
Ein großer schwerer Koffer, fünfte Etage, kein Aufzug. So begann der Dschungel Berlin für mich, als ich meine Stelle beim Zentralrat der Muslime in Deutschland in Berlin antrat.
(iz). Der Job war erwartungsgemäß trocken. Schauen und reagieren. Eine Erfahrung, die mir geschenkt wurde. Nichts von Dauer. Doch für jede Sekunde bin ich dankbar. Ich betrachte Jobs als Zeitvertreib, um sich sein wirkliches Leben zu finanzieren, den eigentlich wirklichen Beitrag zum Gemeinwohl, die selbstgewählte Wohltätigkeit. Deshalb freute ich mich auf Berlin. Ich wollte mich weiterentwickeln, in der Stadt, die von so vielen Muslimen immer wieder gelobt und auch scherzhaft, doch mit ernster Absicht, gepriesen wird.
Ich wollte Geschwister treffen, die auf hohem geistigen und intellektuellen Niveau sind, Vorträgen zuhören, die Herz und Intellekt erfüllen – das war meine Vorstellung von Berlin, der Hauptstadt Deutschlands. Denn um in einer Hauptstadt zu bestehen, so war mein absolut naiver Gedanke, müsse man Fähigkeiten und Inhalte aufweisen. Was fand ich vor? Ich sah eine Stadt vor mir, die chaotischer war als das Kufa zur Zeit von Abu Hanifa, möge Allah zufrieden mit ihm sein.
Berlin ähnelt dem damaligen Kufa
Kufa ist neben Basra eine der beiden Städte im heutigen Irak, die damals von den Gefährten Muhammeds (s) als erstes gegründet wurde. Unter dem zweiten Kalifen Umar (r) wurde die Region erobert. Als strategisch günstige Ortschaft erkannt, beauftragte der Kalif den Prophetengefährten Sad b. Abu Waqqas, möge Allah zufrieden mit ihm sein, damit eine Stadt zu gründen. Dies tat er und diese Stadt ist es, die Imam Ali während seiner Zeit als Kalif zur neuen Hauptstadt des muslimischen Reiches machte.
Die Lehrer dieser Stadt waren bedeutende Gefährten des Propheten, zum Beispiel Abdullah ibn Masud, möge Allah zufrieden mit ihm sein. In dieser Stadt, der wohl ersten Metropole der muslimischen Welt, wurde Abu Hanifa geboren. Wissen und Handel florierten, Gelehrte debattierten, Händler handelten. Abu Hanifa war vermögender Händler und wurde später zu einem der bedeutendsten Gelehrten der muslimischen Welt.
Doch als er heranwuchs, war Kufa nicht mehr die Stadt, in der bloß das Wissen der Prophetengefährten kursierte. Christen, Juden, Atheisten, Zoroastrier und muslimische Gruppierungen wie beispielsweise Kharidschiten waren in Kufa anzutreffen. Ein Konglomerat an Überzeugungen, Religionen und Ansichten. Wie unser heutiges Berlin, unser heutiges Deutschland.
Abu Hanifa wäre nicht weit damit gekommen, seinen Wissensstand bloß mit dem Qur’an und den Aussagen Muhammeds (s) zu begründen. Dies sind die Hauptquellen islamischen Glaubens. Doch ihren autoritativen Charakter akzeptiert nur, wer eben schon Muslim ist. Was Abu Hanifa vor anderen auszeichnete, waren Qiyas (Analogieschluss) und Ray (Meinungsfindung). Dies räumte dem Verstand (arab. aql) eine Stellung ein, den er so in anderen bis heute tradierten Deutungsschulen (arab. madhahib) nicht besitzt. Abu Hanifa war der Mann der Bedeutungen.
