
(iz). Die Außenminister der Europäischen Union haben ihre Abscheu gegen den Terrorismus auf den Punkt gebracht: „Wir sind zutiefst schockiert über die schrecklichen Terroranschläge, die in den letzten Wochen in Paris, Dresden, Conflans-Saint-Honorine, Nizza, Wien und anderen Orten stattgefunden haben, und verurteilen diese barbarischen Handlungen aufs Schärfste.“
Die Verurteilung von Extremismus basiert heute auf einem breiten Konsens europäischer BürgerInnen – völlig unabhängig von ihrer Konfession. Insbesondere muslimische Organisationen beteiligen sich in ganz Europa an Programmen, die vor allem muslimische Jugendliche vor einer drohenden Radikalisierung schützen wollen. Der Kampf gegen den Terrorismus bietet nun die Chance, alle zivilgesellschaftlichen Kräfte zu bündeln.
Während in Medien zahlreiche islamkritische Beiträge die Rolle der europäischen Muslime einseitig problematisieren, sucht man eher vergeblich nach konkreten Vorschlägen, wie künftig junge Muslime effektiv zu erreichen sind. Das Problem: Die Beiträge im Feuilleton der Zeitungen bedienen meist die eigene Klientel, während Jugendliche, um die es eigentlich gehen sollte, nicht erreicht werden. Es ist daher naheliegend, gerade muslimische Organisationen und ihre Medien verstärkt in Programme gegen Radikalisierung einzubinden.
Einfach ist das auch für die muslimischen Akteure in der Zivilgesellschaft nicht. Radikale Muslime haben sich von diesen Organisationen längst abgewendet und kritisieren sie für ihren „Opportunismus“ sowie ihre angebliche Nähe zum Staat. Sie negieren zudem die jahrhundertealte Praxis, die islamische Lehre veränderten gesellschaftlichen Situationen anzupassen. Die großen Organisationen folgen den etablierten Rechtsschulen im Islam, die für eine radikalisierte Anwendung der islamischen Quellen grundsätzlich keinen Raum lassen.
Alle diese anerkannten Schulen lehnen Selbstmordattentate und jede andere Form des Terrorismus konsequent ab. Zudem werden für eine Lehrbefugnis über den Islam genaue Standards festgelegt. Es ist eigentlich im Interesse des Staates, dass diese etablierten Gemeinschaften ihre Lehrtätigkeit fortsetzen. Der Zerfall der europäisch-muslimischen Gemeinschaften in unzählige Kleingruppen und Sekten wäre dagegen eine fatale Entwicklung, nicht nur für Muslime selbst.
Schon heute nähren viele Muslime ihre fehlgeleitenden Überzeugungen ausschließlich aus dem Internet. Das Netz ist in den letzten Jahren zum größten „Fatwa-Haus“ geworden. Es ist der Ort, an dem selbsternannte Lehrer ihre radikalen und privaten Thesen und Auslegungen leider erfolgreich verbreiten können.
Muslimische Organisationen grenzen sich von gegen diese internetbasierte Schnellverfahren mit einer fundierten, jahrelangen Ausbildung ab. Dabei erreichen sie in ihren Moscheen nicht nur Akademiker, sondern bilden allgemein Muslime über die Grundlagen des Islams aus.
Patrycja Sasnal vom ECFR Council liefert ein weiteres Argument, gegen einen rein staatlich dominierten Einfluss auf die Muslime. Nach ihrer Ansicht zeigt sich das Dilemma gerade in vielen muslimischen Ländern, zum Beispiel in den Erfahrungen Ägyptens seit den 1950er Jahren: „Imame wurden rigoros geschult und lizenziert und Freitagspredigten diktiert. Das Ergebnis war ein fast ständiger Kampf zwischen Staat und Extremisten – was zu größerem Autoritarismus führt und im Rahmen eines Teufelskreises eine intensivere extremistische Reaktion hervorruft.“
Sasnal bevorzugt daher Programme, die – gerade aus Sicht junger Muslime – glaubwürdige muslimische Gelehrte und Aktivisten einbezieht. Im Moment droht der Weg der Mitte, den Muslime eigentlich gehen wollen, in dem Streit von extremen Positionen unterzugehen. Viele Radikale argumentieren dabei, dass es ohne sie nur ein Weg in den „säkularen Islam“ oder einen „Staatsislam“ geben würde. Fakt ist aber, dass eine korrekte islamische Religionsausübung oder Lehre nicht im Widerspruch zu europäischen Werten steht.
Viele europäische Staaten geben momentan eine Menge Geld für den Kampf gegen Terrorismus aus, aber oft werden bei genauerem Hinschauen die Kreise, um die es gehen sollte, nicht erreicht. Natürlich beteiligen sich junge Muslime an diesen Aktionen, aber offensichtlich nicht diejenigen, die in der Gefahr stehen, sich zu radikalisieren. Teilweise empfinden junge Muslime zudem einen Widerwillen, ihre – in ihren Augen selbstverständliche – Abscheu gegen Terror ausdrücklich und öffentlich betonen zu müssen.
Das Problem bleibt: Radikale Muslime etablieren sich oft in Echokammern jenseits des Mainstreams der Muslime. Es gehört zu einer ehrlichen Bestandsaufnahme, die Schwierigkeit diese Kreise zu erreichen, einzugestehen. Dennoch darf man das radikale Feld nicht sich selbst überlassen. Wichtig ist, einer möglichst großen Zahl junger Muslime Argumente und religiöses Wissen in der Auseinandersetzung mit radikalen Positionen zu vermitteln. Muslimische Organisationen stellen sich der religiös motivierten Umwertung aller Werte der bekannten radikalen Gruppen entgegen.
Hierfür gibt es bereits viele interessante Beispiele. Auf der europäischen Ebene hat sich beispielsweise das EU-geförderte Projekt „OPEN“ unter dem Hashtag #openstaywithus etbaliert. Hier arbeiten muslimische und nicht-muslimische NGOs, die in europäischen Städten über praktische Erfahrung verfügen, gemeinsam zusammen. Das Projekt setzt sich auch mit der sozialen Situation von Muslimen in Europa auseinander. Über Monate wurden radikale Beiträge in den sozialen Medien gesichtet und analysiert. In einer Kampagne werden Gegennarrative und Argumente von jungen Muslimen präsentiert. Das Projekt setzt einerseits auf die Stimme junger Muslime in den sozialen Netzwerken, zeigt ihre konstruktiven Beiträge, leugnet aber andererseits auch nicht den Einfluss muslimischer Ideologen und Straftäter.
Der Zentralrat der Muslime engagiert sich sogar in einem global angelegten Programm des Sawab Centers. Das gemeinsame, digitale Kommunikationszentrum zwischen den Vereinten Arabischen Emiraten und den USA bekämpft online extremistische Ideologien und versucht, positive Alternativen zu fördern. Unter dem Hashtag #DaeshLies läuft die Kampagne auf Arabisch, Englisch und Französisch auf den Plattformen Twitter, Facebook, Instagram und YouTube. Die Video-Beiträge decodieren die religiösen Losungen der Extremisten und zeigen nüchterne Erfahrungsberichte von Muslimen aus diesem Kontext.
Das Ziel derartiger Projekte ist klar. Die kleine Minderheit von Extremisten darf das öffentliche Bewusstsein über die europäischen Muslime nicht prägen. Die konsequente Ablehnung des Extremismus ist vielmehr in der Praxis der islamischen Religionsgemeinschaften der Normalfall.