Das Böse oder wie wurde Breivik zum Mörder?

Foto: thierry ehrmann, via flickr | Lizenz: CC BY 2.0

Hamburg (KNA). Anders Behring Breivik tötete am 22. Juli 2011 in Oslo und auf der Insel Utoya kaltblütig 77 Menschen – viele von ihnen Teenager, die sich auf Einladung der norwegischen Sozialdemokratischen Arbeiterpartei auf dem Eiland trafen. Seinen Opfern schaute er bei seinen tödlichen Salven oft direkt in die Augen. Nicht nur Norwegen war geschockt über die Attacke des Anhängers nationalistischer, islamfeindlicher und faschistischer Ideen. Er wurde zu 21 Jahren Sicherheitsverwahrung verurteilt.

Für die Wissenschaft ist Breivik, der seinen Namen vor drei Jahren in Fjotolf Hansen ändern durfte, ein ideales Forschungsobjekt, um dem Bösen im Menschen auf den Grund zu gehen. Psychologen, Psychiater und Sozialwissenschaftler näherten sich dem Zusammenspiel von genetischer Veranlagung, Umwelt und individuellen Erfahrungen an, das in die Tat mündete.

Sie untersuchten das Aufwachsen des Attentäters, seine Erfahrungen als junger Erwachsener und die Untersuchungen der norwegischen Gerichtsgutachter. Den Forschungsstand fasst die Reportage „Die Biografie des Bösen“ von Amrei Topcu und Gerrit Jöns-Anders zusammen, die Spiegel TV im Auftrag des ZDF produzierte. ZDFinfo strahlt sie am Samstag, den 10. Oktober, um 21.45 Uhr aus.

Die Konzentration auf den monströsen Einzelfall zahlt sich aus, bietet sie den renommierten Gesprächspartnern doch ausreichend Raum, um ihre Erkenntnisse und Theorien nachvollziehbar zu erläutern. Bei Breivik trafen wahrscheinlich drei Faktoren in verhängnisvoller Weise zusammen – und sorgten dafür, dass das Böse, das in jedem Menschen angelegt ist, die Oberhand gewinnen konnte.

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Schon als Baby und Kleinkind erfuhr er demnach Zurückweisung. Seine Mutter, die diese Erfahrungen einst selbst gemacht hatte, gab sie an ihren Sohn weiter. Seit langem wird Psyche von Nachkommen etwa von Holocaust-Überlebenden erforscht und von Menschen, die im Zweiten Weltkrieg traumatisiert wurden. Daher wissen Wissenschaftler, dass Gewalt- und Angsterfahrungen bis in die dritte Generation sogar im Mutterleib weitergegeben werden können.

Breivik galt früh als Einzelgänger und zeigte Verhaltensauffälligkeiten. Empathie war ihm fremd. Doch das Jugendamt und andere Institutionen griffen nur halbherzig ein. Die Zurückweisungen durch andere setzten sich in Breiviks Zeit als Jugendlicher und junger Erwachsener fort. Er galt als Sonderling; die Clique, mit der er zeitweise abhing, wollte bald nichts mehr mit ihm zu tun haben. Bestätigung fand er nur noch in anonymen Gruppen im Netz.

Einen kurzen Abstecher über den Einzelfall hinaus wagen die Autoren, wenn sie einen Blick auf die Psyche von Mitgliedern der Terrormiliz „Islamischer Staat“ (IS) werfen. Sie hätten oft ähnliche Erfahrungen wie Breivik gemacht und suchten wie er die Bestätigung in einer größeren Gruppe, heißt es.

Andy Warhols These vom Streben nach „15 Minuten Ruhm“ leben diese Menschen in einer perversen Form aus. Breivik beschäftigt die norwegische Öffentlichkeit bis heute mit seinen Forderungen und Anträgen. Erst kürzlich stellte der Mörder einen Antrag auf vorzeitige Haftentlassung und riss damit die Wunden, die er vielen Familien zugefügt hat, wieder auf.

Mit ihren Erkenntnissen wollen die Wissenschaftler die Verantwortlichen sensibilisieren, damit solche Fehlentwicklungen künftig früher erkannt werden und therapiert werden. Sie warnen aber auch vor einer Überbewertung: Gerichte dürften sich bei der Beurteilung von Verbrechen niemals allein auf genetische Veranlagungen und Defizite in der sozialen Integration berufen.