Architektur ist nicht nur eine technische ­Aufgabe, sondern auch eine soziale Berufung. Von Yusuf Adams

Ausgabe 198

Eine wichtiger Aspekt der gestalterischen Rolle der Muslime in Europa sind ohne Frage die Aktivitäten der Moscheegemeinde und deren Beziehungen zu ihrem Umfeld. Betrachten wir die Bedeutung der Moschee, dann werden wir auch die umfassendere städtische Struktur verstehen, in der sie sich befindet.

(iz). Als britischer Architekt beschäftige ich mich mit solchen Fragen, während ich praktische an Entwürfen für einen neuen Moscheekomplex arbeite. Und ich entde­cke dabei, dass das sozialpolitische Areal – mit De­sign und Bau als einem seiner Teile – in Großbritannien auf die europäische Lage insgesamt verweist. Probleme und Möglichkeiten sind die gleichen.

In der Vorbereitung dieses Texte ­erlebte Großbritannien einen urbanen Zusammenbruch: Die Spannungsrisse der sozialen Ungleichheit und des kultu­rellen Nihilismus werden offenkundig. Kinder im Alter von 11 Jahren wurden in den Tagen nach der Randale in den Vierteln größerer und kleinerer Städte verhaftet. Sie legten Brände und plünderten Geschäfte für Turnschuhe und Handys.

Der Pew Forum Report 2010 stellte fest, dass britische Muslime mit 2,87 Millionen die drittgrößte muslimische Gruppe in Westeuropa sind – nach Deutschland und Frankreich. Manche finden dies interessant, andere bedrohlich. Diese Manifestationen des muslimischen Le­bens – verwoben mit einem überwiegend säkularen Bezugssystem – belegen sowohl die Trennung unterschiedlicher ­Gruppen als auch die Möglichkeiten einer gemeinsamen Zukunft.

Das Schweizer Verbot des Minarettbaus reflektiert das politischen ­Potenzial der Architektur. Hier werden die Minarette mit Eroberung gleichgesetzt und sie verlieren ihre Funktion eines bloßen Turmes, von dem zum Gebet gerufen wird. Islam kam zu Beginn aus dem Nahen Osten und entdeckte auf seinem Weg unzählige Kulturen, die er bewahrte, veränderte und wiederbelebte. Großbritannien und Europa bilden da keine Ausnahme. Wir müssen uns freimachen von den Vorstellungen einer – es gibt in ihm keine Konfrontation von Kultur oder nationaler Identität.

Die Quelle
Wir müssen zur Quelle gehen, um die Rolle der Moschee zu verstehen. Wir müssen den Boden befreien und zu Wüs­te und Himmel zurückkehren. Denn, wie Abdalhakim Murad Winters sagte: „Islam erschien in einer Zeit und an einem Ort, an dem es keine Kultur gab.“ Die Prophetenmoschee in Medina war eine Heimstätte der Leute. Der ­Architekt Christian Norberg-Schultz sagte, dass „ein Ort ein Zentrum von Handlung und Absicht ist. Er ist ein Fokus, an dem wir bedeutungsvolle Ereignisse unserer Exis­tenz erleben können“.

Zählen wir die Elemente der ersten Moschee auf, dann erkennen wir die transformative Funktion ihres Programms. Jene Praxis, oder auch der ‘Amal, reflektiert Wissen, das als ganzheitliche Lebensweise in Handlung übersetzt wird. Ästhetische Betrachtungen der Architektursprache – Geometrie, Proportion und Material – sind unwichtig, solange ihre Rolle nicht verstanden wird. Architekto­nische Schönheit entfaltet sich aus ihrem Zweck.

Raum und Veränderung
Wie das Mihrab, so war auf die ­kleine Kuppel über dem Imam und vier schlanke Minarette eine spätere Hinzufügung. Diese späteren Elemente ziehen die größte Aufmerksamkeit auf sich, wenn musli­mische Gemeinschaften eine Moschee bauen wollen – unabhängig davon, ob sie mit dem Ort unvereinbar sind, an dem sie gebaut wird. Es ist aber der ­vielfältige Raum und seine Funktionalität, die das Zentrum jeder Gemeinschaft darstellen. Sie sind der Schlüssel zur ­verwandelnden Wirklichkeit der Moschee. Alles andere ist bloßer Schmuck. Ihr Schlüsselvokabular sind die Wand in Gebetsrichtung (Qibla), eine überdachte Halle, das Minbar für die Freitagspredigt und ein Innenhof. Dies sind ursprüngliche Elemente.

Die Prophetenmoschee gilt vielen heute als ein „erstaunlich moderne Ge­bäude, das entsprechend den Bedürfnis­sen der Gemeinschaft erweitert oder verkleinert werde kann“. Samer Akkach, Autor von „Kosmologie und ­Architektur im vormodernen Islam“, beschrieb die Atmosphäre jenes archetypischen Ortes als Gefühl der „Neutralität, Einfachheit, der Ruhe und des Gleichgewichts (…), die jedem Punkt des Raumes die ­gleiche Bedeutung einräumt“.

Lektionen aus Istanbul
Nur wenige Moscheen vermitteln ­besser das Gefühl der Ausgeglichenheit und der Einheit als die Zentralkuppel-Moscheen des osmanischen Meisterarchitekten Mimar Sinan. Auf einer jüngsten Forschungsreise besuchte ich die große Spannbreite der von Sinan gebauten Strukturen, deren prächtigen Silhouetten die Hügellandschaft Istanbuls unterstreichen. Auch heute noch wollen viele eine osmanische Moschee – ohne ihre örtlichen und zeitlichen Umstände zu bedenken – bauen.