Um ein Beispiel zu nennen: Die Reihenfolge bei der Gebetswaschung ist gemäß hanifitischer Deutungsmethode nicht verpflichtend. Bei Imam Schafii schon. Der Zweck der Reinheit soll erfüllt werden, das wird er, ganz gleich in welcher Reihenfolge, doch jeder achtvolle Muslim wird die Reihenfolge einhalten, da sie von Muhammed (s) vorgelebt wurde als ideales Beispiel. Abu Hanifa, möge Allah mit ihm zufrieden sein, wurde von Seyyid Muhammed Bakir der Vorwurf gemacht, dass er die Religion verändere.
Auf diese Vorwürfe antwortete Abu Hanifa auf eine Weise, die seinen Scharfsinn demonstriert. Wenn er den Glauben verändern wollen würde, so würde er den Frauen auftragen, das Gebet nachzuholen statt im Ramadan das Fasten aufgrund ihrer Menstruation nachzuholen. Er sagte, er würde anweisen, die Ledersocken unterhalb des Fußes zu streichen statt oberhalb, dies erscheine verstandesgemäß logischer, doch sagt die Offenbarung, die höher zu halten ist, eben was anderes.
Wir sind also nicht die ersten, die ihren Verstand benutzen. Wir sind nicht die ersten Aufgeklärten. Wir sind nicht diejenigen, die zum ersten Mal in der Geschichte erleuchtet sind und ihren Verstand gebrauchen. So wird es uns im 21. Jahrhundert oftmals vor allem in Europa vermittelt. Was hat das mit Berlin zu tun? – Abu Hanifa, möge Allah zufrieden mit ihm sein, wandte seinen Verstand an, um in der vielfältigen Gesellschaft des damaligen Kufa mit Menschen gut auszukommen und seinen Glauben prinzipientreu zu praktizieren.
Seinem Schüler Yusuf bin Khalid, der nach Basra ging, in diese andere Stadt des Wissens in der ersten Zeit der Muslime, gab er Ratschläge mit, die einzig und allein die Sitte (arab. adab) betrafen. Es gehe nicht darum recht zu haben, es gehe darum anderen zu helfen das Wissen als solches zu erkennen und wissensbasiert und bewusst zu leben.
Das Erbe der Ulema
In Berlin finden sich 250-300.000 Muslime verschiedenster Strömungen und Gemeinden. In Berlin finden sich Christen, Juden, Atheisten, Menschen, die Geld anbeten und andere, die einfach unbewusst und unbedacht ihr Leben verbringen. Wenn jeder Mensch ständig anderen Menschen seine Überzeugungen beweisen oder von seinem Glauben überzeugen wollen würde, wäre dann ein friedliches Miteinander möglich? Als Muslim glaube ich an die Aussage Abu Bakrs, des ersten Kalifen: „Wer Muslim wird, tut es in seinem eigenen Interesse.“
Ich habe es nicht nötig irgendwen von meinem Glauben zu überzeugen. Menschen, die dies nötig haben, wirken auf mich oft, als wären sie unsicher mit ihrem Glauben und solche sind in Berlin anzutreffen. Muslime, die meinen erleuchtet zu sein und anderen die angebliche Wahrheit predigen – nicht bloß Andersgläubigen, sondern eben auch anderen Muslimen. Das sind nicht die schönen Verhaltensweisen der Erben des Propheten, das ist nicht die edle Verhaltensweise Abu Hanifas, der einer dieser Erben ist.
Er traf als einziger der vier großen Imame Prophetengefährten, beispielsweise Anas bin Malik (r). Somit ist er ein Tabi’i. Er ist ein Altvorderer, auf die sich besonders fromme Muslime gut und gerne zu berufen meinen, wenn sie besonders hart mit anderen umgehen. Abu Hanifa, möge Allah zufrieden mit ihm sein, sagte: „Anekdoten (Geschichten), die von den Schönheiten der Gelehrten (arab. Ulema) erzählen, sind mir lieber als die meisten Angelegenheiten des Fiqh (islamischen Rechts), denn diese Anekdoten können uns den Anstand und Charakter der Gelehrten lehren.“
Als Beweis aus der Offenbarung führt Abu Hanifa folgenden Qur’anvers an: „Das sind diejenigen, die Allah rechtgeleitet hat. So folge ihrem Weg und richte dich nach ihrem Vorbild!“ (Al-An’am, Sure 6, 90). Abu Hanifas Ratschläge an seinen Schüler Yusuf b. Khalid sind auf Deutsch erhältlich. Ustadh Martin Mahmud Kellner hat dieses kurze, bedeutungsvolle Werk ins Deutsche übertragen. Es trägt den Titel „Wasiya Empfehlungen des Imams an seinen Schüler Yusuf b. Khalid“. Es zu lesen hilft einem den Charakter kennenzulernen, mit dem Allah teala zufrieden ist und dessen Existenz eine Bereicherung für unsere Gesellschaft ist.
