(iz). Viele Umfragen prophezeien der rechtspopulistischen AFD bei anstehenden Wahlen eine zweistellige Zahl. Ich würde der Partei aber eine Zahl bescheinigen, die die Union immer wieder erbringt. Zu vermuten ist jedoch, dass viele, die sich mit den kulturalistischen, rechtsextremen Inhalten der AFD identifizieren, diese jedoch nicht wählen werden.
Den Grund für diese Ambivalenz sehe ich nicht im Parteiprogramm oder in den Themen, mit denen die Partei die verängstigte Seele anspricht und mobilisiert, sondern in dem rassistischen Flügel, der die Partei stark unterwandert und durch Personen wie Höcke und Von Storch Gestalt verkörpert wird. Die euphorisch nach außen getragenen angstdominierten Themenbereiche sprechen meines Erachtens viele Bürger an. Aber nur ein Bruchteil (gefühlt zwischen 8 und 20 Prozent) wird die Partei wählen. Der Rest wird sich vermutlich entweder enthalten oder anders abstimmen.
Um zu dieser Erkenntnis zu gelangen, braucht man keine aufwendigen Studien durchzuführen. Die eigene Erfahrung liefert diese Erkenntnis. Nicht zuletzt habe ich kürzlich mit einem renommierten Wissenschaftler (Prof. Dr. Dr.) ein vertrauliches Gespräch geführt. Es genügte, dass ich mich partiell kritisch über die Flüchtlingspolitik Merkels geäußert habe, um seine Meinung zu erfahren, aus der er keinen Hehl machte.
Es brachen unvermittelt seine Ängste und seine Horrorszenarien heraus und tätigte Äußerungen wie „die kriminellen, homophoben, nicht angepassten Araber“, hielt ein Plädoyer für Pegida und sprach von der zensierten, manipulierenden Presse (Lügenpresse?) und der angeblichen Tabuisierung bestimmter Themen etc. Das Gespräch kulminiert dann, als er mir ein Pfefferspray zeigte, das er aus Angst vor dem lauernden arabischen Monster immer mit sich führt. Im Rausch des Gesprächs vergaß er, dass sein Diskutant ein nordafrikanischer Araber ist. Noch schlimmer, er ist Muslim…
Wenn die „aufgeklärte“ und differenzfähige Bildungselite des Landes so tickt, ähnliches Gedankengut vertritt und es ungehemmt preisgibt, dann darf man sich nicht darüber verwundern, wenn die breite Masse ins Rechte abdriften und vermehrt Notheime in Brand aufgehen würden. Keiner rührt sich vom Fleck, kein wahrer Aufschrei. Aber wenn es darum geht, asoziales unentschuldbares Verhalten wie das am Silvesterabend zu kulturalisieren und islamisieren, dann sind alle auf einmal am Start. Und die ganze Debatte ist viel zu überdreht. In der Folge werden unsereinem schlagartig Blicke zugeworfen, die bis vor kurzem anders waren.
Die zunehmende Akzeptanz, welche die Kräfte wie AfD, Front National und PVV bei vielen Bevölkerungsteilen genießen, dokumentiert zweifelsfrei die dekadente Wendung in Europa, lüftet den Schleier über die Schattenseiten des europäischen Kontinents, des Raums von Bildung und Aufklärung. Es würde mich richtig interessieren, wie die Realität im Fall eines größeren Flüchtlingszustroms in richtigen Krisenzeiten aussehen würde, und ob alles bleibt, wie es war.
Unterm Strich hat Europa bis hierhin stabile Verhältnisse beziehungsweise hat keine dramatischen griechischen Verhältnisse, die dem Einzelnen existenzielle Ängste bescheren könnten. Nichtsdestotrotz kann der Raum des Reichtums nicht einmal zwei Millionen Menschen verkraften, die ihr Hab und Gut verloren und sich hier flüchteten.
Einige schwadronieren von einer historischen Krise und vom Zerbrechen Europas, von der möglichen Eroberung rechtsradikaler Parteien der Parlamente und Landtage. Man hört von Aufschreien, von Großdemos und über Nacht von abgefackelten Asylheimen, vom Bau Grenzzäune, Schießbefehlen (auch gegen Frauen und Kinder), von angebrachten Infrarot- und Wärmebildkameras, Radaranlagen und Sensoren, von lückenlosen Videoüberwachungen etc. Da fühlt man sich in einen Horrorfilm versetzt. Umgekehrt sieht man die verhältnismäßig ärmeren Länder wie Türkei, Libanon und Jordanien, die zusammen ca. vier Millionen Flüchtlinge aufnahmen.
Europa, wie ich es jetzt erlebe, etabliert sich langsam nicht mehr als Werteraum, in dem der Mensch und dessen Würde, Freiheit, Toleranz, Demokratie etc. nach vorne rangieren. Es schleicht sich ein unerwarteter Rückfall in die als gesühnt oder vergessen geglaubte Zeiten. Es zeichnet sich ein Gefälle zwischen einerseits den rechtstaatlichen und demokratischen Strukturen und andererseits einem beträchtlichen Bevölkerungsteil ab, der anders gesinnt ist und radikale Änderungen in die eine Richtung anfordert, die nicht mit den demokratischen und menschenrechtlichen Idealen am Hut haben.
Mit anderen Worten: Die Verfassung vieler europäischer Länder ist liberaler und menschenwürdiger als bestimmte europäische Bevölkerungsanteile. Für die „Diktatur“ der Verfassung und des Grundgesetztes sollte man wirklich dankbar sein.