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60 Jahre Anwerbeabkommen: „Arbeitet fleißig, wach und umsichtig“

Foto: Heinrich Klaffs, via flickr | Lizenz: CC BY-NC-SA 2.0

Offenbar war Angela Merkel der Termin so wichtig, dass sie ihn noch selbst als Bundeskanzlerin wahrnehmen wollte: Zwei Monate vor dem Stichtag würdigte sie das deutsch-türkische Anwerbeabkommen vor 60 Jahren.

Bonn (KNA/iz). Der Westfälisch-Lippische Landwirtschaftsverband wusste es schon längst: „Der Türke scheint sich, wenn er richtig angefasst wird, durchaus einzufügen und brauchbar zu sein“, hieß es in einer Verbandsbroschüre aus den 50er Jahren. Damals tauchten die ersten Personalsucher deutscher Unternehmen in anatolischen Dörfern auf, um Arbeitskräfte fürs Wirtschaftswunderland zu rekrutieren. Vor fast 60 Jahren, am 31. Oktober 1961, wurde das deutsch-türkische Anwerbeabkommen in Bonn unterzeichnet. Es öffnete erstmals einer großen Zahl von Menschen aus dem islamischen Kulturkreis die Tür in die Bundesrepublik.

Am 31. August erinnerte ein Festakt mit Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU) in Berlin an diese Zäsur, deren Tragweite damals niemand ahnte. Heute leben hierzulande fast drei Millionen Türkeistämmige, darunter Hunderttausende Kurden und ein großer Teil mit deutschem Pass. Viele von ihnen stehen für kulturelle Vielfalt, aber es gibt auch die sozialen Probleme einschlägiger „Brennpunktviertel“.

„Integration kann keine Sieben-Generationen-Aufgabe bleiben, die nie abgeschlossen ist, weil man nicht Klaus oder Erika heißt“, sagte Merkel. Jeder müsse die Chance haben, spätestens mit Erlangung der deutschen Staatsbürgerschaft als Teil des Landes angesehen zu werden.

Was heute kaum bekannt ist: Eigentlich wollte die westdeutsche Politik damals gar keine türkischen Arbeitsmigranten. Nicht Bonn, sondern Ankara pochte auf das Anwerbeabkommen. Denn die Türken versprachen sich davon eine Linderung ihrer hohen Arbeitslosigkeit, Devisen durch Rücküberweisungen und Heimkehrer mit technischem Know How. Das Bundesarbeitsministerium sah dagegen keine Notwendigkeit, nach Italienern, Spaniern und Griechen weitere Ausländer zu rekrutieren, solange das deutsche Arbeitskräftepotenzial nicht voll ausgeschöpft war. CDU-Ressortchef Theodor Blank fürchtete zudem eine zu große religiös-kulturelle Distanz türkischer Arbeiter.

Den Ausschlag gaben westliche Sicherheitsinteressen. Die USA wollten den politisch instabilen NATO-Partner stützen, um ein Erstarken kommunistischer Kräfte am Bosporus zu verhindern. Der deutsche Arbeitsmarkt diente als Blitzableiter im Kalten Krieg. Washington übte Druck auf den deutschen Verbündeten aus.

Der deutschen Wirtschaft kam das entgegen. In den Chefetagen schätzte man die Türken als anspruchslose und zähe Arbeiter, von denen kaum gewerkschaftlicher Stress zu erwarten war. „Arbeitet fleißig, wach und umsichtig und lernt schnell dazu, was ihr noch nicht wisst“, forderte eine türkische Broschüre für Ausreisewillige. „Kommt pünktlich und geht pünktlich. Lasst euch nie krankschreiben, außer wenn es gar nicht anders geht.“ Vor Alltagsdiskriminierung schützte sie das nicht. Bis heute fühlen sich viele Deutschtürken nicht wirklich angenommen.

In Zechen und an Hochöfen, in Automobil-, Textil- und Entsorgungsbetrieben schufteten die „Gastarbeiter“ für den Traum, wohlhabend in die Türkei zurückzukehren. Anfangs hatte das Abkommen nur Ledige, darunter viele Frauen, zugelassen; sie sollten das Land nach zwei Jahren wieder verlassen. Familiennachzug war untersagt – Regeln, die auf Druck der Wirtschaft immer weiter gelockert wurden. 

Als die Anwerbungen wegen Ölkrise und Rezession 1973 endeten, lebten schon rund eine Million Türken in Deutschland. „Einmal angestoßene Wanderungsprozesse entfalten eine Eigendynamik, die sich dem Zugriff demokratischer Rechtsstaaten entzieht“, analysierte der Bremer Migrationsexperte Stefan Luft. Er empfiehlt einen realistischen Blick auf die Integration.