Was ist Berlin? Was kann es werden?
Momentan fällt in Berlin auf, dass es innerhalb der Musliminnen und Muslime nicht sehr geschwisterlich zugeht. Es scheint jeder ein Individualist zu sein, jede und jeder möchte hervorstechen, sich zu profilieren scheint der Dschihad von allen zu sein. Es gibt nur wenige Muslime, die mit Inhalten beschäftigt sind und die darüber nachdenken, was den Muslimen und der Gesellschaft insgesamt förderlich wäre.
Doch das ist kein Phänomen bloß unter Muslimen, das ist eben ein Spiegelbild der Gesellschaft überhaupt in Deutschland. Das Ich ist der Gott der Zeit: „Schaut her, ich bin wer“, „Schaut her, ich kann was“, „Schaut her, ich weiß, was andere nicht wissen“. Muslime sind davon nicht ausgenommen, sie sind bestens integriert. Wie es in Berlin ist, so ist es in ganz Deutschland. In Berlin ist das Leben nur dichter, deshalb gibt es dort mehr Reibungen.
Deutschland ist ein Land, in dem andere medial mit Schmutz beworfen werden, um ihre Glaubwürdigkeit zu zerstören und ihr Ansehen herabzusetzen. Wer das tut, handelt gemäß den widerlichen Sitten im Land. Wer es nicht tut, wird als Moralist beschimpft und der Moralist ist bloß jemand, dessen Fehlverhalten bisher nicht aufgedeckt wurde.
Sich über Fehler und Sünden anderer zu freuen ist normal, nicht nur in Berlin, unter Muslimen, sondern unter allen Menschen im Land. Es ist ermüdend. Bin ich ein besserer Mensch, nur weil andere angeblich schlechte sind? Die Politiker unseres Landes verhalten sich so und die Bevölkerung macht es den Führern des Landes nach oder die Politiker tun es, weil sie glauben, die Bevölkerung erwartet es. Ich weiß es nicht.
Brennglas des Landes
Berlin ist die Hauptstadt Deutschlands. Es ist das Herz des Landes. Was dort auf engem Raum geschieht, geschieht in Deutschland auf breiterer Fläche. Für Muslime bedeutet das: Von den Muslimen in Berlin kann eine große Wirkung ausgehen für die restlichen Muslime im Land. Vorträge und Gespräche über Islam, Geschichte und Literatur, das könnte in Berlin stattfinden, um Lösungen für die Miseren der Zeit zu finden, doch Profilierung des Ichs und Neid und Konkurrenzdenken lässt weder Raum noch Zeit, damit so etwas stattfinden kann.
Dazu ist es nötig, die Hodschas und Ulema nicht bloß aufzusuchen, sondern auszuleben, was sie empfehlen: „Zeige dich nicht ärgerlich denen gegenüber, die deine Geduld strapazieren.“, sagt Abu Hanifa, Allah sei zufrieden mit ihm. Dann können in Berlin, auf diesem dichten und gut vernetzten Raum, Menschen zusammenkommen und Ideen entwickelt werden, die auf ganz Deutschland strahlen.
Berlin kann eine Stadt des Wissens und der Kultur werden, doch dafür bedarf es wissensdurstiger Menschen, die ihren Ärger und Zorn und Neid unterdrücken. Das Studium der Geschichte hilft. Es hat auch mir geholfen Parallelen zu sehen zwischen dem damaligen Kufa und Berlin.