondern sind die ersten in ihrer Familie, die studieren.“ Damit ermöglichen die Studiengänge an den theologischen Zentren Biografien von Bildungsaufstieg, von sozialer Teilhabe sowie von gesellschaftlicher Anerkennung „in unserer Wissenschaftsgesellschaft“. Jetzt gelte es, diese Potenziale nutzbar zu machen.
Link zur AIWG-Expertise: https://aiwg.de/aiwg-veroeffentlicht-expertise-wer-studiert-islamische-theologie-pm/