Es finden sich Lektionen den Städtebau in der räumlichen Organisation kleiner Moscheekomplexe in den Nachbarschaften. Diese kennt man heute als Külli­ye – aus dem arabischen „kull“ (das Ganze, alles). Sie passen genau in das dichte städtische Gewebe, die oft nicht von den Straßen einzusehen sind. Ein städtischer Mikrokosmos, der nicht nur Raum für das Gebet gibt, sondern auch Platz für Bildung, Handel und wohltätige Aktivitäten.

Guru Necipoglu, führender Sinan-Ex­perte unserer Tage, erläuterte, dass „Külliye“ eigentlich modern sei. Er benutzt lieber den Begriff „Imaret“, wie dies auch Sinan und der damalige osmanische Hof taten. Dessen Bedeutung ist erhellend: Das Wort stammt vom arabischen „‘Ima­ra“ und steht semantisch für eine Verbes­serung durch Kultivierung, Bauen, Be­wohnen und Zivilisieren.

Bei den Osmanen wetteiferten Wohlhabende in dieser Kultivierung und der Gründung von Stiftungen (Auqaf). Aus der Praxis des Propheten Muhammad entwickelten sie eine Reihe von Komple­xen, die – um den verstorbenen Architek­ten Dogun Koban zu zitieren – „den Brennpunkt des sozialen Lebens und das Rückgrat des urbanen Musters stellen“. Der Historiker Maksudoglu stellte fest, dass ein Waqf jedes „Eigentums (…) ist, um Allahs Willen ­gestiftet wird. Wäh­rend der osmanische Ära gründeten die Menschen Auqaf (…) für jedes Bedürfnis und jeden Notfall, den man sich vorstellen kann“. Einige Historiker sind der Ansicht, dass zwei Drittel der ­Istanbuler Stadtfläche den Auqaf gehörten.

Profundes Design
Nach dem europäischen Stiftungsrecht gibt es keine zeitlich unbegrenzten ­Stiftungen. Daher müssen wir innerhalb der gegebenen Verhältnisse arbeiten, um einen sozio-ökonomischen Wandel zu ermöglichen. Wo es die Chance gibt, Eigentum und Besitz in eine Stiftung zu wandeln, bewegt man sich in die korrekte Richtung. Moscheepläne müssen sich aus der Wirklichkeit dieses Dienstes am Nächsten entfalten.

So wie Sinan Märkte in den ­Bauplänen der Moschee und ihrer Funktion einführ­te, so können Moscheen Märkte und Gärten bauen, um die Nachbarschaft zu verschönern und um freie Handels­plätze schaffen. Dafür müssen wir massi­ve Parkplätze opfern! Die Leute werden ihre Nachbarschaftsmoschee kennenlernen, wenn sie dahin laufen. Und Nichtmuslime können auf die natürlichste Art und Weise, den Handel, mit ihr in Austausch treten.

So können Moscheen zu ­barrierefreien und echten Brücken zwischen Menschen werden, an denen es in unserem warenförmigen, urbanen Umfeld so schmerzlich fehlt. Hinzukommen können Be­treuungseinrichtungen für Kinder, aber auch Arztpraxen. Alle sozial nützlichen Geschäfte sollten in Betracht gezogen werden. Daher könnte ein Imaret auch Ateliers enthalten, in denen Dinge des alltäglichen Bedarfs angefertigt werden und Menschen, die eine Ausbildung brauchen, geschult werden können.

Orte des Lichts
Eine letzte Anmerkung zu den Minaretten: Am Anfang wurden Veränderungen an der Prophetenmoschee von den Leuten Medinas abgelehnt – den Nachkommen des Propheten und seiner Gefährten. Zu diesen Veränderungen zählten Minarette, die im Zuge des Um­baus durch den Khalifen Al-Walid in Auftrag gegeben wurden.

Minarette wurden zu einem Mittel, um die großen Moscheen aus der Ferne identifizieren zu können. Das Wort steht nicht nur im Zusammenhang mit Licht, sondern auch mit Wachturm, ­Wegmarke oder einer Öllampe. Diese Überschneidung korreliert mit dem Minarett als einem Symbol des Lichts.

Lasst und mit dieser Metapher im Hinterkopf – Kunden und ihre Architekten, Gemeinschaften und wohltätige Organi­sationen – Orte des Lichts schaffen, die die Menschen näher bringen. Ruhige, poetische Gebäude, die sich ihrem Ort und Zweck anpassen. Die Menschen willkommen heißen, wenn sie eintreten. Vom Griff der Tür, über die Tiefe der Schwelle bis zum natürlichen Licht in dem Bau. Dass man den Menschen mit dem dient, was sie brauchen. Wir ­dürfen nichts weniger verlangen, als dass jeder Ort durch den transformativen Tagesrhythmus, der die islamische Lebensweise prägt, erleuchtet wird. Es ist unsere Aufgabe, diese Orte auf poetische Weise zu orchestrieren und sie zum Wohlergehen der Stadt mit den Wohngebieten zu verbinden.

Der folgende Text ist die gekürzte Version eines Vortrags, der am 10.09.2011 auf der Konferenz der European Muslim Union in Wien gehalten wurde.

Yusuf Adams arbeitet und forscht am Jameel-­Lehrstuhl der Cardiff School of Architecture. Er schreibt gerade an seiner Doktorarbeit „Beyond the Minaret: A Space for the Spirit – A Place for the People“. In Mittelengland arbeitet Adams an der Planung und Umsetzung eines urbanen Imaret-Projekts.